Читать книгу Im Zeichen der Sonne - Susanne Scheibler - Страница 5
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ОглавлениеDer Graf Henry de Montfort war der Anführer der Eskorte, die an diesem Morgen den Wagen Liselottes von der Pfalz, der jetzigen Herzogin von Orleans, begleitete. Montfort war ein schlanker, achtundzwanzigjähriger Mann mit einem klaren, kühnen Gesicht, zu dem die träumerischen dunklen Augen einen reizvollen Gegensatz bildeten. Da er der kleinen Kavalkade vorausritt, sah er als erster den umgestürzten Planwagen auf der Straße. Die schwarzhaarige Frau kauerte noch immer im Staub bei ihrem Mann, das weinende Kind an sich gedrückt. Es war, als habe das Entsetzen sie blind und taub gemacht für alles, was um sie her geschah.
Montfort zügelte seinen Fuchs und rüttelte die Frau an der Schulter. »Was ist geschehen? Ein Überfall?« Er sprach französisch, und die Frau blickte ihn zunächst aus großen, verständnislosen Augen an. Dann schien sie den Sinn seiner Frage zu begreifen. Sie deutete zum Wald hinüber.
»Dort...« stammelte sie, »Banditen! Sie haben meinen Mann niedergestochen.«
Inzwischen waren die übrigen Reiter mit der Kutsche herangekommen. Die Männer sprangen von den Pferden. Drei von ihnen versuchten sogleich, den Planwagen aufzurichten, während sich die anderen zu Fuß an die Verfolgung der Wegelagerer machten.
Liselotte von der Pfalz hatte die lindgrünen Damastvorhänge an den Kutschfenstern beiseite gezogen und beugte sich hinaus. Henry de Montfort ritt zu ihr hin.
»Es wird hoffentlich nicht lange dauern, bis wir weiterkönnen. Bleibt solange im Wagen, Madame.«
Liselotte war viel zu tatkräftig und warmherzig, um seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie stieg aus und lief zu der Unglücksstelle hinüber. Der Verletzte war nicht bei Bewußtsein. Seine Frau versuchte, ihn auf die Seite zu drehen, in die ihn das Messer getroffen hatte. Das schreiende Kind – es war ein kleiner Junge von vielleicht drei Jahren – hing ihr am Rock.
Kurz entschlossen nahm Liselotte den Kleinen auf den Arm. »Aber Bübele«, sagte sie in ihrem Pfälzer Dialekt, den sie in den zehn Jahren ihres Aufenthaltes in Frankreich nicht verlernt hatte, »wer wird denn als weinen! Du bist doch kein Wickelditz mehr.«
Der Kleine starrte die fremde Dame in dem blauen Samtmantel mit offenem Mund an. Liselotte wischte ihm mit dem Taschentuch das tränenverschmierte Gesichtchen ab. »So, und jetzt bist du fein still. Es ist ja alles wieder gut.«
Seit jeher hatte Liselotte auf Kinder eine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Das erwies sich auch jetzt. Die Tränen des Kleinen versiegten, und als Liselotte ihn hin und her wiegte, stahl sich sogar ein zaghaftes Lächeln auf das runde Kindergesicht.
Sie winkte Graf Montfort herbei. »Seid so gut und kümmert Euch um den Verletzten. Glaubt Ihr, daß man ihn mit seinem Wagen ins nächste Dorf bringen kann?«
»Ich denke schon. Er muß auf jeden Fall zu einem Arzt.«
»Holt Decken und Kissen aus der Kutsche, damit er eine bequeme Lagerstatt bekommt und das Rütteln des Wagens nicht so spürt.«
Liselotte wandte sich an die Frau, die begonnen hatte, breite Leinenstreifen von ihrem Unterrock abzureißen, um damit ihren Mann zu verbinden. »Wie heißt Sie, meine Liebe?«
»Katharina ... Katharina Helfrich, Ihro Gnaden. Wir gehören zum fahrenden Volk und wollten nach Straßburg. Der König ist dort, und bei solchen Anlässen gibt es immer einen Jahrmarkt, wo unsereins ein paar Heller verdienen kann. Aber nun ...« Ihre Stimme schwankte.
»Bis Straßburg kann Sie keinesfalls mit Ihrem Mann fahren. Am besten nimmt Sie sich im nächsten Gasthof ein Zimmer.« Liselotte holte ihre bestickte Geldbörse hervor und drückte sie der Frau in die Hand. »Hier – das wird Ihr eine Zeitlang weiterhelfen.«
Zwei Herren von Liselottes Eskorte, der Chevalier d’Orbise und ihr Page Eberhard von Harling, kamen von der Verfolgung zurück. »Wir haben einen der Halunken gefunden!« rief der Chevalier. »Er liegt verwundet im Gebüsch. Aber die anderen sind entkommen.«
Henry de Montfort war inzwischen zu Liselottes Kutsche gegangen und kehrte mit einer pelzverbrämten Decke und einigen Seidenkissen zurück. Und in diesem Augenblick sah er Isabell.
Sie kam aus dem Wald, Monsieur de Trouve führte sie. Das aufgesteckte Haar hatte sich gelöst. In goldbrauner, köstlicher Fülle fiel es ihr über den Rücken. Schultern und Brüste schimmerten durch das zerfetzte Kleid. Bei jedem Schritt, den sie tat, sah man ihre langen, schlanken Beine.
Henry de Montfort war als zwölfjähriger Knabe an den Hof Ludwigs XIV. gekommen. Er kannte die Schönheit einer Madame de La Vallière, einer Montespan, die raubtierhafte Anmut der Gräfin von Soissons, einer Nichte Kardinal Mazarins; er hatte mit den bezauberndsten Frauen in der Spiegelgalerie von Versailles getanzt. Aber dieses Mädchen in seinem zerlumpten Kleid und dem wirren Haar schien ihm schöner als alle, die er bisher gesehen hatte. Sie war wie die Verkörperung aller Träume, die er je von einer Frau geträumt hatte.
»Mein Gott«, entfuhr es auch Liselotte, »welch ein zauberhaftes Geschöpf! Aber sie ist ja verletzt...«
Isabell zitterte. Ihre Augen waren starr und weit aufgerissen, als begriffe sie noch gar nicht, daß sie nun in Sicherheit war. Liselotte setzte den kleinen Buben, den sie bis jetzt auf dem Arm gehalten hatte, auf den Boden und entledigte sich ihres Reisemantels.
»Danke«, murmelte Isabell mühsam, als die Herzogin ihn ihr um die Schultern legte. Sie wollte ihn über der Brust zusammenraffen, aber ihre Glieder gehorchten ihr nicht mehr. Ihr war, als verwandle sich der Boden zu ihren Füßen in eine zähe, teigige Masse, die sich unter ihr bewegte, hinauf und hinunter. Es gab keinen Halt mehr – nichts ... Nur noch die schwarze Woge einer grenzenlosen Schwäche, die Isabell mit sich riß und sie fortspülte an ein fernes Ufer, wo es keine Schmerzen mehr gab und keine Angst – nur noch barmherzige Dunkelheit.
Der Chevalier de Lorraine hielt mit seinem Fechtmeister eine Übungsstunde ab. Die Degen mit den durch kleine Kugeln gesicherten Spitzen prallten aufeinander. Es gab jedesmal einen hellen, sirrenden Ton. Der Fechtmeister Jean Cressy griff nach ein paar blitzschnell geführten Finten an. Der Chevalier wich dem gegen seine Brust geführten Stoß geschmeidig aus. Cressys Schlag ging ins Leere. Sein eigener Schwung riß ihn nach vorn. Er geriet ins Stolpern und hatte Mühe, sich auf den Füßen zu halten.
Der Chevalier lachte mit blitzenden Zähnen. Diesmal streifte seine Degenklinge um Haaresbreite Cressys Hals. Drei, vier sehr schnell geführte Quarten und Quinten drängten Lorraine wieder zurück. Cressy holte zu einem Kopfhieb von rechts aus. Der Chevalier duckte sich und vollführte eine rasche Quintparade von links. Er versuchte, Cressy den Degen aus der Hand zu schlagen. Die Klinge beschrieb einen blitzenden Halbkreis und berührte die Waffe des Fechtmeisters in einer Second-Bindung.
In diesem Augenblick tauchte ein livrierter Diener in der Tür auf und gab dem Chevalier zu verstehen, daß er ihm etwas auszurichten habe. Der ließ seinen Degen sinken. »Was gibt es, Francois?«
»Der Wagen von Madame de Grancey ist soeben vorgefahren. In ihrer Begleitung befindet sich der Marquis d’Effiat.«
Madame de Grancey war eine nicht mehr junge, aber immer noch sehr schöne Frau. Sie stand am Fenster, als der Chevalier de Lorraine nach einer Viertelstunde den Salon betrat. Er hatte sich umgezogen und küßte der Grancey die Hand. Dann begrüßte er den Marquis.
»Wir haben Neuigkeiten«, sagte d’Effiat. »Ein Kurier ist eingetroffen. Der König und seine Begleitung werden Ende der Woche in Paris zurückerwartet. Im übrigen soll es Differenzen zwischen Seiner Majestät und Madame von Orléans gegeben haben.« Er lächelte maliziös. »Madame geruhte wieder einmal aus der Reihe zu tanzen. Weiß der Teufel, woher sie es erfahren hat – jedenfalls behauptete sie plötzlich, der König habe Straßburg durch einen militärischen Gewaltakt an sich gerissen und dies sei eine Schande, die zum Himmel schreie.«
Die Grancey lachte spöttisch. »Das soll sie Seiher Majestät wörtlich an den Kopf geworfen haben und einiges noch dazu. Wir kennen ja Madame Liselottes Art. Anschließend hat sie sich geweigert, an den Festlichkeiten zu Ehren des Königs teilzunehmen. Statt dessen hat sie sich einige Male ohne Erlaubnis aus Straßburg entfernt, um sich auf einem Landsitz mit ihrer Mutter zu treffen.«
»Und?« erkundigte sich de Lorraine, während er sich affektiert, mit übergeschlagenen Beinen auf einem damastbezogenen Sofa niederließ. »Wie hat der König all das aufgenommen?«
»Verständlicherweise sehr ungehalten. Als Madame auch zu einer Opernaufführung nicht erscheinen wollte, hat er ihre Anwesenheit kurzerhand befohlen. Daraufhin schützte sie eine Krankheit vor, von der sie allerdings augenblicklich genas, als Seine Majestät ihr seine eigenen Ärzte schicken wollte.« Der Marquis ordnete den reichen Spitzenbesatz an seinen Ärmeln. »Man weiß ja, was Madame von unseren Ärzten hält. Quacksalber nennt sie sie und kuriert sich lieber mit ihren abscheulichen, übelriechenden Kräuteraufgüssen, ehe sie einen von ihnen an sich heranläßt.«
»Jedenfalls«, vollendete Madame de Grancey, »erschien Madame an jenem Abend in der Loge des Königs, und sie soll ausgesehen haben, als ob sie an ihrem eigenen Zorn ersticke.«
»Das ist gut, das ist sogar ausgezeichnet«, meinte der Chevalier de Lorraine und läutete nach einem Lakai, um Wein und Konfekt bringen zu lassen. »Ich glaube, wir brauchen gar nicht viel zu tun – Madame Liselotte schaufelt sich ihr eigenes Grab.«
Madame de Grancey preßte die vollen Lippen zusammen. »Morgen oder übermorgen kann sie bei Seiner Majestät wieder in Gnaden aufgenommen sein. Wir kennen ja seine unerklärliche Schwäche für seine Schwägerin. Darum sollten wir schon etwas unternehmen, und die Gelegenheit dazu war noch nie so günstig.«
Bei der hohen Stellung, die Liselotte bekleidete, blieb es gar nicht aus, daß sie Neider und Feinde hatte. Aber der Marquis d’Effiat, der Chevalier de Lorraine und seine Geliebte, Madame de Grancey, waren ihre ärgsten.
Jahrelang hatten diese drei Menschen den verderblichsten Einfluß auf Philipp von Orléans ausgeübt. Damals hatte seine erste Frau Henriette noch gelebt. Die Ehe zwischen ihr und Philipp war sehr unglücklich gewesen. Der Herzog, zwar gutmütig, aber äußerst willensschwach, stand ganz im Bann seiner üblen Freunde. Er feierte wilde Gelage mit ihnen, spielte und trank. Als dann Henriette von Orléans starb, sprach man sogar davon, der Chevalier de Lorraine und der Marquis d’Effiat hätten sie vergiftet. Die Wahrheit dieses Gerüchtes ist nie bewiesen worden, dennoch hielt es sich hartnäckig viele Jahre. Es hatte sicherlich auch dazu beigetragen, daß der König damals die üble Clique vom Hof verbannte und dafür sorgte, daß sich sein Bruder so schnell wie möglich wieder vermählte. Philipps in Ungnade gefallene Freunde aber hatten Liselotte gehaßt, noch bevor sie den Fuß auf den Boden Frankreichs setzte.
Erbittert hatten die Grancey und die beiden Männer beobachtet, daß Philipps zweite Ehe anscheinend glücklich war und daß die verhaßte Pfälzerin sogar beim König in hoher Gunst stand. Erst in den letzten Jahren schien sich Philipps Zuneigung für Liselotte abgekühlt zu haben, und diese Tatsache nutzten der Chevalier, sein Freund und seine Geliebte, sich wieder bei dem Herzog einzuschmeicheln.
Der Grancey gelang es zuerst. Liselotte wußte nicht, was sich vor ihrer Heirat im Palais Royal, dem Stadtschloß der Herzöge von Orléans, abgespielt hatte. Deshalb war sie auch ganz arglos, als Philipp Madame de Grancey zur Erzieherin seiner beiden Kinder ernannte und bald darauf auch der Chevalier de Lorraine und der Marquis d’Effiat immer häufiger in Monsieurs Gesellschaft anzutreffen waren. Der Herzog von Orléans unterhielt einen Hofstaat von mehr als hundert Personen, im Palais Royal wimmelte es von Menschen, über deren Bedeutung oder Charakter Liselotte unmöglich immer Bescheid wissen konnte.
Der Chevalier goß jetzt Wein in die geschliffenen Kelche aus Muranoglas. »Aber was können wir tun? Wir dürfen uns zu keiner Unvorsichtigkeit hinreißen lassen. Ich habe keine Lust, noch einmal für acht Jahre vom Hof getrennt zu werden.«
»Das wird auch nicht geschehen.« Madame de Granceys Augen funkelten böse. »Wir müssen abwarten und Madame Liselotte beobachten. Ich habe schon so meine Pläne, die wir zur rechten Zeit in die Tat umsetzen werden.« Sie hob ihr Glas. »Trinken wir darauf, daß die alten, angenehmen Zeiten bald für uns wiederkehren.«
Versailles ... Das war wirklich der steingewordene Märchentraum eines Königs mit seiner verschwenderischen Pracht aus Gold, Silber und Marmor, der ausgewogenen Harmonie seiner Säle, Zimmerfluchten, Treppen und Galerien.
Ein Märchentraum waren auch die von Le Nôtre geschaffenen Parkanlagen, selbst jetzt, in dieser kalten, grauen Jahreszeit, in der sich früh die Dunkelheit herabsenkte über die weißen Marmorgöttinnen zwischen Thuja- und Buchsbaumhecken, die breiten Alleen und die wasserspeienden Tritonen und Nymphen der Springbrunnen.
Welch ein Anblick müssen diese Gärten erst im Sommer sein! dachte Isabell, als sie im Dämmerschein des Abends von einem Spaziergang zum Schloß zurückkehrte.
Sie blieb auf einer der Terrassen stehen und malte sich das feenhafte Bild aus, wenn die Blumenrabatten in allen Farben glühten, die Wasserspiele im Sonnenlicht glitzerten und vergoldete Barken mit purpurroten Segeln über die künstlich angelegten Kanäle und Teiche glitten.
Isabell war seit drei Tagen in Versailles, und noch immer erschien ihr die Wandlung, die ihr Leben erfahren hatte, wie ein Wunder.
Sie war sehr krank gewesen, nachdem sie damals auf der staubigen Landstraße zusammengebrochen war. Viele Tage hatte sie im Fieber gelegen, ohne zu wissen, was mit ihr geschehen war. Da war nur noch die verschwommene Erinnerung an einen Mann, der sich mit erschrockenem Gesicht über sie gebeugt hatte. Ein schönes, klares Gesicht war es gewesen, mit warmen, dunklen Augen. Er hatte sie zu einer Kutsche getragen, und trotz ihrer Schwäche hatte sich Isabell in diesem kurzen Augenblick seltsam geborgen, beinahe glücklich gefühlt.
Später, in den flüchtigen Momenten schmerzerfüllten Wachseins, hatte sie begriffen, daß sie in einem Bett lag, in einem fremden, freundlichen, hellen Zimmer. Manchmal war eine alte, sehr vornehme Dame bei ihr gewesen und hatte sich flüsternd mit der sommersprossigen Dienstmagd unterhalten, die Isabell gepflegt hatte.
Heute wußte Isabell, wer die alte Dame gewesen war: Kurfürstin Charlotte von der Pfalz, die Mutter von Madame Liselotte. Sie wußte auch den Namen des Mannes, der sie in die Kutsche der Herzogin getragen hatte: Graf Henry de Montfort...
Isabell hatte ihn nach ihrer Genesung ein paarmal aus der Ferne wiedergesehen und hatte sich dabei jedesmal an jene glückhafte Geborgenheit erinnert, die sie in seinen Armen empfunden hatte.
Isabell schrak aus ihren Gedanken auf, als sich Schritte aus einem Seitenweg näherten. Ein Mann trat aus dem Schatten der Bäume und kam die Terrassenstufen herauf. Bei Isabells Anblick blieb er stehen.
Es war noch hell genug, daß er ihr Gesicht erkennen konnte: das bezaubernde Oval der Wangen, den sensiblen, weichgeschwungenen Mund, die großen Augen.
Isabell knickste. Der abendliche Spaziergänger war zwar einfach gekleidet in schwarze Kniehosen und einen Rock aus dunkelgrünem Tuch. Aber es ging etwas von ihm aus, das Isabell instinktiv spüren ließ: Dies war ein Herr von Stand.
Der Fremde lächelte sie an. Es war ein Lächeln, das ihr unerklärlicherweise Herzklopfen verursachte. »Hat Sie sich verlaufen, Mademoiselle? Oder sucht Sie jemanden?«
»Nein. Ich ... ich habe nur einen Spaziergang gemacht.«
»Ihr gefallen die Gärten von Versailles?«
»Sie sind wundervoll«, antwortete Isabell ehrlich. »Nie im Leben habe ich etwas Schöneres gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte der Fremde, aber er schaute Isabell unverwandt an. Sein Blick war wie ein Streicheln. »Sie spricht französisch mit einem fremdländischen Akzent. Woher kommt Sie?«
»Aus Straßburg. Ich bin Deutsche. Nur meine Mutter war Französin. Sie stammte aus Châlons. Sie hat uns Kindern ihre Muttersprache beigebracht.«
Der Mann im grünen Tuchrock runzelte unmerklich die Brauen. »Sie ist Deutsche, sagt Sie? Weiß Sie nicht, daß Straßburg zu Frankreich gehört?«
»Und ob ich das weiß!« entgegnete Isabell bitter. »Es ist uns auf blutige Weise beigebracht worden. Meinen Bruder und meinen Vater hat es das Leben gekostet.«
»Ach ...« Er schien betroffen. »Dann ist Sie wohl nicht gut auf die Franzosen und ihren König zu sprechen, wie?« Und als Isabell nicht antwortete, fügte er mit einem halben Lächeln hinzu: »Sie kann es mir ruhig sagen. Ich werde es dem König gewiß nicht weitererzählen.«
»Ihr seid wohl auch kein Freund von ihm?« fragte Isabell.
Der Fremde hob die Schultern. »Welcher König hat nur Freunde ... Manchmal, das will ich nicht bestreiten, ist er mir nicht unsympathisch. Aber es gibt auch Stunden, in denen er mir recht zuwider ist.«
»Ich hasse ihn!« rief Isabell leidenschaftlich. »Ihr wart nicht dabei in Straßburg. Ihr habt nicht miterlebt, wie man uns überfallen hat. Freilich, Madame von Frankreich versucht, mir meinen Haß auszureden. Sie sagt, der König sei im Grunde ein guter Mensch, obwohl sie selbst noch vor wenigen Wochen einen großen Zorn auf ihn hatte. Aber inzwischen hat sie sich wieder mit ihm versöhnt.«
»Madame von Frankreich?« wiederholte der Unbekannte. »Steht Sie in Diensten bei der Herzogin von Orléans?«
»Ich bin Kammerzofe bei ihr. Madame hat mich aus Straßburg mitgenommen. Das heißt – genau gesagt hat sie mich auf der Landstraße gefunden, nachdem Banditen mich überfallen hatten. Ich war sehr krank danach, und Madame Liselotte hat mich auf ein Gut zu ihrer Mutter gebracht. Als es mir besserging, hat mich die Herzogin ein paarmal besucht und mir schließlich den Vorschlag gemacht, in ihre Dienste zu treten.«
»Und das hat Sie getan?« fragte der Fremde ein wenig spöttisch. »Obwohl Ihr Frankreich so viel Abscheu einflößt?«
»Madame Liselotte war sehr gut zu mir«, antwortete Isabell einfach. »Ich wollte gern bei ihr bleiben.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann griff der Fremde überraschend unter Isabells Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Die kleine Berührung weckte eine sonderbare Wärme in ihr.
Er war nicht mehr jung, dieser Mann, aber es ging eine faszinierende Anziehungskraft von ihm aus. Etwas, das Isabell atemlos machte und ihr das Blut in schnellen Stößen zum Herzen jagte.
In den großen, blauen Männeraugen sprang ein Funke auf. »Sie ist sehr reizend, weiß Sie das, Sie kleine Königshasserin? Und in einem sind Seine Majestät und ich uns bestimmt ähnlich: Wir lieben die Frauenschönheit...«
Im nächsten Augenblick hatte er sie an sich gezogen und küßte sie. Es war der erste wirkliche Kuß eines Mannes, den Isabell empfing. Und einen kurzen Augenblick überließ sie sich ganz der fremden Seligkeit, die diese warmen, wissenden Lippen in ihr weckten. Dann stieß sie den Fremden zurück. »Was erlaubt Ihr Euch! Oh, ich sollte Euch ohrfeigen für Eure Unverschämtheit!«
Es war weniger Zorn auf ihn, als vielmehr auf sich selbst, auf ihre eigene, schwindelnde Verwirrung, was Isabell so heftig werden ließ. Hastig wandte sie sich um und lief davon, tiefer in das Dunkel des Parkes hinein. Erst im Schatten einer Taxushecke blieb sie stehen und schaute sich mit fliegendem Atem um, ob der Fremde ihr folgte.
Er stand noch oben auf den Terrassenstufen. Seine Gestalt hob sich deutlich gegen den helleren Himmel ab.
Isabell ballte die Fäuste. Wenn er mir nachgelaufen wäre, dachte sie, bei Gott, ich hätte ihn wirklich geohrfeigt!
In diesem Augenblick tauchte auf der großen Mittelallee eine Schar Höflinge mit Windlichtern auf. Als sie des Fremden ansichtig wurden, eilten sie hastig auf ihn zu. Ihre Stimmen drangen bis zu Isabell hinüber.
»Dem Himmel sei Dank, Sire, daß wir Euch gefunden haben! Wir haben Eure Majestät mindestens eine halbe Stunde gesucht und fürchteten schon, Euch sei ein Unfall zugestoßen.«
Der Fremde lachte. »Ihr seid zu besorgt um mich, Chevalier. Hat ein König nicht das Recht, einmal allein zu sein, wenn es ihn danach verlangt?«
Sire ... Eure Majestät...? Isabell stockte der Atem. Sie preßte beide Hände gegen die Schläfen. Der Mann im grünen Tuchrock war der König!