Читать книгу Heidewinter - Susanne Schomann - Страница 8
KAPITEL 1
ОглавлениеPhilip von Hoven war ein Mann voller Gegensätze, doch nur sehr wenige wussten um die Widersprüchlichkeiten, mit denen er oft zu kämpfen hatte.
Auf den ersten Blick vermittelte er vor allem Integrität und Zuverlässigkeit. Seine attraktive und stets gepflegte Erscheinung entsprach in jeder Weise seiner adligen Herkunft und der entsprechend strengen Erziehung, die er – – besonders in den ersten Jahren seiner Kindheit – erfahren hatte. Oberflächlich betrachtet war es leicht, mit Philip auszukommen; üblicherweise zeigte er sich seinen Mitmenschen gegenüber ausgesucht höflich, interessiert und zugewandt. So brachten Geschlechtsgenossen ihm zumeist Bewunderung und Achtung entgegen und Frauen schmolzen regelrecht dahin, sobald er sich ihnen zuwandte – als ob sie die wilde Leidenschaft erahnten, die unter seiner makellosen Oberfläche brodelte. Sie hingen an seinen Lippen, sahen in ihm aber auch, wohl nicht zuletzt wegen seines Adelstitels, schnell den potenziellen Ehemann. Auch damit wusste er umzugehen, ohne jemals eine einzige von ihnen vor den Kopf gestoßen oder gar unglücklich zurückgelassen zu haben.
Pflichtgefühl und die fest verankerte Bereitschaft zur Gewissenhaftigkeit waren Eigenschaften, die ihm praktisch in die Wiege gelegt worden waren. Seinen Beruf als Drehbuchautor sah er allerdings eher als Berufung, denn als Arbeit an. Für seine Talente war er dankbar und nutzte sie, wann immer es erforderlich wurde. Durch wenige wohl gesetzte Worte und Gesten gelang es Philip, auch sein berufliches Umfeld zu beeindrucken und Kompetenz zu vermitteln. Seine Ausdrucksweise schien zwar ein wenig aus der Mode gekommen zu sein, doch nicht selten ließ gerade das seine Zuhörer überrascht aufhorchen. Dessen war er sich bewusst. Auch wenn er einige Traditionen sehr zu schätzen wusste, war er im Grunde ein modern denkender Mann, der selbstsichere Frauen bewunderte und durchaus in der Lage war, sich seine eigenen Schwächen einzugestehen. Vielleicht lag all dies auch daran, dass er überwiegend bei seinem Großvater auf einem Landgut aufgewachsen war, nachdem seine Eltern sich praktisch über Nacht aus einem Leben zurückgezogen hatten. Als seine Mutter ihn und seinen Vater verließ, war Philip noch ein Kind gewesen, und dieser Verlust hatte ihn wohl mehr geprägt als jede andere Erfahrung in seinem Leben.
In Wahrheit war Philip nämlich nicht ganz so selbstsicher, wie er sich gern präsentierte. Viel zu oft fühlte er sich zerrissen, manchmal sogar eingeengt. So als hätte man ihn in eine Form gepresst, in die er eigentlich nicht recht passen wollte. Eine seltsame Unruhe tobte dann und wann in ihm, wie ein feuriger Sturm, der seine Seele durchrüttelte und seine Grundfesten ins Wanken zu bringen drohte. Es schien, als würde noch ein anderer Mann, ein anderer Philip von Hoven, tief in seinem Inneren schlummern und nur darauf warten, dass endlich etwas Einschneidendes passierte, um ihn unwiderruflich aufzuwecken.
Nach einigen Jahren, die er aus beruflichen Gründen in den USA verbracht hatte, war er nun seit zwei Tagen wieder zurück in Lunau, dem Dorf seiner Kindheit und Jugend, und es kam Philip schon jetzt so vor, als wäre er niemals fort gewesen. Soeben hatte er das Gutshaus verlassen, um eine liebe Freundin zu besuchen, doch kurz bevor er sich endgültig auf den Weg machte, drehte er sich noch einmal um und ließ nachdenklich seinen Blick über das Gebäude schweifen Die Rückkehr in die Lüneburger Heide und auf das Gut bedeutete jedoch nicht nur die Wiederbelebung eines tiefverwurzelten Heimatgefühls, sondern auch jede Menge Verantwortung für ihn. Ein schwerer Atemzug entglitt ihm und seine Gedanken gingen noch ein wenig weiter auf die Reise.
Der Stammsitz seiner Familie, Gut Hoven, schloss direkt an Lunau an. Wenn man es genau nahm, war der Gutshof einst sogar dafür verantwortlich gewesen, dass das kleine Dorf inmitten der Lüneburger Heide überhaupt entstanden war.
Lunau und Gut Hoven waren sein Zuhause, das, was er unumstößlich mit dem Begriff Heimat verband. Seit seine Eltern ihn verlassen hatten, war hier stets sein wahrer Lebensmittelpunkt gewesen und er hatte immer gewusst, dass er eines Tages hierher zurückkehren würde.
Auch wenn das Gutshaus in den vergangenen Jahren vollkommen umgestaltet und renoviert worden war, hatte es den alten Charme nicht verloren, das gefiel ihm sehr. Sein Großvater hatte dafür Sorge getragen, dass alles gut gepflegt wurde. Natürlich. Philip lächelte. Helge von Hoven liebte das alte Gemäuer und es war ihm seit jeher wichtig gewesen, dass es gut in Schuss gehalten wurde. So gab es inzwischen sogar mehrere großzügige und sehr modern ausgestattete Badezimmer; eines davon ging direkt von Philips Schlafraum in der ersten Etage ab, wo sich, seit er erwachsen war, seine persönlichen Räume befanden. Der pure Luxus, wie er fand, denn in seiner Kindheit hatte es im ganzen Haus nur einen einzigen Waschraum gleich neben der Küche gegeben. Die uralte Wanne hatte eine ziemlich raue Oberfläche besessen, und nach jedem Bad hatte sein Hintern ausgesehen, als wäre er mit Schmirgelpapier bearbeitet worden. Den alten Waschraum gab es nicht mehr und inzwischen waren auch mehrere der Gästezimmer mit eigenen Bädern ausgestattet worden.
Im Erdgeschoss, im vorderen Bereich des Gutshauses, gab es seit jeher den kleinen Salon, der direkt von der Eingangshalle abging. Philip durchquerte in Gedanken diesen Raum. Schon seine Vorfahren hatten dort ihre Gäste empfangen. Gleich hinter dem Salon befand sich das große Esszimmer. Auf der anderen Seite der Halle fiel eine Doppeltür aus dunklem Rosenholz ins Auge. Sie führte direkt in die Bibliothek, die sein Großvater gleichzeitig als Arbeitszimmer nutzte. Der mächtige Schreibtisch aus dunkelrotem Mahagoni war ihm vertraut, seit er denken konnte. In seiner Erinnerung sah Philip meistens seinen Großvater dahinter sitzen, selten seinen eigenen, schwer depressiven Vater, der sich kurz nachdem er von seiner Frau verlassen worden war, das Leben genommen hatte.
Von nun an würde der Schreibtisch sein neuer Arbeitsplatz sein, denn auf Wunsch seines Großvaters würde Philip nun die Stellung des Gutsherrn übernehmen. Er hatte immer gewusst, dass es eines Tages dazu kommen würde. Und doch …
Die guten Gefühle überwogen aber. In der letzten Zeit hatte er sich oft einsam gefühlt. Häufig hatte eine seltsame Unruhe von ihm Besitz ergriffen und manche Nacht sogar wachgehalten. Obwohl er Oberflächlichkeit grundsätzlich verabscheute, hatte diese bizarre Rastlosigkeit ihn dazu verleitet, sich auf viel zu viele amouröse Abenteuer einzulassen, nur um am Morgen nicht wieder allein aufzuwachen. Früher hatte er derartige Gefühle nicht gekannt. Doch in den vergangenen Monaten war es immer häufiger passiert, dass er sich nach Beständigkeit, vor allem aber nach den Menschen gesehnt hatte, die seinem Herzen nahestanden. Nein, nach einer festen Beziehung stand ihm sicherlich nicht der Sinn, aber er war wirklich froh, wieder zu Hause zu sein. Hier in Lunau würde er wieder zur Ruhe kommen, so hoffte er.
Das willkommene und langersehnte Wiedersehen mit seinen beiden engsten Freunden aus der Jugendzeit trug dazu bei, dass er sich sofort wieder heimisch fühlte. Wie selbstverständlich hatten sie gleich seinen ersten Abend in Lunau zusammen verbracht, gemeinsam gegessen, getrunken, vor allem aber geredet – die ganze Nacht hindurch. Obwohl er den einen über zehn, den anderen sogar fast fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hatte, waren die beiden Männer ihm noch immer genauso vertraut wie früher. Philip lächelte zufrieden, während er sich vom Gutshaus abwandte und seinen Weg ins Dorf fortsetzte. Dass sowohl Kjell Loewenthal als auch Rafael Brix in Lunau erneut ihr Zuhause gefunden hatten, war unglaublich. Und nicht nur das! Beide waren inzwischen sehr glücklich mit ihren wundervollen Frauen. Rafaels Frau Luisa kannte er praktisch, seit sie auf der Welt war. Dass die beiden geheiratet hatten, war ebenso erstaunlich und überraschend wie die Tatsache an sich, dass Rafael nach Lunau zurückgekehrt war. Kjell war unterdessen der Arzt im Dorf und hatte Isabell geheiratet, eine entzückende Britin mit wilden goldblonden Locken, die im Buchladen-Café ihrer Schwiegermutter Christa süße und sehr verführerische Gaumenfreuden zauberte. Dass Kjell nach seiner Zeit als Elitesoldat nach Lunau zurückkehren würde, hatte Philip durchaus erwartet. Es war schon immer Kjells größter Traum gewesen, hier als Arzt zu praktizieren. Im Gegensatz zu Rafael hatten Kjell und er seit jeher gewusst, dass sie eines Tages beide wieder hier leben würden. Philip empfand es als zusätzliches Geschenk, dass sie nun sogar alle drei wieder vereint waren.
Nach seinen Jahren in den Vereinigten Staaten hatte er dem drängenden Wunsch seines Großvaters entsprochen und war schließlich heimgekehrt. Helge von Hoven wollte mit seinen fünfundachtzig Jahren endlich auf das Altenteil wechseln. Das konnte Phillip ihm nicht verdenken. Natürlich kümmerten sich ein Verwalter und jede Menge Angestellte um das Gut und das dazugehörige Feriendorf, doch allein der Gutsherr selbst hielt alle Fäden in der Hand. So war es seit jeher Familientradition. Philip hatte immer gewusst, dass er als letzter lebender Erbe dafür bestimmt sein würde, Gut Hoven weiterzuführen. Das war auch niemals ein Problem für ihn gewesen. Für seinen Beruf als Drehbuchautor war es nicht wichtig, wo er sich aufhielt. Schreiben konnte er überall, auch in Lunau. Zudem hätte der Zeitpunkt seiner Rückkehr kaum passender sein können, denn unglücklicherweise lag sein Großvater nach einem kleinen Reitunfall und einer komplizierten Operation am rechten Fuß nun in einer Lüneburger Klinik.
Es ist wirklich eine gute Entscheidung gewesen, endlich zurückzukommen, dachte er ein weiteres Mal, während er nur wenig später mit Christa Loewenthal bei einer Tasse Kaffee zusammensaß und ihrer vertrauten, hellen Stimme lauschte. Er fand es angenehm, dass sich in ihrer behaglichen Wohnküche kaum etwas verändert hatte, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Ganz selbstverständlich saß er auch jetzt wieder auf seinem alten Stammplatz. Auf dem Stuhl hatte er schon als Grundschüler gesessen und sich von Christa mit allerlei Gaumenfreuden verwöhnen lassen, meist flankiert von den beiden besten Freunden, die er jemals gehabt hatte: Kjell und Rafael. Genau wie für Rafael war Christa auch für ihn damals der beste Mutterersatz gewesen, den man sich nur vorstellen konnte. Ausführlich berichtete sie ihm von Kjells und Isabells Hochzeit und den erstaunlichen Ereignissen um Rafaels Rückkehr. Auch wenn er das meiste bereits von seinen Freunden erfahren hatte, unterbrach Philip sie nicht. Er hörte Christa gerne zu, außerdem hatte sie offensichtlich ihre helle Freude daran, ihm alles zu erzählen.
„Wie geht es dem alten Baron inzwischen?“, fragte sie schließlich.
„Nun, die Operation hat er gut überstanden“, erwiderte er. „Aber es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er wieder allein durch seine geliebte Heide spazieren kann. Zunächst wird er den Fuß gar nicht belasten dürfen. Sein Chirurg sagte, dass der Bruch zwar nicht ganz so kompliziert war, wie anfangs befürchtet wurde, doch es gab auch noch mehrere Bänderrisse, und genau die haben es in sich. In seinem Alter ist zudem davon auszugehen, dass die ganze Geschichte sich einige Monate hinziehen wird. Die erste Zeit wird dabei besonders schwierig werden. Kjell hat mir die Prognose bereits bestätigt.“
„Oh je, das klingt nicht unbedingt toll. Ich hatte mir mal den Arm gebrochen, das dauerte nur ein paar Wochen und hat schon tüchtig genervt. Wenn ich mir dann noch vorstelle, noch nicht einmal mehr richtig laufen zu können … Ich würde wahrscheinlich durchdrehen und meine Familie auch in den Wahnsinn treiben. Der arme Helge!“
„Du sagst es. Wie du weißt, war mein Großvater immer recht aktiv. Er wird sich schwertun. Ich kann nur hoffen, dass dieser Unfall auch sein Gutes hat und er dadurch endlich einsieht, dass er in seinem Alter nicht mehr unbedingt auf ein Pferd steigen sollte. Im Grunde hat er ja noch Glück im Unglück gehabt. Er hätte sich auch sehr leicht eine Menge mehr Knochen brechen können, darüber mag ich gar nicht nachdenken.“ Philip schüttelte den Kopf.
„So wie ich meinen alten Freund Helge kenne, wirst du dich auf einen kleinen Kampf gefasst machen müssen. Du weißt, wie stur er sein kann. Er liebt das Reiten, Philip.“
Ein entnervtes Stöhnen entglitt ihm. „Ja, ich weiß, es wird alles andere als einfach werden. Aber vielleicht gibt er sich zukünftig mit Kutschfahrten zufrieden, wer weiß. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.“ Er griff nach seinem Becher und nahm einen Schluck Kaffee, bevor er weitersprach. „Kjell hat mir vorgeschlagen, vorübergehend eine Pflegekraft für Helge einzustellen. Jemanden, der zumindest stundenweise für ihn da ist, ihm bei den alltäglichen Abläufen hilft und ihn zum Beispiel auch zur Physiotherapie fährt.“
„Ja, das wird wohl das Beste sein. Du kannst das auf keinen Fall alles allein bewerkstelligen, mein Junge.“ Christa reichte ihm den Teller mit ihren selbst gebackenen Plätzchen.
„Stimmt“, erwiderte er, nachdem er sich eins genommen hatte. „Außerdem habe ich tatsächlich genug zu tun. Ich muss mich erst einmal in alles einarbeiten, was das Gut betrifft, das wird mich einige Zeit beschäftigen. Auf dem Schreibtisch stapeln sich jedenfalls diverse Aktenordner und allerlei Papiere, durch die ich mich irgendwie durcharbeiten muss.“
„Ach, das machst du doch mit links, mein Lieber. Du warst schon immer sehr tüchtig.“ Christas Lächeln war warm. Sie legte den Kopf ein wenig schief, strich sich mit einer Hand über ihre kurzen, tizianroten Haare und sah ihm in die Augen. „Ansonsten geht es dir gut?“
„Ja, danke, Christa. Meine Serie in den USA läuft großartig, doch darum kümmern sich jetzt überwiegend die anderen Autoren, sodass ich mich voll und ganz auf mein neues Projekt stürzen kann.“
„Und das wäre?“
„Ich arbeite an einer Storyline für eine neue Dailysoap, die in Deutschland laufen wird, aber dafür habe ich noch jede Menge Zeit. Sie soll erst im übernächsten Jahr anlaufen. Der Sender sucht unterdessen noch ein paar Co-Autoren, die dann später das Tagesgeschäft übernehmen können. Außerdem ist da immer noch die Idee zu einem Roman, den ich unbedingt irgendwann schreiben will. In den nächsten Monaten werde ich mich jedoch voll und ganz auf das Gut konzentrieren.“
Christa nickte, ihr Lächeln blieb. „Hast du neben der ganzen Arbeit auch noch ein Privatleben, Philip?“
Er musste lachen. Es war so typisch für Christa Loewenthal, dass sie ihm gleich richtig auf den Zahn fühlte. „Ich bin noch immer Single und damit auch ganz zufrieden. Das war es doch, was du wissen wolltest, oder?“
Sichtlich amüsiert schüttelte sie den Kopf. „Weißt du, ich habe in den letzten Monaten und im vergangenen Jahr bei Kjell und Rafael miterlebt, wie schnell sich so ein Zustand doch ändern kann, nur weil plötzlich die richtige Frau auftaucht.“
„Meine liebe Christa, ich kann dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass mir bisher noch keine Frau über den Weg gelaufen ist, die in der Lage gewesen wäre, mich einzufangen.“ Wieder lachte er. „Ich denke, daran wird sich so schnell auch nichts ändern.“
„Wer weiß, mein Junge, wer weiß?“
„Christa, bist du oben?“, hörten sie plötzlich eine weibliche Stimme von unten rufen.
„Ach, das ist Ruth“, erklärte Christa und erhob sich, um zur Küchentür zu gehen. „Komm nur rauf, meine Liebe. Ich genehmige mir gerade eine kleine Kaffeepause, und Philip leistet mir dabei Gesellschaft.“
Philip stellte seine Tasse ab und erhob sich, um Ruth Rogalski begrüßen zu können. Ihren Namen hatte er schon oft gehört, seit er wieder hier war. Ruth Rogalski war nicht nur die Praxishelferin von Kjell, sondern auch Krankenschwester und Hebamme. Offenbar kümmerte sie sich um jeden Lunauer, der Hilfe nötig hatte. Nicht nur Kjell lobte seine Mitarbeiterin in den höchsten Tönen. So wie es aussah, war sie besonders für die älteren und kranken Dorfbewohner nahezu unverzichtbar geworden.
„Schön, dass wir uns endlich kennenlernen“, sagte sie und lächelte herzlich, nachdem Philip sich vorgestellt hatte.
„Ich freue mich auch sehr, Frau Rogalski. Ihr guter Ruf eilte Ihnen bereits voraus.“
„Oh Himmel, Philip, das ist Ruth! Sie gehört praktisch zur Familie und alle duzen sie, sei also nicht so verflucht förmlich.“ Christa lachte und boxte ihn sanft auf den Oberarm.
Fragend sah er Ruth ins Gesicht, doch die ältere Frau nickte nur und lächelte zu ihm auf. „Keine Bange, ich finde das absolut okay, Philip. Es wäre schon komisch, wenn du mich als Einziger der drei Musketiere von Lunau siezen würdest, oder?“ Dass sie den Spitznamen kannte, den seine beiden Freunde und er irgendwann in ihrer Jugend verpasst bekommen hatten und der ihnen auch später erhalten geblieben war, zeigte Philip, dass sie seinen Freunden wirklich nahestand.
„Stimmt, das dürfen wir auf gar keinen Fall zulassen“, antwortete er schmunzelnd. Die Frau gefiel ihm. Er schätzte, dass sie ungefähr in Christas Alter war. Mit ihrem hüftlangen, eisgrauen Zopf und all den bunten Holzperlenketten, die sie um den Hals trug, wirkte sie ausgesprochen unkonventionell, wenn auch äußerst sympathisch auf ihn. Ruth Rogalski hatte einen ganz eigenen Stil, das war unverkennbar. Als kreativer Mensch wusste er das sehr zu schätzen.
„Gut, dann hätten wir das geklärt“, hörte er Christa sagen. „Setz dich wieder hin, Junge, und trink deinen Kaffee. Ruth, möchtest du auch einen? Vielleicht auch noch ein Plätzchen?“
„Ja, gerne, aber nur Kaffee. Ich kann ein bisschen Koffeinnachschub ganz gut gebrauchen, bevor ich wieder losmarschiere. Die Nachmittagssprechstunde ist zwar vorbei, aber es liegen noch einige Hausbesuche an, bevor ich endgültig Feierabend machen kann.“
„Sie sind … ähm, du bist für Lunau inzwischen ziemlich unentbehrlich geworden, wie ich bereits von mehreren Seiten gehört habe“, wandte Philip sich erneut an Ruth. „Hättest du eventuell einen professionellen Tipp für mich, wie ich meinem Großvater helfen kann, sobald er aus der Klinik entlassen wird? Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was da genau auf mich zukommen könnte.“
„Gut, dass du mich darauf ansprichst“, antwortete Ruth, ohne zu zögern, und nickte nebenbei Christa dankend zu, als diese einen vollen Becher mit Kaffee vor ihr auf dem Tisch abstellte. „Natürlich haben Kjell und ich bereits darüber gesprochen. Der alte Baron wird ohne Frage für längere Zeit Pflege und Hilfe benötigen, bevor er wieder richtig laufen kann … Es passt ganz gut, dass wir auch in der Praxis Unterstützung brauchen. Wir haben inzwischen eine Menge neuer Patienten aus dem Umland hinzubekommen und mussten die Sprechzeiten deutlich erweitern. Doch nicht allein aus dem Grunde sind wir uns einig, dass sich auf jeden Fall eine medizinische Fachkraft um Helge kümmern sollte. In seinem hohen Alter sollte er in professionellen Händen sein. Ich hatte da sogar schon jemanden im Auge.“
„Oh, das ist großartig“, rief Philip dankbar aus.
„Ich kenne zufällig eine junge Frau, die dringend eine Luftveränderung gebrauchen könnte, wenn ich mich nicht irre. Sie heißt Sina Rosenborn, ist examinierte Krankenschwester und ganz hervorragend geeignet. Ich war eine Zeit lang an ihrer Ausbildung beteiligt, als ich noch die Stationsleitung in einer Hamburger Klinik innehatte, und kann daher beurteilen, wie gut sie ist“, fuhr Ruth fort und nahm einen großen Schluck aus ihrem Becher. „Himmel, tut das gut“, sagte sie, als sie den Becher abgesetzt hatte. „Dein Kaffee ist wie immer erstklassig, meine liebe Christa.“
Philip stutzte. Zumindest der Nachname sagte ihm etwas. „Rosenborn? Hat sie etwas mit der Familie von Klaus Rosenborn zu tun? Er ist ein weitläufiger Bekannter und früherer Geschäftspartner meines Großvaters.“
„Keine Ahnung. Wenn ja, hat sie das zumindest nie erwähnt. Aber, warte … Klaus Rosenborn? Ist das nicht der Pralinen-König?“
„Ja, genau den meine ich. Wie auch immer … Hast du schon Kontakt zu ihr aufgenommen?“, wollte Philip wissen. „Ansonsten würde ich das selbstverständlich gerne tun. Es wäre mir eine Freude, Frau Rosenborn ein passendes Angebot zu machen.“
„Alles erledigt, mein Guter. Sie war zwar von meinem Vorschlag nicht sofort hellauf begeistert, aber ich habe das zwingende Gefühl, dass in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen. Aber sollte ich recht behalten, darf ich doch wohl davon ausgehen, dass es kein Problem für dich ist, Sina für die Stunden bei deinem Großvater vernünftig zu bezahlen? Im Praxisbetrieb wird sie nämlich vorerst auch nur stundenweise eingesetzt werden, und von irgendwas muss das Mädel ja leben.“
„Sie wird selbstverständlich ein großzügiges Honorar bekommen!“, erwiderte er schnell. „Sollte sie zusagen, können wir auch über eine entsprechende Unterbringung reden.“
„Das wäre meine nächste Frage gewesen. Nun, dann drücken wir mal die Daumen, dass Sina doch noch die richtige Entscheidung trifft.“
Es war einer der Tage, an denen einfach alles schiefging. Sina stöhnte laut auf und starrte entnervt auf das abgerissene Stück des Schnürbands ihrer nagelneuen Stiefeletten, das sie in der Hand hielt. Seit einer halben Stunde war ihr Dienst endlich zu Ende und jetzt konnte sie sich noch nicht einmal den Schuh zubinden. Fluchend saß sie im Umkleideraum auf einer Bank und versuchte, den Schnürsenkel so zurechtzuziehen, dass ihr zumindest ein Knoten gelang.
Bereits am Morgen hatte das Unheil begonnen. Ihr Radiowecker war durch einen unbemerkten Stromausfall mitten in der Nacht zum Stillstand verurteilt gewesen und dadurch war sie fast eine Stunde zu spät zum Dienst in der Klinik erschienen. Nicht dass sie sofort deswegen eine Strafpredigt bekommen hätte. Aber Sina selbst konnte mit Unpünktlichkeit überhaupt nicht umgehen, weder bei sich noch bei anderen. Hinzu kam, dass sie sich noch in der Probezeit befand. Da fühlte es sich erstrecht furchtbar an, sich zu verspäten.
Kaum auf der Station angekommen, hatte sie sich dann im Schwesternzimmer Kaffee auf ihre schneeweiße Arbeitshose gekippt. Zu allem Überfluss war ihr kurz darauf von der Klinikleitung mitgeteilt worden, dass sie aus organisatorischen Gründen zu Beginn der kommenden Woche dauerhaft auf eine andere Station wechseln würde. Sina hatte sich so viel versprochen von der neuen Stelle, doch nun sollte sie doch wieder auf einer Intensivstation eingesetzt werden, und das nur, weil sie vor Jahren mal diese Zusatzausbildung gemacht hatte. Natürlich war sie schnurstracks zur Stationsleitung und dem Oberarzt marschiert und hatte versucht, die Versetzung noch irgendwie abzuwenden, jedoch ohne Erfolg. Der überaus arrogante Oberarzt hatte sie behandelt, als wäre ihre Meinung völlig unbedeutend. Sie hätte schreien können vor Enttäuschung und Wut. Der einzige Grund, warum sie vor sechs Wochen die Klinik gewechselt hatte, hatte in der Aussicht bestanden, endlich auf einer normalen Station arbeiten zu können.
Und nun riss zu allem Überfluss auch noch dieses blöde Schuhband! Am liebsten wäre sie auf der Stelle in irgendeinen Flieger gestiegen, egal wohin, Hauptsache weit weg von all dem hier. Es war einfach nicht ihr Tag. Und die nächsten Wochen versprachen ja nicht, besser zu werden …
Es war bereits vollkommen dunkel, als Sina die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Kaum hatte offiziell der Herbst begonnen, machte er sich auch schon von Tag zu Tag mehr bemerkbar. Draußen war es windig und ziemlich regnerisch. Sina fror und rieb sich die Arme, ging auf direktem Weg in ihr Schlafzimmer, zog sich aus und genehmigte sich anschließend eine lange und sehr heiße Dusche. In ihren flauschigen Bademantel gehüllt und die Füße in dicken Wollsocken, saß sie eine knappe Stunde später auf ihrer Couch vor dem Fernseher, aß eher appetitlos ein Käsebrot mit Gewürzgurke und nippte zwischendurch an einer Tasse Pfefferminztee. Sie fühlte sich so unendlich einsam. Es war einer dieser Abende … Den elenden Zustand kannte sie bereits, aber in der letzten Zeit stellte er sich immer häufiger ein. Sie sehnte sich nach einer starken Schulter, einer lieben Stimme, die ihr leise und voll ehrlich gemeinter Zärtlichkeit zuflüsterte, dass irgendwann alles wieder gut sein würde, dass die Qual in ihrem Inneren, das tiefe Leid, endlich Linderung erfuhr. Sina seufzte auf und sah sich um, wie um sich ein weiteres Mal zu vergewissern, dass sie tatsächlich allein war. Natürlich wollte sie es gar nicht anders, doch manchmal war die Einsamkeit schlimmer als der grauenvolle, so vertraute und verhasste Schmerz.
Psychisch ging es ihr noch immer nicht besonders gut, da machte sie sich nichts vor. Die vergangenen zwei Jahre waren die schlimmsten ihres Lebens gewesen und ihr Herz war auch jetzt noch voller Trauer und schmerzvollem Kummer. Vielleicht sollte sie tatsächlich eine Reise machen, um allem zumindest für ein paar Wochen zu entfliehen und sich Zeit zu geben, um ihre Trauer zu verarbeiten. Ihre Trauer … Manchmal wurde sie davon regelrecht überschwemmt.
Und dass Falk, ihr frisch geschiedener Mann, sich mit seinen Selbstvorwürfen sich und auch ihr anhaltend das Leben schwergemacht hatte, hatte die Situation natürlich nicht verbessert. Sina konnte das Gefühl, sich um ihn kümmern zu müssen, noch immer nicht abschütteln. Er tat ihr leid, aber was sollte sie machen? Er musste das alles genau wie sie irgendwie verarbeiten. Ja, sie hatte ihn verlassen, ihre Ehe war unwiderruflich am Ende. Und trotzdem brachte sie es einfach nicht fertig, ihm offen ins Gesicht zu sagen, dass sie ihn, zumindest eine Zeit lang gar nicht mehr sehen wollte. Dafür ging es ihm einfach noch viel zu schlecht.
So hoffte sie einfach still und leise darauf, dass auch er irgendwann begriff, dass sie das alles hinter sich lassen mussten, um irgendwie weitermachen zu können. Am besten jeder für sich allein. Würden sie sich wirklich lieben, wäre es vielleicht anders und sie könnten sich gegenseitig stützen, doch so fehlte ihnen inzwischen schlicht die Basis. Vielleicht sollte sie den Gedanken an eine echte Veränderung doch noch einmal näher in Betracht ziehen?
Ihr kam das Telefonat mit Ruth Rogalski wieder in den Sinn. Das Angebot, das ihre frühere Ausbilderin und Kollegin ihr vor zwei Tagen gemacht hatte, klang im Nachhinein und vor allem nach diesem Tag, erheblich reizvoller. Ein beschauliches Siebenhundert-Seelen-Dorf in der Lüneburger Heide, dazu die Arbeit in einer kleinen Landarztpraxis und ein netter alter Herr, der vorübergehend Hilfe benötigte. Die Vorstellung hatte Sina im ersten Moment die Augen verdrehen lassen. Sie war ein Großstadtkind und hatte niemals woanders gelebt als in Hamburg. Außerdem war sie an den stressigen Klinikalltag gewöhnt, fühlte sich dann und wann darin sogar ganz wohl. Was sollte sie in einem beschaulichen Dorf in der Lüneburger Heide?
Dort ist es sicher sterbenslangweilig!
Sina schüttelte den Kopf, um den aufdringlichen Gedanken wieder zu vertreiben, doch schon im nächsten Augenblick drückte sie auf die Lautlos-Taste der Fernbedienung, stand auf und schnappte sich das Telefon.
„Du hast es dir also doch noch überlegt“, stellte Ruth lakonisch fest, nachdem sie sich begrüßt hatten und Sina gefragt hatte, ob die Stelle noch frei wäre.
„Überlegt? Tja, so kann man das eigentlich nicht nennen, Ruth. Sagen wir mal, ich hatte einen echt miesen Tag, das gab den Anstoß, noch einmal bei dir nachzufragen. Es war mehr spontan, verstehst du?“
„Na, dann pack mal genauso spontan deine Koffer und setz dich in Bewegung! Hier wirst du nämlich dringend gebraucht und ich kann dir versprechen, dass du es nicht bereuen wirst.“ Ruths leises Lachen drang zu ihr durch den Hörer.
„Du fühlst dich richtig wohl dort in … äh, diesem Dorf, ja?“
„Lunau! Das Dorf heißt Lunau und es ist mir eine echte Heimat geworden, Sina. Ich habe mich nirgendwo sonst so zu Hause gefühlt, wie hier.“
„Aber du bist alles andere als spießig, Ruth. Du passt überhaupt nicht in so ein langweiliges Dorf.“
„Ach, Süße, du hast ja keine Ahnung! Lunau ist auch alles andere als spießig oder gar langweilig. Du würdest dich wundern, was hier alles abgeht. Außerdem liegt die Autobahnabfahrt Bispingen ganz in der Nähe und von dort aus kannst du im Handumdrehen in Hamburg sein, wenn dir die Stadt tatsächlich einmal fehlen sollte. Komm her und schau dir alles in Ruhe an. Ein paar Tage haben wir noch, bis der alte Herr, von dem ich dir erzählt habe, aus dem Krankenhaus entlassen wird. Er ist ein sehr netter Mann, so viel kann ich dir versprechen.“
„Und dein Chef, dieser Doktor Loewenthal? Wie ist der so?“
Wieder lachte Ruth. „Stell dir einen kauzigen alten Landarzt vor, hast du?“
„Oh Gott, ja!“
„So, und jetzt stell dir das absolute Gegenteil vor. Im Ernst, Sina, Kjell Loewenthal ist nicht nur ein toller Kerl, sondern auch ein wunderbarer Chef und dazu ein großartiger Arzt. Weißt du noch, wie wir damals den Ärzten in der Klinik nach ihren fachlichen und menschlichen Qualitäten heimlich Schulnoten verpasst haben?“
„Natürlich weiß ich das noch!“
„Kjell Loewenthal ist in jeder Hinsicht eine glatte Eins mit mindestens drei Sternchen, meine Liebe. Du wirst ihn und sicherlich auch seine Frau Isabell auf Anhieb mögen, glaub mir!“
„Das habe ich nun davon, dass ich dich angerufen habe. Du beginnst mich tatsächlich neugierig zu machen, Ruth.“
„Sehr gut! Wann kannst du hier sein?“
Sina entwich ein Seufzen. „Lass mich kurz überlegen … Morgen und über das Wochenende habe ich noch Frühdienst … Warte mal … Ich könnte dich eventuell Samstagnachmittag besuchen, dann …“ Entnervt brach sie ab. „Ach was, Ruth, vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe! Ich werde diesem nervigen Oberarzt gleich morgen früh mitteilen, dass er mich mal kann, wo ich hübsch bin. Ich bin noch in der Probezeit und kann gehen, wann ich will. Der Typ hat sich mir gegenüber unmöglich benommen. Dem waren meine Argumente und Wünsche völlig egal. Jetzt kann er zusehen, wen er auf die Intensivstation versetzt. Mich jedenfalls nicht!“
„Ah, ich verstehe. Dein neuer Chef war also kein Glückgriff mit Sternchen, was?“
Sina hörte Ruth das Amüsement deutlich an. „Mach dich ruhig lustig über mich, Ruth. Im Ernst, der Kerl verdient höchstens ein sehr mieses Ungenügend mit drei zusätzlichen Daumen nach unten.“ Noch einmal atmete sie tief und gründlich durch, um die Entscheidung zumindest ansatzweise zu verdauen, die sie im Grunde bereits getroffen hatte. „Du hast gewonnen, ich werde am Samstag gegen Mittag in deinem geliebten Dörfchen eintreffen. Aber ich sage dir gleich, wenn mir die Arbeit und das ganze provinzielle Drumherum auf die Nerven gehen, bin ich genauso schnell auch wieder weg.“
„Das werden wir sehen, Sina.“
„Hauptsache, dir und deinem Dr. Loewenthal ist klar, dass meine Arbeit in der Praxis eventuell nur von kurzer Dauer sein wird.“
„Ich sag doch, warten wir es einfach ab, ja?“
„Wo kann ich unterkommen?“
„Das kläre ich noch. Philip von Hoven hat mir jedenfalls versichert, dass er eine gute Unterkunft für dich bereitstellen wird.“
„Philip von Hoven?“
„Ja, das ist der Enkel des netten alten Herrn, der deine Hilfe benötigt.“
„Von Hoven … Von Hoven … irgendwas klingelt da.“
„Das ist ganz alter Adel. Wahrscheinlich hast du irgendwann mal etwas in der Klatschpresse über die Familie gelesen.“
„Der nette alte Herr ist also ein Adliger? Ach herrje, das hat mir gerade noch gefehlt! Das sind doch allesamt hochnäsige Schnösel.“ Sie blies ihre Wangen auf und schüttelte ihren Kopf. „Ich muss vollkommen bekloppt sein, mich darauf einzulassen.“
„Helge von Hoven ist wirklich ein sehr liebenswerter alter Herr. Den Baron wirst du ihm kaum anmerken, das kann ich dir versichern.“
„Klar doch, was sollst du auch sonst sagen, du willst mich ja unbedingt in dein Dorf locken.“ Sie musste lachen, als Ruth ein unwilliges Geräusch hören ließ. „Okay, okay, ich werde jetzt keinen Rückzieher mehr machen, das weißt du genau. Wir sehen uns Samstag, irgendwann gegen Mittag, wie besprochen.“
„Ich freue mich, Sina! Glaub mir, du hast gerade die beste Entscheidung deines Lebens getroffen. Die Zeit hier wird dir guttun, da bin ich mir sicher.“
Philip steckte den Hörer zurück in die Basisstation und atmete erleichtert durch. Lancelot, der alte Schäferhund seines Großvaters, hob sofort seinen mächtigen Kopf und sah ihn erwartungsvoll an. Sicher wartete er schon sehnsüchtig auf seinen Nachmittagsspaziergang. „Gib mir noch Zeit für einen Kaffee, mein Junge, dann können wir los.“ Philip ließ sich gegen die flexible Lehne seines Schreibtischsessels zurücksinken, wippte ein wenig vor und wieder zurück und lächelte zufrieden in sich hinein. Soeben hatte Ruth Rogalski ihm eine große Last vom Herzen genommen. Er war wirklich mehr als nur erleichtert, dass die junge Krankenschwester nun tatsächlich nach Lunau kommen würde und neben ihrer Tätigkeit in Kjells Praxis auch die vorübergehende Pflege seines Großvaters übernahm. Endlich konnte er vernünftig planen!
Noch immer lächelnd, erhob er sich, um hinüber in die Küche zu gehen, denn jetzt war es notwendig, sich mit Anke Tossen zu besprechen. Anke war eine äußerst patente Frau mittleren Alters und kümmerte sich bereits seit fünfzehn Jahren um das Gutshaus. Ihr unterstand nicht nur die Küche, sondern der gesamte Haushalt. Seit sie hier arbeitete, lief alles wie am Schnürchen, wie sein Großvater nicht selten betonte.
Anke saß am breiten Holztisch in der Küche, blätterte in einer Lüneburger Tageszeitung und hielt dabei einen großen Becher in der Hand, als er durch die Tür kam. Sofort stellte sie ihren Becher ab und nahm ihre Lesebrille von der Nase. Sie erhob sich und lächelte ihm freundlich entgegen. „Herr Baron, was kann ich für Sie tun?“
„Nun, Sie könnten erst einmal den Baron weglassen, meine liebe Anke, dann wären wir schon mal ein Stückchen weiter.“ Er setzte ein breites und wie er wusste, äußerst einnehmendes Lächeln auf.
Ihr Lächeln vertiefte sich sichtlich. „Sehr gerne, Herr von Hoven.“
Philip zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich ihr direkt gegenüber. „Hätten Sie einen Becher Kaffee für mich?“
„Natürlich!“ Er beobachtete, wie sie hinüber zum Vollautomaten ging und den Kaffee zubereitete. Nachdem auch er einen Becher vor sich stehen hatte und Anke wieder auf ihrem Platz saß, unterrichtete er sie kurz und knapp über die erfreuliche Zusage der Krankenschwester. „Sie wird also bereits Samstag hier eintreffen, sodass sie sich mit allem vertraut machen kann, bevor mein Großvater aus der Klinik entlassen wird.“
„Das ist wirklich eine große Erleichterung für uns.“ Anke sah ihm in die Augen.
„Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Sie haben mit dem Haus genug zu tun und mir geht es mit dem Gut nicht anders.“ Er setzte kurz den Becher an die Lippen und trank einen Schluck. „Aber warum ich Sie eigentlich sprechen wollte, Anke … Was meinen Sie, wo wir die junge Dame am besten unterbringen? Wir hätten da ja verschiedene Möglichkeiten.“
Anke nickte. „Sie meinen wahrscheinlich, ob wir ihr eines der kleinen Ferienhäuschen auf dem Gut anbieten sollten, oder doch besser hier im Hause ein Gästezimmer, nicht wahr?“
„Sie haben es erfasst. Ich bin mir nicht ganz sicher, was für alle Beteiligten die beste Lösung wäre.“
Anke Tossen griff ebenfalls nach ihrem Becher und blickte eine Weile sehr nachdenklich drein, dann seufzte sie. „Möglicherweise wäre es gut, Frau Rosenborn entscheiden zu lassen, ob sie hier im Haus, oder lieber separat untergebracht werden möchte.“
„Das ist keine schlechte Idee.“
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchte unser Doktor die junge Frau gerne ganz hierbehalten, richtig?“
„So ist es. Ich glaube, Dr. Loewenthal und Frau Rogalski wären froh, wenn sie Frau Rosenborn für die Arbeit hier in der Dorfpraxis auch auf längere Sicht begeistern könnten.“ Ein Seufzen entglitt ihm. „Sie spielen wahrscheinlich darauf an, dass dann das Ferienhaus passender wäre?“
„Luisa … ähm, ich meine Luisa Milchert, hat im vergangenen Jahr einige Zeit in einem der Ferienhäuser hier auf dem Gut gewohnt, also … bevor sie zusammen mit Herrn Brix ihr neues Haus bezogen hat. Sie erwähnte mal, dass sie sich dort sehr wohlgefühlt hat. Die Häuschen sind aus gutem Mauerwerk, vollkommen winterfest und wirklich nett eingerichtet. Es ist alles vorhanden, was man zum Leben braucht. Der Baron hat zudem vor gut zwei Jahren dafür gesorgt, dass die Häuser allesamt mit modernen Bädern und Küchen, Heizungsanlagen, Telefon und sogar einem Internetanschluss ausgestattet wurden. Luisa meinte, es ist nicht besonders groß, aber man wohnt dort wirklich komfortabel. Nicht umsonst sind die Häuser direkt hier auf dem Gut auch deutlich teurer als die einfacheren Holzhäuser im Feriendorf.“
„Soso …“ Philip trank seinen Kaffee aus, erhob sich und stellte den Becher neben dem Spülbecken ab. „Ich muss zugeben, mit der Renovierung der Ferienhäuser hab ich mich noch nicht näher beschäftigt, deshalb ist es wirklich hilfreich, zu erfahren, wie weit diese tatsächlich ging. Aber wissen Sie was, Anke, ich denke, ich werde mir eines der Häuser mal genauer ansehen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es für eine junge Frau doch viel angenehmer, wenn sie ihr eigenes Reich hat und so ihren Feierabend und die freie Zeit auch richtig genießen kann.“
„Sie haben sicherlich recht, Herr von Hoven. Soll ich Sie vielleicht begleiten? Es ist ja nicht weit und ich könnte schauen, ob man das Häuschen doch noch ein wenig wohnlicher gestalten sollte, bevor Frau Rosenborn bei uns eintrifft. Ich würde das vordere vorschlagen, also das Haus, das ein wenig abgesondert von den anderen direkt am alten Seerosenteich steht, dort hat damals auch Luisa gewohnt. Es ist besonders hübsch und ruhig gelegen.“
„Gute Idee! Lancelot wartete ohnehin auf seinen Spaziergang und bis zum Abendessen ist es noch eine Weile hin. Kommen Sie, Anke, wir ziehen uns etwas über und machen einen kleinen Spaziergang.“