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KAPITEL 2

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Die Sonne schien von einem wolkenlosen und herrlich blauen Himmel. Das ist schon mal ein guter Anfang, beschloss Sina, als sie das Ortschild von Lunau passierte. Im Gepäckraum ihres kleinen Hondas befanden sich zwei Koffer und eine Kiste mit persönlichen Dingen, auf die sie nicht wochenlang verzichten wollte. Ein Korb mit den notwendigsten Lebensmitteln, um über die ersten Tage zu kommen, sowie eine kleine Kühltasche, mit ihrem Abendessen für heute, standen auf der Rückbank.

Ruth Rogalski hatte ihr genau beschrieben, wie sie fahren musste, um zum Haus von Dr. Loewenthal zu gelangen. Am vergangenen Abend hatten sie erneut miteinander telefoniert und Ruth hatte ihr noch einmal versichert, dass alles für ihr Eintreffen vorbereitet sei, deshalb wusste sie inzwischen auch, dass sie in einem kleinen Häuschen auf dem Gutshof wohnen würde, das der Enkel des Barons ihr kostenlos zur Verfügung stellte, solange sie sich um seinen Großvater kümmerte. Das war wirklich nett von diesem Adligen, das musste sie zugeben.

Ruths Anweisungen folgend, fuhr sie am Feriendorf vorbei und bog hinter der Zufahrt zur Gärtnerei Brix, die durch ein riesiges Schild gut zu erkennen war, nach rechts ab. Von hier aus sollte sie laut Ruth einfach der Hauptstraße des Dorfes folgen. Routiniert drosselte Sina ein wenig das Tempo, als sie ihren Wagen durch das Dorf lenkte.

Das nennen die Lunauer also Hauptstraße, dachte sie amüsiert. Wie erwartet kam sie an einigen kleinen Geschäften und roten Backsteinhäusern mit hübschen Vorgärten vorbei. Sie fuhr direkt auf den Dorfplatz und die Kirche zu, hielt sich dann links, um in die ausgeschilderte Sackgasse zu fahren, an deren Ende sie den Wagen schließlich abstellte. Ihr Blick fiel auf den Beifahrersitz. Dort lag ihre Bewerbungsmappe, an die sie zum Glück noch im letzten Augenblick gedacht hatte. Sie griff danach und schob sie ins vordere Fach ihrer großen Handtasche. Nachdem sie noch einmal gründlich durchgeatmet hatte, stieg sie langsam aus und sah sich um. Es waren kaum Leute zu sehen, das fiel ihr sofort auf. Die wenigen Geschäfte waren offenbar bereits geschlossen und insgesamt war es recht still in diesem Dorf. Irgendwo in der Ferne hörte sie Kinderlachen und das Krächzen einer Krähe erschreckte sie fast.

Das Haus, vor dem sie stand, war zwar alt, aber wunderschön. Roter Backstein, frisch gestrichene weiße Fensterläden und ein gut gepflegter Garten wirkten einladend und auf eine beruhigende Art beständig. Das typische weiße Schild der Arztpraxis war nicht zu übersehen. Hier war sie richtig.

Sina wollte gerade die Auffahrt entlang zur Haustür gehen, als sie ein Geräusch hörte und sich erschrocken umdrehte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße wies eine hübsch gestaltete Holztafel darauf hin, dass sich hier das Lunauer Buchladen-Café befand. Auch davon hatte Ruth ihr erzählt. Deshalb wusste sie auch, dass es der Mutter von Dr. Loewenthal gehörte und seine Frau dort fantastische Torten zauberte. Zu gerne hätte sie sich jetzt ein Stück Kuchen und eine heiße Tasse Kakao gegönnt, doch dafür würde später auch noch genügend Zeit bleiben.

Sie wollte sich gerade wieder abwenden, als sie registrierte, woher das Geräusch gekommen war. Offenbar hatte jemand die Tür des Cafés geöffnet. Zwei junge Frauen kamen aus dem Buchladen-Café und betraten die hölzerne Veranda. Eine hatte eine auffallende goldblonde Lockenmähne, die andere war brünett und trug einen wippenden, hochangesetzten Pferdeschwanz. Sie scherzten und lachten auf diese besondere Art miteinander, die sie sofort als gute Freundinnen auswies. Sina musste lächeln. Genau in diesem Moment sah die Blondine zu ihr rüber, stutzte kurz, winkte ihr dann aber freundlich zu. Sie sagte noch etwas zu ihrer Freundin, bevor sie mit einem Satz die Stufen der Veranda hinuntersprang, um anschließend die Straße zu überqueren und direkt auf sie zuzuhalten. Ihre Freundin folgte ihr.

„Hallo! Sie müssen Frau Rosenborn sein, richtig?“, sagte die Blondgelockte und streckte ihr bereits die Hand entgegen. Sina bemerkte den Hauch eines englischen Akzents.

Sina nickte. „Genau die bin ich.“ Sie ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie leicht.

„Ich bin Isabell Loewenthal“, stellte sich die Blonde vor. „Und dies hier ist meine Freundin Luisa Milchert. Willkommen in Lunau!“

„Sehr angenehm.“ Sina schüttelte der anderen Frau ebenfalls die Hand und gab sich große Mühe, das strahlende Lächeln von Isabell Loewenthal zu erwidern. „Ich wollte gerade zu Ihrem Mann, Frau L…“

„Isabell“, unterbrach sie sie sofort. „Bitte, wir sind doch ungefähr in einem Alter, wenn ich mich nicht irre. Und Sie … Du wirst sehr schnell feststellen, dass Förmlichkeiten hier sowieso meist fehl am Platze sind.“ Isabell lachte hell auf. „Hab ich recht, Lu?“, wandte sie sich an ihre Freundin.

„Klar. Förmlichkeiten werden völlig überbewertet.“ Auch Luisa schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, bei dem ihre auffallend silbergrauen Augen funkelten. Sie legte den Kopf etwas schief, sodass ihr dicker Pferdeschwanz noch ein bisschen mehr wippte, und strich sich dabei eine vorwitzige Haarsträhne hinter das Ohr. „Willkommen …“ Sie zögerte.

„Sina! Mein Name ist Sina“, erwiderte sie und musste lachen. Der Sonnenschein und diese beiden Frauen bilden ein wirklich tolles Empfangskomitee, dachte sie bei sich.

Wie sich schon kurz darauf herausstellte, war auch Kjell Loewenthal ein äußerst angenehmer Zeitgenosse. Dank ihrer früheren Kollegin, die beim Gespräch mit dem Arzt wie selbstverständlich anwesend blieb, verlief das Kennenlernen vollkommen unkompliziert und entspannt. Ruth hatte nicht übertrieben, wie Sina zugeben musste. Nicht nur durch seine auffallende Größe, die unübersehbare Athletik und die dunkle Stimme, wirkte der Mann sehr eindrucksvoll. Dr. Kjell Loewenthal machte dazu auch noch einen äußerst sympathischen und kompetenten Eindruck. Während Ruth und er sie gemeinsam durch die Praxis führten, bestätigten sich Ruths begeisterten Ankündigungen erneut. Sina fühlte sich sofort wohl in den Räumen. Die Praxis war hervorragend und modern ausgestattet, das sah man auf den ersten Blick. Da können sich einige Praxen in der Stadt gut eine Scheibe von abschneiden, dachte sie.

„Sie haben hier sogar ein Krankenzimmer! Das ist wirklich erstaunlich.“

Dr. Loewenthal nickte. „Ja, der Raum war halt da und ich habe ihn vor einiger Zeit entsprechend ausstatten lassen. Wie sie sehen, ist vom CTG über EKG und Ultraschall alles vorhanden. Seit zwei Monaten besitzen wir sogar ein funktionelles Krankenbett und ein Beatmungsgerät. In so einem Dorf laufen die Dinge manchmal etwas anders als in der Stadt. In unserem Krankenzimmer sind inzwischen sogar schon zwei Babys auf die Welt gekommen. Aber der Raum ist auch von Vorteil, wenn man einen Patienten einfach mal eine Nacht unter Aufsicht behalten möchte.“

„Sie wohnen also auch hier im Haus?“

„Jep. Meine Frau, mein Hund Siegmund Freud und ich bewohnen die obere Etage.“

„Siegmund Freud? Na, das ist ja mal ein ausgefallener Name für einen Hund.“ Sina lächelte höflich.

„Ich denke, er wird nichts dagegen haben, wenn Sie ihn auch Siggi nennen, wie die meisten es tun“, erwiderte Kjell schmunzelnd. „Er ist zwar momentan drüben bei meiner Mutter, aber sobald Sie in diesem Hause arbeiten, werden Sie an ihm nicht mehr vorbeikommen.“

„Oh Gott, ist er etwa gefährlich?“ Erschrocken sah sie ihn an.

Daraufhin brachen sowohl Ruth als auch ihr Chef in Gelächter aus. „Siggi ist zuckersüß, Sina“, erklärte Ruth, als sie dazu imstande war. „Außerdem ist er nicht viel größer als ein Kaninchen.“

Als sie kurz darauf im Büro saßen, besprachen sie die weiteren Einzelheiten. Sina und Ruth hatten auf den Besucherstühlen Platz genommen, während Kjell Loewenthal hinter seinem Schreibtisch thronte. Ruth hielt sich zurück, verfolgte aber weiterhin interessiert das Gespräch.

„Wie ich Ihren Unterlagen entnehme, haben Sie eine Zusatzausbildung für OP-Assistenz und Intensivpflege?“, hakte Dr. Loewenthal noch einmal nach, während er zufrieden lächelnd in der Mappe blätterte, die Sina am Morgen um ein Haar zu Hause vergessen hätte.

„Das ist richtig.“

„Gut, das kann nicht schaden. Ich bin auch Unfall-Chirurg. Es könnte also von Vorteil sein, wenn ich auf eine zweite OP-Assistentin zurückgreifen kann, falls es nötig sein sollte.“ Er ließ die Mappe sinken, klappte sie zu und zog eine Augenbraue hoch. „Ich muss wohl kaum betonen, dass ich Sie gerne dauerhaft hier behalten würde, wenn sich die Zusammenarbeit für beide Seiten als zufriedenstellend erweist, oder?“

„Das kann ich Ihnen leider nicht versprechen, Dr. Loewenthal.“

„Ruth hat mir bereits mitgeteilt, dass Sie zunächst davon ausgehen, nur ein paar Monate bei uns zu bleiben.“

„Vielleicht sogar nur ein paar Wochen“, korrigierte sie und setzte ein Lächeln auf.

„Wir werden sehen“, antwortete er und zwinkerte ihr munter zu.

„Meine Worte“, warf Ruth ein und grinste.

„Wie viele Stunden würden Sie mich denn hier in der Praxis brauchen?“, fragte Sina schließlich, ohne auf Ruths Kommentar einzugehen.

„Ich würde vorschlagen, Sie leben sich über das Wochenende erst einmal ein bisschen in Lunau ein und machen sich mit den Örtlichkeiten vertraut. Helge von Hoven wird frühestens Anfang nächster Woche aus der Klinik entlassen werden. Warten wir erst einmal ab, wie umfangreich sich ihre Arbeit auf dem Gut gestaltet, bevor wir die Einzelheiten abklären. Wenn wir klarer sehen und Sie genauer wissen, was auf Sie zukommt, können wir Ihre Stundenzahl hier in der Praxis besser anpassen. Es reicht mir vollkommen, wenn wir uns dann Dienstag oder Mittwoch noch einmal zusammensetzen, um alles Weitere zu besprechen.“

„Wie Sie meinen, Herr Doktor.“ Dass er keinerlei Druck auf sie ausübte, gefiel Sina.

„Kjell“, erwiderte er lächelnd. „Nennen Sie mich Kjell. Wir werden zukünftig eng zusammenarbeiten und das macht den Umgang miteinander deutlich leichter, Sina.“

Meine Herren, dachte sie. Hier scheinen wirklich alle ungemein locker drauf zu sein!

„Du wirst auf dem Gut bereits erwartet“, teilte Ruth ihr mit, als sie wenig später wieder draußen vor dem Haus standen und langsam zu Sinas Auto gingen. „Ich kann dich gerne begleiten, wenn du möchtest.“

„Ach was, lass nur“, antwortete Sina und winkte ab. „Du hast mir ja ganz gut beschrieben, wie ich dorthin komme.“

„Du kannst direkt bis vor das Gutshaus fahren, also keine Hemmungen. Meldest du dich nachher noch mal bei mir?“

„Ja, ich rufe dich später an.“

„Wir können auch gerne bei mir gemeinsam zu Abend essen, wenn du möchtest.“

„Ach, Ruthchen, lass mich erst einmal in Ruhe ankommen. Ich habe genug eingekauft, um nicht zu verhungern.“

Sehr langsam fuhr Sina die breite Auffahrt zum Gutshaus hinauf. Sie parkte den Wagen neben einem mattschwarzen SUV, stieg aus und ging gemächlichen Schrittes auf das Haus zu. Alles in allem war es ein beeindruckender Anblick, der sich ihr darbot. Das rotgoldene Herbstlaub der umstehenden Bäume schuf eine fast märchenhafte Kulisse für das schlossähnliche Gebäude. So wie die meisten Häuser in Lunau bestand auch dieses hier aus dunkelrotem Backstein. Schneeweiße Säulen, hohe Fensterrahmen und mehrere gemauerte Balkone verliehen ihm jedoch eine beeindruckende Pracht. Nachdem Sina einige Stufen erklommen und mehrere Schritte unter einem Portikus zurückgelegt hatte, stand sie vor einer übergroßen, ebenfalls weißen und reich verzierten Eingangstür.

Kaum hatte Sina geläutet, wurde die Tür auch schon geöffnet.

„Frau Rosenborn?“, fragte eine freundlich dreinblickende Frau mittleren Alters.

„Die bin ich“, antwortete Sina. „Guten Tag!“

„Herzlich willkommen auf Gut Hoven! Ich bin Anke Tossen, Hausdame und Köchin in einer Person. Bitte treten Sie doch ein. Herr von Hoven erwartet Sie bereits.“

„Vielen Dank.“ Sina spürte leichte Befangenheit in sich aufsteigen, als sie kurz darauf in einer großen Eingangshalle stand. So zögerlich, fast unsicher, kannte sie sich gar nicht. Außerdem war sie seit ihrer Kindheit an Reichtum gewöhnt. Doch jetzt hatte sie Mühe, nicht den Kopf zu senken und fasziniert auf die herrlichen dunkelroten Marmorfliesen zu blicken, mit denen die gesamte Halle ausgelegt war.

Die ältere Frau nahm ihr die Jacke und den Schal ab und führte sie anschließend in einen angrenzenden Raum, der gemütlich wirkte und in allerlei Blautönen eingerichtet war. Im gemauerten Kamin brannte ein heimeliges Feuer, davor stand eine Sitzecke, bestehend aus zwei ausladenden Sofas und drei dazu passenden Sesseln. Alles in allem wirkte das Zimmer überaus wohnlich. Hier fühlte sie sich sofort wieder besser.

Frau Tossen hob die Hand und machte eine einladende Geste. „Bitte nehmen Sie Platz, Frau Rosenborn. Ich gebe Herrn von Hoven Bescheid, dass Sie angekommen sind, dann bringe ich Ihnen den Tee, einverstanden? Oder hätten Sie lieber einen Kaffee? Sie brauchen es nur zu sagen.“

Innerlich seufzte sie. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen und ihr Magen begann bereits zu knurren. Eigentlich hatte sie sich ja einen Becher Schokolade und ein Stück Kuchen im Buchladen-Café gönnen wollen. Hoffentlich würde sich das Gespräch mit von Hoven nicht zu sehr in die Länge ziehen. „Vielen Dank, ich trinke sehr gerne Tee“, sagte sie etwas zu hastig und ärgerte sich sofort darüber.

„Dann sind wir schon zwei“, erwiderte die Hausdame lachend, wobei sich um ihre Augen Kränze von strahlenförmigen Fältchen zeigten, die ihrem runden Gesicht einen noch freundlicheren Ausdruck verliehen. „Machen Sie es sich gemütlich. Herr von Hoven wird gleich bei Ihnen sein.“

Sina entschied sich für einen der blaugemusterten Sessel, von dem aus sie die Tür gut im Auge behalten konnte. Sie ertappte sich dabei, dass sie inzwischen durchaus neugierig auf ihren neuen Chef war. Wenn er genauso freundlich war wie seine Hausdame … Die Aussicht auf ein paar Wochen in Lunau gefiel Sina immer besser.

Doch als Philip von Hoven nur wenige Sekunden später tatsächlich den Raum betrat, wünschte Sina inständig, die Erde möge sich auf der Stelle auftun und sie für alle Zeiten verschlucken.

Philip traute seinen Augen kaum und blieb wie angewurzelt in der offenen Tür stehen. Fassungslos starrte er die junge Frau an, die regelrecht aus dem Sessel hochschoss und ihn ihrerseits fixierte wie die Schlange das Kaninchen … oder umgekehrt, dachte er fast ein wenig benommen. Nahezu verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten – das allein war schon so ungewöhnlich für ihn, dass es ihn noch eine Spur mehr durcheinanderbrachte. Um Zeit zu gewinnen, schloss er die Tür und räusperte sich.

„Ach, du liebes Lieschen!“, sagte sie leise und löste damit ein wenig von seiner Anspannung.

„So kann man es wohl auch ausdrücken“, gab er zurück und fühlte, wie sich seine Nackenmuskulatur verspannte, während er sich an einem höflichen Lächeln versuchte und sich, noch leicht zögernd, auf sie zu bewegte, bis er in einem angemessenen Abstand vor ihr stand. „Tja, so kann es gehen“, fügte er hinzu.

„Du bist … ähm, Sie sind Philip von Hoven?“ Sie wurde tatsächlich rot und er spürte, wie sich sein aufgesetztes Lächeln zu einem echten wandelte.

„Ich denke, in Anbetracht der Tatsache, dass wir beide … also … Wir sollten beim Du bleiben. Alles andere wäre wohl albern, oder?“ Jetzt lächelte auch sie. Sie hatte ein sehr schönes Lächeln, aber das wusste er ja bereits.

„Okay, ganz wie du meinst.“ Sina schluckte sichtbar. „Unter den gegebenen Umständen ist es sicherlich besser, wenn ich gleich wieder verschwinde, oder?“ Seufzend drehte sie sich um und griff nach ihrer Handtasche, die neben dem Sessel auf dem Fußboden stand.

„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte er schnell. „Ich sehe keinen Grund dafür, warum wir uns von dieser … ähem … Sache beeinflussen lassen sollten. Das ist doch eine Ewig…“

In diesem Moment öffnete sich erneut die Tür. Anke kam herein und schob einen Servierwagen vor sich her. Lächelnd platzierte sie ihn neben dem kleinen Couchtisch. „Hier kommt der Tee!“

„Vielen Dank, Anke, den Rest schaffen Frau Rosenborn und ich allein“, erwiderte er. „Bitte, nimm doch wieder Platz“, forderte er sie schließlich auf, nachdem sich die Tür hinter Anke Tossen wieder geschlossen hatte.

„Du möchtest also, dass ich bleibe?“ Ihre Frage klang zweifelnd.

„Natürlich! Wir sind inzwischen … beide ziemlich erwachsen, nicht wahr?“

„Okay … Eigentlich hast du recht.“ Ihr Lächeln wirkte etwas zaghaft. Zu seiner Erleichterung ließ sie sich aber tatsächlich wieder zurück in den Sessel sinken und nahm die Tasse Tee, die er ihr reichte mit einem angedeuteten Nicken entgegen.

„Nicht nur eigentlich.“ Er vertiefte sein Lächeln, um ihr und auch sich selbst den letzten Rest der Peinlichkeit zu nehmen, die ihr unerwartetes Wiedersehen offenbar nicht nur in ihm hervorgerufen hatte. „Du hast also tatsächlich etwas mit Klaus Rosenborn zu tun? Als ich deinen Namen hörte, wurde ich hellhörig, aber Ruth wusste nichts von einer Verwandtschaft.“

„Verwandtschaftlicher geht es gar nicht“, antwortete sie, nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse anschließend auf dem Tisch ab. „Ich bin seine Tochter.“

„Du bist bitte was?“ Aus den verschiedensten Gründen fiel es ihm äußerst schwer, das zu glauben – auch wenn er nicht daran zweifelte, dass sie die Wahrheit sagte. „Sina, entschuldige, aber mir wird gerade klar, dass … du warst damals höchstens …“

„Siebzehn, Herr Baron, ich war gerade siebzehn Jahre alt geworden, als ich dich auf dem Pralinenball meines Vaters verführte.“

Offenbar hatte sie den ersten Schrecken ihres unerwarteten Wiedersehens überwunden, denn plötzlich klang ihre Stimme deutlich fester. Er selbst fühlte sich noch immer etwas überfordert und es kostete ihn nicht gerade wenig Anstrengung, Sina nicht unentwegt anzustarren. Zumindest hatte er bereits auf den ersten Blick wahrgenommen, dass sie auch heute noch umwerfend aussah. Um seine Hände irgendwie zu beschäftigen, schob er den kleinen Teller mit Teegebäck neben ihre Tasse. „Bitte, bedien dich.“

„Mach dir keine Sorgen, du hast damals kein Gesetz gebrochen“, setzte sie nach und machte es ihm damit nicht unbedingt leichter.

„Nun, kein geschriebenes zumindest.“ Erneut musste er sich räuspern. „In meiner Erinnerung warst du mindestens achtzehn, wenn nicht sogar zwanzig Jahre alt.“

„Genau darauf hatte ich es ja auch angelegt“, gab sie zu und lächelte keck. „Ich wollte weder, dass du weißt, wie alt ich bin, noch dass du ahnst, wer ich bin.“

„So oder so hast du mir keine Chance gelassen“, versuchte er zu rechtfertigen, was ohnehin nicht mehr zu rechtfertigen war.

„Ach, Philip!“ Zum ersten Mal nannte sie ihn direkt beim Vornamen. Etwas in ihm reagierte darauf, aber er hätte nicht bestimmen können, ob es ein gutes oder doch eher ein unangenehmes Gefühl war, das sich in ihm ausbreitete. Was er jedoch klar erkannte, war die Verlegenheit, die ihn nun ebenfalls überkam. Ein wenig befangen griff er nach seiner Tasse und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem Tee. Sina tat es ihm nach.

Eine kurze Weile schwiegen sie. Er beobachtete, wie sie sich das lange rotbraune Haar über die Schulter nach hinten schob. Dann nahm sie sich ein Stück Gebäck und knabberte daran. Ihre auffallend vollen Lippen schlossen sich um die Schokoladenspitze eines Vanillestäbchens. „Vielleicht sollten wir endlich darüber reden, warum du hier bist“, sagte er schnell, um sich von dem verführerischen Anblick abzulenken. Sein Körper reagierte prompt, doch sein Verstand fand das mehr als nur unpassend und irritierend. Nervös schlug er sein rechtes Bein über das linke und beugte sich ein wenig vor.

„Gute Idee“, antwortete sie und trank den Rest ihres Tees.

Er war recht erleichtert darüber, dass sie es bei dem einen Vanillestäbchen beließ, und konzentrierte sich auf den Anlass ihres Treffens. Dabei hoffte er inständig, dass er nicht allzu kurzatmig klang. „Da wir noch nicht genau abschätzen können, wie viele Stunden am Tag mein Großvater dich überhaupt braucht, halte ich es für viel praktischer, dein Honorar zu pauschalisieren, egal ob du nun zwei, drei oder acht Stunden hier im Haus sein musst. Ich schlage deshalb vor, einfach Tagessätze festzulegen. So kannst du viel flexibler arbeiten, musst keine zusätzlichen Tabellen oder Ähnliches führen und kannst dich ganz und gar auf den tatsächlichen Bedarf einstellen. Bist du mit zweihundert Euro pro Tag einverstanden?“

Sie hustete. „Das ist … überaus großzügig, Philip. Wie könnte ich damit nicht einverstanden sein? Ehrlicherweise sollte ich dir aber auch sagen, dass die Tagessätze für eine Krankenschwester, auch für die private Pflege, normalerweise weit niedriger sind. Spätestens nach einem Monat werde ich tatsächlich kaum mehr als zwei Stunden hier im Haus zu tun haben.“

„Darüber bin ich mir absolut im Klaren, doch allein schon mit deinem Umzug nimmst du eine Menge Umstände in Kauf, also sollte sich die Sache für dich auch angemessen rentieren. Ich werde dich vorerst für zwei Monate fest anstellen und lass das von unserem Steuerberater entsprechend hochrechnen, sodass du am Ende auch wirklich die zweihundert Euro pro Tag in der Hand hältst. Ich habe mich im Vorfeld mit Kjell, also mit Dr. Loewenthal, abgestimmt. Erwartungsgemäß wirst du in den ersten Wochen weniger Stunden in seiner Praxis arbeiten können, deshalb haben wir uns gemeinsam für diese Lösung entschieden. Das heißt, du bekommst dann außerdem von ihm, was du ohnehin dazuverdienen darfst. Ich denke, so können wir vorerst alle zufrieden sein.“

„Das ist … super“, sagte sie und atmete sichtbar durch. „Danke, Philip.“

Er nickte kurz, war einfach nur froh darüber, dass er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. „Ich muss mich bei dir bedanken, Sina. Ich bin heilfroh, dass du die Pflege meines Großvaters übernimmst und ich diese Sorge los bin. Kommen wir zum nächsten Punkt: Hier auf dem Gut gibt es einige winterfeste Ferienhäuser. Ich habe dir eins davon herrichten lassen, so steht dir in deiner Freizeit auch ein völlig privates Umfeld zur Verfügung. Ich sehe deine Unterkunft als Teil des Honorars, also lebst du kostenfrei, solange du dich um meinen Großvater kümmerst. Solltest du darüber hinaus in Lunau bleiben wollen, werden wir uns später wegen der Miete schon einig werden. Das Haus ist recht klein, bietet aber alles an Komfort, was man zum Leben braucht. Kühlschrank und Heizung laufen bereits.“

„Das ist sehr nett von dir“, antwortete sie. „Weißt du schon, wann dein Großvater aus der Klinik entlassen wird?“

„Noch nicht genau, aber ich werde ihn morgen wieder besuchen. Wenn du möchtest, kannst du mich gerne nach Lüneburg begleiten, das würde euch die Gelegenheit bieten, euch schon mal kennenzulernen.“

Sina lächelte. „Das wäre vielleicht gar nicht so verkehrt, dann kann ich mir auch gleich ein Bild vom derzeitigen Stand seiner Genesung machen und mit ein bisschen Glück sogar mit dem behandelnden Arzt sprechen. Wann willst du morgen los?“

„Ich denke, am frühen Nachmittag. Es wäre mir eine Freude, dich mitzunehmen. Sagen wir, gegen vierzehn Uhr. Wäre dir das recht?“

„Natürlich.“

„Gut. Ich werde dich dann abholen.“ Als er sich erhob, stand sie ebenfalls auf. „Es wird schon dunkel. Ich sollte dir jetzt deine Unterkunft zeigen, damit du in aller Ruhe auspacken und dich einrichten kannst. Ich nehme an, du bist mit dem Auto hier?“

„Ja. Ich habe vorhin neben dem schwarzen Land Rover geparkt. Ich hoffe, das war in Ordnung?“

„Absolut. Der Wagen gehört übrigens mir. Im Augenblick bin ich so viel unterwegs, dass ich ihn gar nicht erst in die Garage fahre. Am besten fahre ich gleich voraus und du folgst mir zum Ferienhaus. Es ist nicht weit, nur ein paar Minuten. Du hast einen eigenen Stellplatz für deinen Wagen direkt am Haus, das macht es für dich bequemer. Zu Fuß sind es ungefähr zehn Minuten, das ist also auch keine große Sache. Nicht nur im Dorf, auch hier auf dem Gut ist alles sehr übersichtlich und man kann sich nicht verlaufen. Bei schönem Wetter ist es zudem ein sehr angenehmer Weg, aber das kannst du dir dann morgen in aller Ruhe bei Tageslicht ansehen.“ Als sie nur nickte, atmete er noch einmal tief durch. „Wollen wir?“

„Gerne.“

„Sina gefällt mir“, teilte Isabell ihrem Ehemann ungefähr zur selben Zeit mit. Kjell stand vor einer der Kühltheken im Buchladen-Café und schaute ihr zu, während sie die letzten sauberen Tortenplatten aus dem Geschirrspüler nahm und in den Schrank zu den anderen sortierte. Samstags kam er oft zum Feierabend herüber, um noch einen Kaffee zu trinken, während sie die letzten Handgriffe im Laden erledigte und Siggi zwischen ihnen beiden hin- und hersprang. Isabell mochte es sehr, wie Kjell dann dastand, groß und männlich, einen Becher in der Hand und sie nicht aus den Augen ließ.

„Mir auch“, erwiderte er und trank den letzten Schluck Kaffee aus.

„Na, ich hoffe doch, nicht zu sehr“, ermahnte sie ihn lachend und zwinkerte ihm zu. Sie wussten beide, dass es ein Scherz war. An Kjell zu zweifeln würde ihr niemals in den Sinn kommen. Ihr Mann liebte sie über alles und sie waren beide davon überzeugt, dass absolute Treue in einer Beziehung unverzichtbar war.

„Wie heißt es doch so schön: Du hast mich für alle anderen Frauen verdorben, Bella.“ Auch er lachte. „Im Ernst, ich glaube, dass sie eine echte Bereicherung sein könnte, und das nicht allein für die Praxis. Ruth hält nicht nur beruflich, sondern auch menschlich ausgesprochen viel von ihr, das soll was heißen. Auf ihr Urteil kann man sich ja eigentlich blind verlassen.“

„Nun, dann drücken wir mal die Daumen, dass Sina uns erhalten bleibt, sobald der alte Baron wieder ganz gesund ist. Weißt du, Kjell, sie hat so eine gewisse Ausstrahlung … Ich mochte sie sofort. Das kommt bei mir nicht so häufig vor. Lu und ich haben vorhin schon darüber gesprochen. Ihr ging es genauso.“

Als er um den Tresen herumkam und den leeren Becher in die Spülmaschine räumte, stellte Isabell sich auf die Zehenspitzen, zog ihn zu sich herunter und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Er nahm ihr grinsend das Geschirrtuch aus der Hand und hängte es an den dafür vorgesehenen Haken, bevor er seine großen Hände um ihre Taille legte und sie an sich zog. „Es könnte jedenfalls nicht schaden, wenn Sina hier schnell Anschluss findet.“

„Du möchtest, dass Lu und ich uns ein bisschen um sie kümmern?“

„Da würde ich dir nicht reinreden, das weißt du, aber wenn du sie magst, warum solltet ihr sie dann nicht ein wenig mit einbeziehen? Sie ist genauso alt wie du, Bella.“

„Okay, ich denke, da lässt sich was machen, Doc. Wir werden ihr zeigen, wie wunderbar wir hier alle sind.“ Sie musste kichern, als Kjell sie hochhob und ihren Hals liebkoste.

„Können wir jetzt endlich nach Hause?“, hörte sie ihn brummend fragen.

„Trägst du mich heim, du starker Mann?“

„Keine Chance, Bella.“

Das Häuschen ist wirklich hübsch, dachte Sina, nachdem sie sich umgesehen hatte. Zusammen mit Philip stand sie mitten in dem kleinen Wohnzimmer. Er hatte ihr geholfen, das Gepäck hereinzubringen, und ihr dabei die wichtigsten Informationen zu ihrem vorübergehenden Domizil mitgeteilt.

„Gefällt es dir?“, wollte er jetzt wissen.

„Es ist toll“, erwiderte sie und lächelte zu ihm auf.

„Ach ja, bevor ich es vergesse, in einer der Küchenschubladen findest du Anleitungen für die Geräte. Herd, Kühlschrank und so weiter. Wenn du sonst irgendwelche Fragen hast, kannst du dich gerne direkt an mich wenden. Warte …“ Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog eine schwarze Brieftasche hervor. „Ich lass dir meine Karte hier, da steht auch meine Handynummer drauf.“

„Danke.“ Höflich nahm sie seine Visitenkarte entgegen. „Aber ich denke, ich komme schon zurecht.“

„Gut, dann werde ich dich jetzt allein lassen. Wir sehen uns ja ohnehin morgen. Ich hole dich hier ab, wie verabredet.“

„Ich danke dir, Philip.“

„Hab einen schönen Abend, Sina.“

„Ebenso.“

Kurz bevor er die Haustür öffnete, zögerte er plötzlich und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Ich möchte noch etwas loswerden, bevor ich gehe. Offen gestanden habe ich unser unerwartetes Wiedersehen noch nicht so richtig verdaut. Falls ich dir also ein bisschen verkrampft vorkomme, könnte es daran liegen.“

Sie musste lachen. Ihr gefiel seine Ehrlichkeit. „Mir geht es nicht anders, Philip, mach dir keine Gedanken. Insgesamt ist die Sache ja auch ziemlich … abgefahren, oder nicht? Wir werden schon damit klarkommen, sobald wir uns an die Situation gewöhnt haben.“

Er nickte, lächelte leicht und verschwand.

Nachdem das Geräusch des Land Rovers verklungen war, sah Sina sich noch einmal in aller Ruhe um. Hier konnte sie es gut aushalten, keine Frage. Das kleine Haus war ausgesprochen behaglich eingerichtet. Warme Erdtöne und viel helles Holz, genauso mochte sie es. Die gut ausgestattete Küche war vom Wohnraum nur durch einen halbhohen Tresen getrennt. Zusätzlich zur elektrischen Heizung, gab es einen kleinen, eisernen Kaminofen, daneben stand ein hübscher Korb mit Feuerholz. Die große Fensterfront auf der Vorderseite des Hauses mit direktem Zugang zur Terrasse sorgte tagsüber sicherlich für genug Helligkeit, auch das gefiel ihr sehr. Inzwischen war es zwar schon zu dunkel, um sagen zu können, ob der Ausblick schön sein würde, aber Sina nahm es an. Beim Herfahren waren sie an einem Teich vorbeigekommen, der musste irgendwo dort in der Finsternis vor ihrem Haus liegen, so viel hatte sie im Licht der Scheinwerfer gesehen.

Sie seufzte tief auf und machte sich zunächst daran, ihre Koffer auszupacken. Anschließend probierte sie ausgiebig die Dusche aus, schlüpfte in einen bequemen Hausanzug und kümmerte sich endlich um ihr Abendessen. Noch einmal dachte sie ein wenig wehmütig an die heiße Schokolade, die ihr, zumindest für heute, entgangen war. Die Gespräche mit Kjell und Philip hatten doch deutlich mehr Zeit beansprucht, als sie erwartet hatte. Zum Glück hatte sie sich für ihren ersten Abend eine Portion Kartoffelsalat und fertig gebratene Hühnchenfilets von zu Hause mitgebracht, sodass die Vorbereitung kaum Zeit in Anspruch nahm. Während des Essens blätterte sie ein wenig in einer Zeitschrift, doch sie merkte schon bald, dass ihre Gedanken immer wieder abschweiften.

Philip von Hoven, ich fasse es ja nicht! Da habe ich mir ausgerechnet einen Nachwuchsbaron für meine Teenie-Rebellion ausgesucht!

Wie alt mochte er jetzt sein? Damals hatte sie ihn auf Anfang zwanzig geschätzt, dann musste er jetzt ungefähr Mitte dreißig sein. Er wirkte unglaublich selbstsicher und sein Auftreten entsprach seiner Herkunft, das war auffällig. Die sportive Kleidung, die er trug, war von edelster Qualität. Für teure Marken hatte sie einen Blick, auch wenn sie längst nicht mehr so selbstverständlich zu ihrem Leben gehörten. Er sah noch immer ausgesprochen gut aus, fand sie. Nein, noch viel besser als damals, da gab es keinen Zweifel. Männlicher, markanter, alles in allem überaus attraktiv. Seine herrlichen haselnussbraunen Augen hatten noch immer diesen ganz speziellen Schmelz, der wohl jedes Frauenherz höher schlagen ließ.

Nach dem ersten Schock war Philip mit der peinlichen Situation sehr souverän umgegangen, das musste sie ihm lassen. Er war charmant und freundlich gewesen und hatte sie nicht sofort aus dem Haus komplimentiert. Alle Achtung!

„Du hast also keine Lust auf ein entspanntes Feierabendbier?“, hörte Philip seinen Freund Rafael fragen.

Den Telefonhörer am Ohr, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück, schloss die Lider und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen der freien Hand die Augen. „Nein, heute sicher nicht. Ich bin völlig hinüber und werde mich zeitig ins Bett begeben. Mein Tag war anstrengend.“

„Meine Herren, ich liebe deine eigenartige Ausdrucksweise. Das hab ich echt vermisst. Unsereins würde einfach sagen, ich hau mich in die Falle. Du begibst dich stattdessen ins Bett, das hat schon was. Sag mal, was hast du gemacht, dass du so fertig bist, Baron? Deinen Wald gerodet?“

„Scherzkeks! Seit ich wieder hier bin, wühle ich mich durch die Papiere und Bücher des Guts, um mich einzuarbeiten. Das kostet echt Nerven, sag ich dir. Helge hat in der letzten Zeit offenbar eher Papierstapel angehäuft, statt sie durchzuarbeiten. Heute Nachmittag hab ich außerdem die Krankenschwester für meinen Großvater in Empfang genommen. Gerade habe ich sie zu ihrer Unterkunft gebracht.“

„Und? War die Dame auch so aufreibend wie das Studium deiner Geschäftsbücher?“ Philip hörte seinen Freund leise lachen. Seltsamerweise fühlte er sich für einen kurzen Augenblick, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt.

„Sag mal, langweilst du dich, Rafa? Ist Lu endlich wieder zu Verstand gekommen und hat dich verlassen?“, fragte er, um nicht weiter auf das Thema Sina Rosenborn eingehen zu müssen.

„Machst du Witze? Mein Mädchen ist mir nach wie vor verfallen. Übrigens beruht das absolut auf Gegenseitigkeit, also mach dir keine Hoffnung. Nein, im Ernst, Luisa ist noch mindestens zwei Stunden mit der Buchhaltung für die Gärtnerei beschäftigt, da dachte ich, ein Feierabendbier mit einem alten Freund ist genau das Richtige.“

„Du hast aber keine Probleme, oder? Falls du mich brauchst …“

„Nein, um Gottes Willen, es ist alles in bester Ordnung.“

„Also langweilst du dich doch. Du warst schon immer unglaublich selbstlos, mein Lieber.“

Eine Weile scherzten sie noch miteinander, dann beendeten sie das Telefonat und wünschten sich gegenseitig noch einen angenehmen Abend. Philip schob den dicken Aktenordner beiseite, der seit dem Nachmittag noch immer aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag, und erhob sich. Er hatte nicht übertrieben, er war tatsächlich erschöpft. Außerdem knurrte sein Magen.

Genau in diesem Moment klopfte Anke an der halboffenen Tür.

„Kommen Sie ruhig herein.“

„Sie hatten zwar beim Frühstück erwähnt, dass Sie sich heute selbst um Ihr Abendessen kümmern würden, aber ich habe Ihnen trotzdem etwas zurechtgemacht, Herr von Hoven. Ich hatte ja den ganzen Tag hier im Haus zu tun.“

„Ach, Sie sind ein wahrer Engel, Anke. Ehrlich gesagt ist mir gerade erst aufgefallen, was für einen Hunger ich habe.“

„Das ist ja auch kein Wunder. Seit heute Morgen haben Sie nichts mehr gegessen.“ Sie lächelte mütterlich. „Im Kühlschrank steht ein Kartoffelauflauf mit Hackfleisch bereit. Soll ich ihn schnell in den Ofen schieben? Dann können Sie in zwanzig Minuten essen.“

„Sehr gerne. Ich wollte auch gerade Feierabend machen. Gehen Sie ruhig nach Hause, sobald der Ofen läuft. Ich komme dann schon zurecht.“

„Gut. Ich werde die Zeitschaltuhr einstellen und die Küchentür offenlassen, dann hören Sie, wenn alles fertig ist. Einen schönen Abend noch, Herr von Hoven!“

„Den wünsche ich Ihnen auch. Und … danke!“

Philips Gedanken kreisten fortwährend um das unerwartete Wiedersehen mit Sina. Das hervorragende Essen half nicht, der abendliche Spaziergang mit Lancelot brachte auch keine Ablenkung und der Kriminalroman, den er mit ins Bett nahm, konnte ihn ebenfalls nicht fesseln. Er musste einfach ununterbrochen daran denken. Niemals hätte er damit gerechnet, sie überhaupt irgendwann wiederzusehen.

Seit Jahren lag die Erinnerung gut eingepackt irgendwo in den Tiefen seines Unterbewusstseins versteckt. Er war nicht stolz auf das, was damals passiert war. Im Gegenteil. Schließlich hatte er sich nicht besonders ehrenwert, geschweige denn verantwortungsvoll benommen. Und genau das hatte ihm anfangs schwer im Magen gelegen, denn normalerweise verabscheute er Verantwortungslosigkeit aus tiefstem Herzen. So hatte er Monate gebraucht, um den Vorfall auf dem Rosenborn-Pralinenball erfolgreich zu verdrängen. Das Wiedersehen mit Sina hatte jetzt alles wieder hervorgeholt.

Sein Verhalten von damals war ihm auch heute noch sehr unangenehm. Dass er jetzt wusste, mit wem er es damals zu tun gehabt hatte, machte die Sache nicht gerade leichter. Er war dazu erzogen worden, in jeder Situation die Haltung und einen klaren Kopf zu bewahren, aber bei Sina war es ihm nicht gelungen. Sie hatte ihn innerhalb kürzester Zeit so sehr aus dem Takt gebracht, dass er sämtliche Bedenken über Bord geworfen hatte, nur um mit ihr zusammen sein zu können. Diese Art von Begierde war fast beängstigend gewesen.

Sina Rosenborn! Unglaublich!

Er erinnerte sich noch genau daran, dass sein Großvater ihn praktisch dazu gezwungen hatte, ihn auf den besagten Ball zu begleiten. Klaus Rosenborn, damals ein Geschäftspartner von Helge von Hoven, hatte anlässlich einer neuen Pralinenkreation zum Fest eingeladen und eigens dafür mehrere der zusammenhängenden Ballsäle im bekannten Hamburger Hotel Atlantic angemietet. Die Gästeliste war beeindruckend gewesen. Hochrangige Politiker, reiche Geschäftsleute und jede Menge Prominenz waren eingeladen worden – und natürlich auch erschienen.

Philip war allein seinem Großvater zuliebe mitgegangen. Er hatte weder Lust darauf gehabt, sich einen maßgeschneiderten Smoking anzuziehen, noch den nervtötenden Smalltalk zu ertragen, der mit diesen Gesellschaften meist einherging. Doch dann hatte er sie gesehen!

Er brauchte nur die Augen zu schließen, und schon war die Erinnerung wieder lebendig. Tief einatmend gab er das Lesen auf und legte endlich das ungelesene Buch auf den Nachttisch. Jede Minute, jede Sekunde ihrer ersten Begegnung erwachte vor seinem inneren Auge erneut zum Leben …

Nach dem beeindruckenden Bankett, das den Gästen in zwei der kleineren Säle serviert worden war, spielte das Orchester im großen Saal zum Tanz auf.

Philip sah sie sofort, als er den Festsaal betrat. Etwas abseits stand sie am Rand, gleich neben einem großen Kandelaber, und betrachtete sichtlich gelangweilt die ersten tanzenden Paare auf dem Parkett. Alles an ihr war aufsehenerregend. Ihr rotbraunes Haar, halbseitig aufgesteckt und mit funkelndem Schmuck versehen, glänzte im Licht der goldenen Kronleuchter und Kerzen ebenso wie die türkisfarbene Abendrobe, die mit ihrem enganliegenden, schulterfreien Oberteil und dem weit ausladenden Rock die schmale Taille der Trägerin betonte. Ab und zu nippte sie an ihrem Champagner, doch als ein Kellner mit einem Tablett vorbeikam, stellte sie das leere Glas darauf ab, ohne sich ein neues zu nehmen.

Während Philip ebenfalls seinen Champagner austrank und sie dabei möglichst unauffällig beobachtete, versuchten mehrere Männer ihr Glück und forderten sie zum Tanzen auf, doch sie lehnte jedes Mal lächelnd ab. Ihr Lächeln war sensationell, wie er bemerkte. Und dass sie bis jetzt jeden Mann hatte abblitzen lassen, forderte ihn heraus, er konnte nichts dagegen tun. Langsam verringerte er den Abstand zu ihr. Dann aber sah sie ihn plötzlich direkt an, hielt seinen Blick fest und ließ ihn nicht mehr los. Ihr Blick hatte etwas Magisches. Es fühlte sich an, als würde sie ihn an einer unsichtbaren Schnur zu sich ziehen. Er gab es auf, sich ihr möglichst dezent zu nähern, und ging nicht zu schnell, jedoch zielstrebig auf sie zu. Als er endlich vor ihr stand, wusste er nicht mehr, was er sagen sollte.

„Hallo, schöner Mann“, hauchte sie und blickte dabei direkt auf seinen Mund. Ihm wurde praktisch sofort heiß.

„Hallo, Ballkönigin.“ Immerhin ist das eine halbwegs amüsante Erwiderung, dachte er.

„Du hast dir ganz schön viel Zeit gelassen. Weißt du, ich habe dich nämlich in Gedanken zu mir gerufen, seit du den Saal betreten hast.“ Sie schenkte ihm ihr sensationelles Lächeln, was ihn noch mehr aus dem Konzept brachte als ihre Worte. Er hätte schwören können, dass sie ihn bis gerade eben noch nicht einmal bemerkt hatte.

„Jetzt bin ich da. Und was willst du nun mit mir anfangen?“, hörte er sich fragen. Er konnte kaum die Augen von ihr lassen. Aus der Nähe betrachtet, war alles an ihr hinreißend, nicht nur das Lächeln. Ihre Augen waren ungewöhnlich. Ein sehr dunkles Blau mit goldgrünen Sprenkeln darin. Faszinierend!

„Was schlägst du vor?“ Ihre kleine Zungenspitze huschte über die volle Oberlippe.

Ihm schossen sofort eine Menge Dinge durch den Kopf, die er nur allzu gerne mit ihr tun würde, aber es war wohl kaum der richtige Ort oder die richtige Zeit, um auch nur daran zu denken. Er musste sich räuspern.

Sie lachte leise auf, so als hätte sie seine Gedanken gelesen. Gott bewahre!

„Nun, wie ich beobachten konnte, möchtest du nicht unbedingt tanzen, oder?“, erwiderte er hastig und deutete auf die inzwischen gut gefüllte Tanzfläche. Sie waren umgeben von lauter Menschen, Musik und Stimmengewirr, und doch fühlte es sich seltsamerweise an, als ob er vollkommen allein mit ihr wäre.

„Mit dir schon“, antwortete sie knapp, griff nach seiner Hand und zog ihn auf das glänzende Parkett.

Eigentlich war es keine Überraschung, dass sie den angemessenen Tanzabstand nicht einhielt. Offenbar war ihr absolut bewusst, dass der weite Rock ihres Kleids einen hervorragenden Sichtschutz abgab. Philipp hielt ihre Taille umfangen, führte sie über das Parkett und übte sich dabei in Selbstbeherrschung, während sie sich ohne Hemmungen an ihn presste und damit seine Erregung von Sekunde zu Sekunde steigerte. Nach einem Foxtrott gingen sie dazu über, sich nur noch langsam zur Musik zu bewegen, ohne weiterhin dem Diktat irgendeines Gesellschaftstanzes zu folgen.

Unter ihren langen, goldbestäubten Wimpern sah sie lächelnd zu ihm auf. In ihren faszinierenden Augen, erkannte er die Gewissheit. Sie war jung, doch sie wusste genau, dass er bereits vor Begierde brannte.

„Wer bist du?“, fragte er und war ein wenig erschrocken darüber, wie belegt seine Stimme klang.

„Wehe, du sagst mir jetzt deinen Namen, mein Schöner“, erwiderte sie, anstatt zu antworten, und leckte sich erneut die Oberlippe. Es war irgendwie beruhigend, dass auch sie ein wenig heiser war. „Ich will ihn gar nicht wissen.“

Er beugte sich leicht zu ihr und hielt in seiner Bewegung inne. „Könntest du vielleicht damit aufhören, dich an mir zu reiben?“

„Es macht mir aber Spaß.“

„Das ist mir durchaus bewusst.“ Es holte tief Luft. Seine Erektion pochte unterdessen heiß und fordernd.

„Macht es dir denn keinen Spaß?“, fragte sie hintergründig und drückte sich noch ein bisschen mehr an ihn.

Zischend zog er die Luft durch seine Vorderzähne. „Dein Spiel mit dem Feuer kann sehr schnell gefährlich werden, Ballkönigin.“

Wieder sah sie zu ihm auf, suchte seinen Blick. Ihre Miene war jetzt ganz ernst, aber ihre Augen blitzten vor Übermut. „Ich glaube, ich könnte etwas frische Luft gebrauchen“, stellte sie fest, hielt inne und fächelte fast ein wenig geziert vor ihrem Gesicht herum. „Würdest du mich begleiten?“

„Natürlich.“ Er musste husten.

Wieder nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich. Sie durchquerten einen der Bankettsäle. Im Vorbeigehen sah er seinen Großvater mit einigen Freunden und Geschäftspartnern an einem der Tische sitzen. Offensichtlich waren die Herren so ins Gespräch vertieft, dass sie ihn und das Mädchen noch nicht einmal bemerkten.

Der nächste Saal hatte sich in der Zwischenzeit völlig geleert, doch sie zog Philipp wortlos weiter, hielt auf eine geschlossene Tür am Ende des Raumes zu. Niemand beachtete sie.

Philip stieß ein unwilliges Geräusch aus, warf seine Bettdecke zurück und stand auf. Die Erinnerung an den Ball war viele Jahre lang verschüttet gewesen, doch nun hatte das Erlebnis von damals ihn wieder vollständig im Griff. Er ging hinüber in seinen persönlichen Wohnbereich, schenkte sich einen Cognac ein und blieb mit dem Glas in der Hand vor dem Fenster stehen. Kurz schloss er die Augen, bevor er sich einen Schluck genehmigte und auf die Wirkung des Alkohols wartete.

Nein, er wollte nicht daran denken, was geschehen war, nachdem sie zusammen den Festsaal verlassen hatten, doch seine Gedanken waren schroff und unerbittlich. Die einzelnen Fetzen setzten sich erneut zu einem Gesamtbild zusammen. Vor seinem inneren Auge erschien der kleine Gesellschaftsraum, in dem sie sich plötzlich wiedergefunden hatten. Dort war es dunkel gewesen.

Nur das fahle Licht der Straßenlaternen fiel durch eine Reihe von Oberlichtern, sodass sie sich und ihre Umgebung gerade noch erkennen konnten. Einige abgedeckte Möbel standen in einer Ecke des Raumes, ansonsten war er leer.

Sie zog ihn weiter in die hinterste Ecke des Raumes, dorthin, wo sich die Ansammlung der zusammengeschobenen Möbel befand. Gegen einen der Tische gelehnt, presste sie sich erneut an ihn. Und mit einer einzigen Frage knipste sie seinen Verstand endgültig aus, so vollkommen, dass seine Erinnerung an diese verrückten Augenblicke, noch heute leicht verschwommen blieb: „Bist du noch hart?“ Daraufhin hatte er sie geküsst, als ob dies der letzte Tag seines Lebens wäre …

Der Duft ihrer samtweichen Haut war betörend. Seine Gier danach, in ihr zu sein, ließ sich kaum noch kontrollieren. Niemals zuvor war er so sehr erregt gewesen. Schon während sie ein Kondom aus ihrem Täschchen hervorzauberte und es ihm überzog, wäre er beinahe gekommen. Unter seinen Händen raschelte der Stoff ihres Kleides. Ohne auch noch eines einzigen vernünftigen Gedankens fähig zu sein, versenkte er sich in ihr. Sie saß auf einem der Tische, Massen von knisternder Seide um ihre Taille drapiert, stöhnte bei jedem seiner ungezügelten Stöße und trieb ihn hemmungslos an. Er stand keuchend zwischen ihren gespreizten Beinen und verlor fast den Verstand vor Lust.

Sie kam kurz vor ihm und er genoss es, wie sehr ihr Körper erzitterte, wie fest ihre Beine ihn umklammerten, als wollten sie ihn niemals mehr freigeben. Sein eigener Orgasmus war heftig. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft, nicht laut aufzustöhnen.

Und dann war es vorbei – so schnell, wie es begonnen hatte. Die Stille zwischen ihnen wurde fast bedrückend. Nur ihr gemeinsamer schwerer Atem durchbrach sie. Schweigend zog sie zwei Papiertaschentücher aus ihrem Abendtäschchen und reichte ihm eines davon. Er wandte sich von ihr ab, entfernte das Kondom, säuberte sich und brachte seine Kleidung wieder in Ordnung. Als er sich wieder umdrehte, stand sie vor ihm, als wäre nichts gewesen. Allein ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre herrlichen Lippen wirkten eine Spur voller nach seinen ungestümen Küssen. Mit einer Hand strich sie sich kurz über das Haar, vermutlich um sicherzugehen, dass mit ihrer Frisur noch alles in Ordnung war.

„Du bist wunderschön“, flüsterte er und wollte sie wieder an sich ziehen, aber sie wich einen Schritt zurück und lächelte. Es war das gleiche hinreißende Lächeln, das sie vorhin auch den Männern geschenkt hatte, die sie zum Tanzen aufgefordert hatten. Ein Lächeln, das gleichzeitig bezaubernd und seltsam nachsichtig wirkte.

„Ich werde zuerst hinausgehen, okay?“, sagte sie leise und berührte erneut ihr Haar. Es war eine fahrige Bewegung, beinahe hastig – und es war unverkennbar, dass sie so schnell wie nur möglich von ihm fort wollte.

Er musste sich räuspern, fühlte sich zurückgewiesen, vielleicht sogar verletzt. Im nächsten Augenblick war sie auch schon verschwunden und er stand allein in dem dunklen und leeren Raum. Ein bitterer Geschmack machte sich in seinem Mund breit, der einen Anflug von Übelkeit mit sich brachte. Wie hatte ihm das nur passieren können?

Er sah sie nicht wieder. Philip konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie nur Minuten später überall gesucht hatte. Er war durch die Säle geschlichen, wie ein Panther auf der Jagd hatte er nach ihr Ausschau gehalten, aber sie war verschwunden geblieben – bis heute.

Heidewinter

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