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Wechselbad der Gefühle

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Der schon recht warme Spätsommerwind dieses sonnigen Vormittages zerrte wild an meinen Haaren und ließ sie wie eine Fahne flattern, die hin und her peitscht, als wollte sie in die Freiheit entlassen werden. Ich ließ den Wind über meinen Hals streichen, in meine geöffnete Jacke gleiten, unter mein Shirt schlüpfen, bis er durch jede Faser meines Körpers zu dringen schien. Obwohl ich trotzdem ein wenig zu frösteln begann, hielt ich stand. Ich fühlte das pure Leben. Es erschien mir in diesem Moment so intensiv wie nie. Dieses Gefühl wollte ich nicht zerstören. Der Genuss war einfach größer. Dass ich mich in einer Höhe von über dreihundert Metern auf dem Empire State Building befand, steigerte meine Euphorie.

Mit den Händen auf der grauen Steinmauer der Besucherplattform abgestützt, wippte ich auf den Zehenspitzen und versuchte, dem Rausch der Tiefe zu widerstehen. Unter mir breitete sich die endlos erscheinende Stadt aus. Der Straßenlärm hatte sich zu einem einzigen, undefinierbaren, dumpfen Dauerton vereinigt, der fast etwas Hypnotisches hatte. So könnte ich ewig hier stehen, dachte ich. Ohne Scheu gurrte dicht neben mir, auf dem Stein hockend, eine Taube. Sie interessierte sich nicht für diesen unglaublichen Ausblick, sondern nur für die Sandwichkrümel der Touristen. Ich beneidete sie, als sie abhob und mit wenigen Flügelschlägen überaus elegante Flugmanöver ausführte. Offenbar war die Thermik hier sehr stark. Eine Weile noch folgte ich ihr mit den Augen, dann schloss ich sie und konzentrierte mich ganz auf das Gefühl, ein Teil dieses Universums zu sein. Hier, so weit oben über der Stadt, zu stehen, war ein erhabenes Gefühl. Ich fühlte mich stark und lebendig und glaubte voller Intensität daran, dass mir nichts und niemand in diesem Moment etwas anhaben könnte. Was, wenn ich die Schutzgitter überwinden und mich einfach fallen lassen würde … In Gedanken breitete ich meine Arme aus.

Dann würde ich dich auffangen, schien mir eine Stimme zuzuflüstern.

»Was?« Verwirrt drehte ich mich um.

Charlie hüpfte gut gelaunt auf mich zu. »Hey, Träumerin, können wir mal langsam weiter?«

»Äh … ja klar.«

Unsicher lauschte ich in mich hinein. Die Stimme war so deutlich gewesen. Aber Charlie konnte es nicht gewesen sein und auch niemand sonst stand so nah bei mir. Eine Bö schoss singend an meinem Ohr entlang und schleuderte mein Haar nach vorn. Es war nur der Wind, beruhigte ich mich. Kurz erschaudernd folgte ich Charlie zum Lift.

Er raste nach unten und spülte uns wieder auf die Straße, rein ins quirlige, lärmende New York. Ich blickte mich um und versuchte hoch oben die Plattform auszumachen, auf der wir eben noch gestanden hatten. Nachdem ich anfänglich fast eine Genickstarre bekommen hatte, schaffte ich es mittlerweile, die gewaltigen Wolkenkratzer als normale Kulisse zu betrachten. Die endlosen Straßenschluchten, die Hupkonzerte und die Menschenmassen, die sich selbst von einer roten Fußgängerampel nicht stoppen ließen, waren mir schnell vertraut geworden. Vergnügt stiefelten wir die Treppe hinunter in den Untergrund und sprangen in die nächste Bahn.

Konzentriert studierte Charlie den U-Bahn-Plan, um noch einmal die optimale Verbindung zu überprüfen. Sie murmelte etwas, aber ich hörte nicht mehr hin. Regungslos stand ich im Gang, eine Hand fest um die Haltestange gekrallt, die Augen starr geradeaus gerichtet.

Am anderen Ende unseres Waggons stand ein Junge, genauso regungslos wie ich, und diesmal sah er mich direkt an. Es war der Junge aus dem Museum. Ich hätte ihn überall wiedererkannt. Sofort war der Kloß im Hals wieder da. Sein ebenmäßiges Gesicht, mit diesen Augen, in die man eintauchen wollte, stach aus der Menge heraus wie ein helles Licht. Seine braunen, fast schulterlangen Haare waren perfekt ungeordnet. Er trug eine dunkle Jeans, die ihm eine gute Nummer zu groß war, und eine dunkelgraue Kapuzenjacke mit Reißverschluss, die er offen über einem hellgrauen T-Shirt mit V-Ausschnitt trug. Er war groß und irgendwie schlaksig, aber ich konnte die Konturen eines trainierten Körpers unter seinem T-Shirt erahnen.

Eine innere Unruhe, die ich so noch nie gespürt hatte, packte mich, als ob sämtliche Moleküle meines Körpers durcheinanderwirbelten und ihren Platz nicht mehr finden konnten. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Mist, dachte ich, man sieht es mir an, ich bin bestimmt knallrot im Gesicht. Sosehr ich mich bemühte, äußerlich cool zu wirken, während gigantische Tornados in meinem Innersten wirbelten, es war nahezu aussichtslos. Ich stand da wie gemeißelt und konnte meine Augen nicht in der vorgeschriebenen Zeit, die ein Desinteresse dokumentiert hätte, von diesem mich wieder magisch anziehenden Gesicht lösen.

Doch auch er schaute nicht weg. In meinem Kopf drehte sich alles. Warum lächelte ich nicht wenigstens, um die Peinlichkeit, ertappt worden zu sein, zu überspielen, mich dann wegzudrehen und noch einen würdevollen Abgang hinzulegen. Er wird bestimmt hundertfach von schmachtenden Blicken verfolgt, so wie er aussieht, sagte ich mir und ärgerte mich einen kurzen Moment, dass auch ich in seinem Netz zappelte. Vielleicht war er ja total arrogant und machte sich über all die entflammten Mädels lustig. Aber das sollte mir nicht passieren, die mit Stolz sagen konnte, nicht auf irgendwelche Schönlinge hereinzufallen oder ihnen jemals hinterherzugeiern. Sein Fangstrahl hatte mich dennoch fest im Griff. Es gelang mir nicht, wegzusehen. Meine Gedanken rasten durcheinander, während ich nur dastand und vergeblich versuchte, meine Gesichtszüge zu entkrampfen.

Merkwürdigerweise wirkte er jedoch überhaupt nicht überheblich, eher, als sei er sich seiner Schönheit gar nicht bewusst. Er schaute warm und freundlich mit offenem, festem, interessiertem Blick. Es schien, als ob sich sein Gesicht noch tiefer in mein Innerstes einzubrennen versuchte, falls das überhaupt möglich war.

Bildete ich mir das alles nur ein? Konnte es sein, dass er wirklich mich meinte, oder hatte er vielleicht doch jemanden direkt hinter mir im Visier? Wahrscheinlich ist es so, versuchte ich meinen hämmernden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Ich schaffte es schließlich, den Blick niederzuschlagen und endlich wieder einen Atemzug zu nehmen. Doch ich musste wieder aufblicken und sah, erneut den Atem anhaltend, wie das längst gespeicherte Gesicht mit dem unwesentlichen Anhängsel dieses schlanken, sich anmutig bewegenden Körpers – Hab ich wirklich anmutig gedacht in Zusammenhang mit einem Jungen? – auf mich zukam.

Seine wunderschönen braunen Augen waren, es war unverkennbar, auf mich geheftet. Meine Gedanken begannen wieder sich zu überschlagen. Wenn er mich nun ansprechen würde, was sollte ich dann bloß sagen, ohne profan rüberzukommen, ohne diesen Moment kaputt zu machen? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und der Gedanke an Flucht meldete sich. Manchmal ist es besser, einen perfekten Moment einzufangen und wie einen Schatz mit sich fortzunehmen. Nur ein einziges dumm gewähltes Wort oder eine Geste konnte alles wieder zerstören und so bliebe wenigstens die Illusion, einen perfekten Menschen getroffen zu haben, von dem man mit all den ihm angedichteten Wunschattributen träumen konnte. Aber meine Füße waren wie am Boden festgeklebt. Ich verharrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht, vom Licht geblendet und zu keiner Bewegung mehr fähig. Und hätte ich einen Fuß vom Boden lösen können, wären mir ohne Zweifel die Beine weggesackt. Nur mein verkrampfter Klammergriff um die Haltestange verhinderte das in diesem Moment. Ich hatte das verstörende Gefühl, gefunden zu haben, was ich unbewusst schon immer gesucht hatte.

Plötzlich wurde ich am Arm gepackt.

»Val, hörst du nicht? Wir müssen hier raus, das ist unsere Station. Los!«

Bevor ich protestieren konnte, hatte sie mich schon aus dem Zug gezerrt und die Türen schlossen sich augenblicklich hinter uns. Sein Kopf flog herum, unsere Augenpaare trafen sich noch einmal und ich glaubte, eine maßlose Enttäuschung in seinem Blick erkannt zu haben. Mir ging es nicht anders. Als hätte mich eine Zeitmaschine aus dem Waggon katapultiert. Eben noch im Fegefeuer glühendster Gefühle, stand ich jetzt verloren auf dem Bahnsteig und schaute hilflos dem davonbrausenden Zug nach. Mein Magen verkrampfte sich, als mir allmählich schmerzlich bewusst wurde, dass dies einer der berühmten verstrichenen Momente war, in dem man nicht gehandelt hat und der nie wiederkam. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass ich ihn in dieser riesigen Stadt noch einmal treffen würde. Sich zweimal zu sehen, war schon ein Riesenzufall. Ich musste mich der schmerzlichen Wahrheit stellen. Das war’s, Chance vorbei.

Eine unsagbare Leere ergriff mich. Es tat so weh.

Meine Enttäuschung wich der Wut, die langsam in mir aufkeimte. Ich war so blöd. Stocksteif wie ein Fisch hatte ich dagestanden. Oouhhh! Ich ballte meine Fäuste und stampfte leicht mit dem Fuß auf. Wenn ich wenigstens gelächelt hätte. Vielleicht hätte er sich motiviert gefühlt und ein bisschen mehr beeilt und vielleicht … Ach, es ist müßig, darüber nachzudenken, dachte ich niedergeschlagen.

Charlie, die wie immer Richtung und Schritttempo bestimmte, war bereits einige Meter vorausgelaufen, bis sie mein Fehlen bemerkte und mit fragendem Blick zurückkam. »Hey, wo bleibst du?«, rief sie, als sie auf mich zukam. »Komm schon! Ich fing gerade an, ein fremdes Mädchen vollzuquatschen, weil ich dachte, du wärst es.«

Ich sah durch sie hindurch.

»Sag mal, träumst du? Planet Erde an Val!« Während sie das sagte, wischte sie mit ihrer Handfläche zweimal dicht an meinem Gesicht vorbei und schaute mich verständnislos an, als ich nicht mal zuckte.

»Glaubst du an die vollkommene Anziehungskraft zweier Menschen, so was wie die berühmte Liebe auf den ersten Blick?«, fragte ich sie kraftlos.

»Ähm, wie kommst du denn jetzt darauf?«, fragte sie, die Brauen eng zusammenziehend.

»Es könnte sein, dass mir das gerade passiert ist.« Meine Schultern fühlten sich so müde an, als wären sie mit Gewichten beschwert.

»Wie jetzt. Jetzt eben?« Charlies Stimme hob sich in einen Sopran-Sing-Sang. Sie schaute sich in alle Richtungen um.

»Im Zug eben«, seufzte ich mit gebrochener Stimme. »Ich schwöre dir, so etwas, wie das eben, habe ich noch nie gefühlt. Ich bin total neben der Spur.«

Ich spürte, wie mein ganzer Körper zitterte, als hätte mich eine Kaltfront erwischt. Charlie nahm meine Hand und strich beruhigend darüber, während sie mit erschrecktem Blick in meinen Augen zu lesen versuchte.

»Oh Mann, Süße, ich hab ja überhaupt nichts mitgekriegt.«

»Und was mich jetzt total fertigmacht …«, stammelte ich, während ich ihr nervös meine Hand entzog. »Wenn er derjenige war, der Richtige für mich, mein Seelenverwandter – es fühlte sich nämlich so an –, dann hab ich’s vergeigt. Er ist weg und ich werde mich immer fragen, was gewesen wäre, wenn …«

»Mensch, Val, dich hat’s ja echt erwischt.« Charlie machte ein entsetztes Gesicht.

»Hättest du mich nicht aus dem Zug gezerrt, hätten wir hier nicht rausgemusst …«, sinnierte ich weiter, traurig den Betonboden unter mir anstarrend.

Sie zuckte zusammen und verzog schuldbewusst den Mund. »Oh scheiße, hab ich’s vermasselt?«, zischte sie durch die Zähne. »Sorry. Ich wusste es doch nicht. Warum hast du nicht irgendwas gesagt?«

»Ich konnte nicht.« Ich schüttelte meinen geneigten Kopf. Enttäuschung und Wut stritten sich um die Vorherrschaft.

»Scheiß auf die Station«, sagte Charlie grimmig. »Ich wäre mit dir stundenlang U-Bahn gefahren, wenn ich es geahnt hätte. Wirklich, das tut mir so unendlich leid.« Tröstend berührte sie meine Schulter und suchte meinen Blick. »Komm her«, sagte sie, schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich.

Das war jetzt der Moment, entweder loszuheulen wie ein Schlosshund oder stark zu sein und es herunterzuschlucken. Normalerweise wäre Losheulen meine Wahl gewesen, aber meine Traurigkeit hatte eine ungewohnte Dimension erreicht, die nur noch eine hoffnungslose Leere hinterließ.

Ich bemerkte die starrenden Blicke der zur Bahn eilenden Menschen und löste mich sanft von Charlie.

»Du bist mir bitte nicht böse, oder?« Sie war immer noch bestürzt.

Mein Verstand sagte mir, dass ich mich zwingen sollte, loszulassen, auch wenn mein Herz dagegen anschrie. Es war gelaufen. Mit einem langen Atemzug sog ich die Luft tief durch die Nase ein, um sie mit einem Seufzer wieder auszustoßen. Natürlich war es nicht fair, ihr das Gefühl zu geben, schuld zu sein. Hätte ich ihr doch bloß einen kleinen Hinweis gegeben. Aber wie, als erstarrte Marmorsäule? Mühsam rang ich mir ein kleines Lächeln ab.

»Nein, ich bin dir nicht böse. Ich bin auf mich sauer. Ich hab mich total bescheuert verhalten.« Ich schüttelte wieder den Kopf und biss die Zähne aufeinander, bis sie fast knirschten. »Er war unglaublich. Wie er mich angesehen hat!« Eine Gänsehaut rieselte über meine Arme. »Ich hätte ihn so wahnsinnig gern kennengelernt. Obwohl er mir die wackeligsten Beine meines Lebens beschert hat … oder gerade deshalb.« Ich stöhnte laut auf. »Und es macht mich völlig fertig, dass er jetzt weg ist, unerreichbar.« Die Machtlosigkeit war unerträglich. »Es ist so gemein. Wäre ich ihm gar nicht begegnet, hätte ich jetzt nicht das Gefühl, etwas verloren zu haben. Ach, Charlie, er sah unglaublich aus. Das allererste Mal gefällt mir ein Junge zu hundert Prozent und dann löst er sich wieder in Luft auf.« Meine Stimme überschlug sich fast.

Charlie stand mit offenem Mund vor mir. Mich selbst verblüffte diese emotionale Entladung allerdings am meisten.

»Und das Irrste ist, dass ich ihn gestern schon einmal gesehen habe, im Museum.«

»Echt? Das gibt es doch gar nicht.«

»Doch, es ist wahr.«

»Wow«, war ihr einsilbiger Kommentar.

»Ja, wow.« Ich atmete erneut tief ein und hörbar aus und wiederholte das Ganze noch einmal. Dabei drückte ich mit meinen ausgebreiteten Handflächen nach unten, als könnte ich damit die Unruhe zurückdrängen. Irgendwo hatte ich aufgeschnappt, dass das den Puls normalisieren konnte.

Charlie hakte sich bei mir ein und legte den Kopf an meine Schulter, während sie liebevoll über meinen Arm strich. »Was kann ich tun, damit du nicht mehr so traurig bist?«, säuselte sie und schlug ihre Augen groß auf.

Wortlos und leer sah ich sie an. Sie konnte nicht ermessen, wie weltbewegend diese Begegnung für mich war. Wie sollte sie auch? Ich verstand es selbst kaum. Wie kann man so etwas für jemanden fühlen, den man überhaupt nicht kennt?

Charlie presste die Lippen zusammen. Dann stieß sie einen Seufzer aus. »Weißt du, manchmal verschlimmert eine verpasste Gelegenheit die Gefühle sehr irrational. Das ist mir auch schon mit einem Typen passiert. Später habe ich ihn dann doch noch kennengelernt und er hatte eine so nervige Stimme, dass sie mich total abgetörnt hat. Das ging gar nicht. Da nutzte dann auch das Aussehen nichts mehr.«

Ihr Versuch, mich zu beschwichtigen, ging ins Leere. Ich sah sie zweifelnd an. Das konnte ich mir bei ihm beim besten Willen nicht vorstellen.

Sie sah mich beschwörend an. »Man neigt dazu, Jungs zu glorifizieren, die man nur vom Sehen kennt. Ich will ihn dir auf keinen Fall schlechtreden, aber du musst die Möglichkeit wenigstens in Betracht ziehen.«

»Ich weiß nicht …«

»Hat er gelacht?«

»Nein.«

»Vielleicht hat er ganz schlechte Zähne.«

»Nun reicht’s, Charlie.« Ich entwand mich verärgert ihrer Umklammerung. Das war ein Angriff auf meine wunderschöne Statue auf dem hohen Podest.

»Entschuldige. War nicht so gemeint«, beeilte sie sich zu sagen. Dabei zog sie einen Mundwinkel stark nach unten. »Wirklich nicht.«

Ich ahnte, dass Charlie alles nur für eine heftige Schwärmerei hielt, die sich bald wieder legen würde. Tief in meinem Inneren fühlte ich aber, dass dies hier nicht so sein würde. Wieder erfasste eine Welle des Schmerzes meinen Brustkorb. Ich wollte kein Spielverderber sein, aber auf einmal machte mir das alles hier keinen Spaß mehr. Starr wie eine Marionette sah ich geradeaus ins Leere.

»Es bringt ja sowieso nichts. Die Sache ist gegessen.« Resignierend atmete ich einmal kurz durch und zwang mich zu einem gequälten Lächeln. »Du wolltest doch noch shoppen. Vielleicht ist das jetzt genau das Richtige.« Wenn sie mit den Klamotten beschäftigt war, würde ich etwas Zeit haben, wieder in die Spur zu kommen. Ich litt sowieso lieber im Stillen.

»Möchtest du wirklich?«, fragte sie skeptisch.

»Ja, wirklich«, bestätigte ich müde.

»Na gut.« Noch nicht recht überzeugt, sah sie mich von der Seite an und ich versuchte, meine Gesichtsmuskeln zu lockern.

Je weiter wir die Station hinter uns ließen, desto mehr kam mir die Erkenntnis, dass ich nur eine Chance hatte, das Ganze seelisch zu überleben, nämlich indem ich dieses unerfüllte, schmerzliche Gefühl nach tief unten in mein Gedankenarchiv verbannte. Weiter darüber nachzudenken, hätte mich an den Rand des Wahnsinns gebracht.

Charlie fand sehr schnell ein Objekt ihrer Begierde. Es war ein edles, kleines Designerkaufhaus und weckte augenblicklich ihr Jagdfieber. Sie hüpfte begeistert durch die Gänge und musterte verzückt die neuen Kollektionen, während ich verdrossen hinterherschlurfte. Als sie begann, die ersten Teile über ihren Arm zu laden, wusste ich, dass es ratsam war, mir eine bequeme Sitzgelegenheit zu suchen. Mir selbst war nicht danach, etwas anzuprobieren. Es war sowieso nicht meine Preisklasse. Während sie mit einer Auswahl von skurrilen Teilen in der Umkleidekabine verschwand, sank ich in einen kantigen, dunkelgrauen Ledersessel neben einer der schwarz gestrichenen, antiken Eisensäulen, die eine Deckenkonstruktion aus naturbraunen Holzbalken stützten. Vor mich hinträumend, verlor sich mein Blick in den an den Dachbalken baumelnden ungewöhnlichen Lampen aus verwobenen, breiten Plastikbändern. Wer bist du, wo bist du?

Charlie riss mich alle paar Minuten aus den Gedanken, wenn sie, meine Meinung einfordernd, wie ein Model über die Hüften streichend, an mir vorbeistakste. Ich bestätigte, dass viele der vorgeführten Minikleider aus kreischend bunten Stoffen mit kunstvoll eingefügten Blicköffnungen sehr gut an ihr aussahen, gab aber zu bedenken, dass sie durchaus in der Lage waren, in unserer eher konservativen Region einen Auffahrunfall zu verursachen. Bei einigen mit abstrakten Mustern und Formen bedruckten, schwindelerregenden Teilen zeigte ich jedoch ganz offen meine Ablehnung.

Denkst du auch gerade an mich?

»Hey!« Das Fashion Victim war in ein weiteres ein Verkehrschaos verursachendes Kleid geschlüpft und holte mich mit energischem Weckruf abrupt in die Realität zurück. »Was sagst du zu dem hier?«

»Gleicher Kommentar«, sagte ich schulterzuckend. »Es steht dir super, gar keine Frage. Vielleicht etwas schrill, aber für London passt es vielleicht.« Es war mir so egal in diesem Moment.

»Ja, ist wahrscheinlich nur was für London«, murmelte sie.

Die nächsten Teile waren noch furchtbarer. Ich sagte es ihr nun doch nachdrücklich, weil ich es als meine Pflicht ansah, sie vor üblen Geschmacksverirrungen zu retten, denn der Hang zu schrägen Klamotten war das einzige Erbgut ihrer Mutter, das leider hin und wieder mal gnadenlos durchschlug. Trotzdem entstand vor der Kabine ein kleiner Stapel. Wie meistens, würde sie einen Teil der Anschaffungen später bereuen.

Ich bediente mich am Wasserspender neben mir und blätterte in einem Interieur-Magazin, ohne etwas davon aufzunehmen. Ohne zu zögern, hätte ich mit der nächsten Bahn hinterherfahren sollen. Vielleicht ist er ausgestiegen und hat gewartet, sagte ich mir und fühlte mich dabei noch deprimierter. Ich würde es nie erfahren. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb musste es mir gelingen, sein Bild abzuschütteln.

»Los, Val, du musst unbedingt auch noch etwas finden«, versuchte Charlie mich zu animieren, was eher den Verdacht in mir schürte, sie wollte mich von den Kabinen weglocken, um einige der grenzwertigen Teile an mir vorbei zur Kasse zu schmuggeln.

Ich wälzte mich aus dem tiefen Sitz. »Ich kann ja noch mal gucken«, meinte ich und warf den Pappbecher in einen schwarzlackierten keilförmigen Abfalleimer. Aus dem Augenwinkel sah ich Charlie mit einem Arm voller Klamotten zur Kasse hechten.

Zwei Tüten schwenkend, kam sie mir kurz darauf entgegen. »Jetzt brauche ich einen Kaffee. Aber Lunch fällt aus. Die Kleider saßen ganz schön eng.«

»Gute Idee«, murmelte ich.

»Was? Dass ich auf den Lunch verzichte?« Ihre Augen funkelten lauernd.

»Nein. Ich meine den Kaffee.«

Das von Charlie ausgewählte Café erinnerte mich ein wenig an die Brasserie, die ich immer mit Dad besucht hatte, wenn ich bei ihm in Paris war. An den mit Stuck verzierten Decken hingen große, antike Lampen aus marmoriertem Glas, die ein warmes Licht auf die mit dunkelrotem Lederimitat bezogenen Sitzbänke abstrahlten. Die Rückenlehnen aller Sitzelemente waren zu den Durchgängen hin mit glänzenden Messingstangen verziert. Riesige Spiegel an der Rückwand des mit Säulen verzierten Tresens und auf den viereckigen Stützpfeilern im Raum ließen das Lokal doppelt so groß erscheinen, als es war. Überall standen große, bauchige Vasen mit langen Gladiolen in allen Farben. Um zu dem letzten freien, winzigen Tisch am Fenster zu gelangen, mussten wir über zahlreiche Füße steigen. Ich bestellte Kaffee und Wasser, während Charlie die Beute in den Einkaufstüten einer kritischen Nachkontrolle unterzog. Von stylish bis gruselig war alles dabei.

»Val, du musst mich auch mal bremsen«, maulte sie mit einem reuigen Blick auf ein besonders übles Exemplar.

Aha. Ich schmunzelte gequält. Das ging schneller, als ich dachte. Aber dass ich dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, ging zu weit. »Entschuldige mal«, tat ich entrüstet, »das da«, und ich zeigte mit spitzem Finger auf das Ungetüm, »hast du mir ja nicht mal vorgeführt.«

»Weil ich schon wusste, was du sagen würdest«, schmollte sie.

»Eben. Und über das hier«, ich zeigte auf eine schwarz-weiße Augenbeleidigung ersten Ranges, »hatte ich dir deutlich meine ehrliche Meinung gesagt.«

»Ich wollte es unbedingt. Es ist einmalig«, verteidigte sie das Shirt und betrachtete es von allen Seiten, als würde der Fetzen dann schöner werden.

Zwei wie Banker aussehende Männer am Nachbartisch, die sich neugierig umgedreht hatten, wandten sich nun mit blinzelnden Augen ab, als wären sie geblendet worden.

»Schade um das Geld«, grummelte Charlie und ich nickte beipflichtend. Dann mussten wir beide schallend lachen. Es war sehr befreiend. Der Klammergriff um mein Herz lockerte sich etwas. Während sie glucksend die Teile wieder zusammenfaltete und in den Tüten verstaute, empfand ich ein wärmendes Gefühl, den wundervollen Trost ihrer Freundschaft.

»Wir sollten noch mal im Dezember herkommen, wenn die Weihnachtsbeleuchtung angebracht ist. Das soll unheimlich toll sein«, meinte Charlie nun mit einem spitzbübischen Lächeln.

Ich zögerte mit der Antwort. Nichts wäre mir lieber gewesen, da mir der Gedanke an unsere Abreise Magenschmerzen verursachte. Aber ich würde das Geld dafür nicht haben. »Ja«, seufzte ich, »ist sicher romantisch. Wolltest du das nicht mit Tobey machen?«

Gedankenvoll blickte sie aus dem Fenster. »Schon, ja, sicher.« Ihr Brustkorb hob sich, als sie tief einatmete. »Mal sehen, wie sich alles entwickelt.«

Besorgt schaute ich sie an.

Sie fing meinen fragenden Blick auf, lächelte augenblicklich und warf ihre Haare nach hinten. »Keine Tobey-Analysen heute. Da tun sich nämlich Abgründe auf«, meinte sie und zog dabei die rechte Braue über ihren blitzenden blaugrauen Augen weit nach oben, um mir zu verdeutlichen, dass es nicht so ernst gemeint war. Sie war der einzige Mensch, den ich kannte, der es schaffte, die beiden Hälften der Gesichtsmuskulatur unabhängig voneinander zu bewegen.

Ich blieb skeptisch. »Du weißt, du kannst immer alles bei mir loswerden.«

»Ja, das weiß ich, und das ist lieb von dir, aber ich hab nur rumgeflachst. Es ist alles okay.« Wie zur Bestätigung setzte sie ein strahlendes Lächeln auf.

»Na gut«, sagte ich und leerte meine Tasse in einem Zug. »Wollen wir dann gehen? Ich möchte unbedingt noch mal in den Central Park und auf einen Haselnusskaffee ins Boathouse. Keira hat davon geschwärmt. Vielleicht können wir uns auch ein Ruderboot mieten, was meinst du?«

»Perfekt«, bestätigte Charlie.

Das Knarren der Holzruder in den eisernen Dollen durchschnitt die Ruhe, als das klobige Boot, durch unsere Muskelkraft bewegt, erstaunlich elegant über das spiegelglatte Wasser des großen Sees glitt. Ich fühlte mich so weit weg von der Stadt, als wären wir aufs Land gefahren. Der Central Park hatte die Eigenschaft, den Verkehrslärm schon nach wenigen zurückgelegten Schritten komplett zu verschlucken, wie ich verwundert bemerkt hatte. Es war ein unglaublich friedlicher Fleck in dieser turbulenten Stadt.

Einmal glaubte ich unvermittelt, die verschwommene Spiegelung eines Gesichtes auf der Wasseroberfläche zu sehen, doch im nächsten Moment verwischte mein eintauchendes Ruder das Bild. Wir arbeiteten uns zur Mitte des Sees vor und ließen uns dann einfach eine Weile treiben. Charlie legte sich quer über die Bank und schaute in den blauen Himmel, während ich die Umgebung mit den Augen abtastete in der verrückten Hoffnung, das einzige Gesicht zu erspähen, das ich sehnsüchtig herbeiwünschte. Als wir fast mit einem anderen Boot kollidierten, dessen Insassen genauso unaufmerksam und verträumt dahintrieben, setzten wir wieder unsere Ruder ein, um am sicheren Land den von Keira hochgelobten Haselnuss-Cappuccino auf der Terrasse des Boathouses einzunehmen.

Schließlich wurde es Zeit, an Abschied zu denken. Mein Magen rebellierte dagegen, aber es half nichts. Widerstrebend ging ich neben Charlie in Richtung Parkausgang, als sie plötzlich über eine nervige Begleiterscheinung des Cappuccino- und Wasserkonsums stöhnte. »Mist, wäre ich doch vorhin noch mal zum Klo gegangen«, ärgerte sie sich. »Okay, ich suche kurz die Keramikabteilung auf und du wartest hier auf mich, ja? Rühr dich nicht von der Stelle. Und lass dich nicht anquatschen«, grinste sie breit, eine Augenbraue zweimal hintereinander kurz hochschiebend.

»Kommt drauf an«, sagte ich wahrheitsgemäß.

Sie hatte mir schon ihre Einkaufstaschen vor die Füße gestellt und ihr welliges, blondes Haar wippte auf ihren Schultern auf und ab, als sie mit energischen Schritten in der ausgeschilderten Richtung ihres Anliegens entschwand.

Ich sah mich um. Kaum jemand war hier in Eile. Die meisten Menschen schlenderten entspannt herum oder hatten es sich auf Bänken gemütlich gemacht, um Sandwiches zu verdrücken oder in der Sonne zu dösen. Eine weiße Kutsche mit einem majestätisch trabenden schwarzen Pferd und einem adrett gekleideten Kutscher auf dem Bock trug ein blondes Pärchen über die asphaltierten Wege, weiter hinten kamen Rollerskater entgegen. Eine Frau in meiner Nähe fütterte die grauen, zutraulichen Eichhörnchen, die hier in Scharen herumliefen, und kicherte belustigt, als eines der Tiere sogar an ihrer Hose hinaufzuklettern versuchte. Auf einmal schrie sie spitz auf. Ein besonders kräftiges Exemplar mit einem Nacken wie ein Ringer hatte sie offenbar in den Finger gebissen, als sie ihm eine Nuss angeboten hatte. Während die Frau sich den Finger mit einem Taschentuch verband, stand es immer noch selbstbewusst und angriffslustig vor ihr, sodass die Frau, unflätige Worte ausstoßend, lieber das Weite suchte. Als ich darüber nachdachte, dass es vielleicht die Tollwut hatte und die Frau besser einen Arzt aufsuchen sollte, streifte mich ein kühler Luftzug.

Das Sonnenlicht wurde plötzlich fast unerträglich grell. Die Bewegungen der Leute schienen sich zu verlangsamen und alles wurde weißlich gelb, wie auf einem überbelichteten Foto. Die Luft flirrte regelrecht und der Luftzug schien einen dunklen Ton mit sich zu bringen. Es war, als hörte ich mein eigenes Blut rauschen. Spielte mein Kreislauf wieder verrückt? Bestimmt hatte ich wieder zu wenig Wasser getrunken. Mit der rechten Hand tastete ich in meiner Tasche nach der Sonnenbrille, während ich mich mit der linken vor der extremen Helligkeit zu schützen versuchte. Dann wurde es wieder angenehmer, als hätte jemand das Licht gedimmt. Nur das Rauschen in meinem Kopf blieb, wenn auch gemindert, als permanenter Hintergrundton bestehen. Ich hob meine Hand mit der ausgeklappten Sonnenbrille Richtung Augen, ließ sie aber im selben Moment wieder sinken.

Wie paralysiert verharrte ich in dieser Haltung; meine Augen hatten etwas entdeckt, das mich augenblicklich in eine schon vertraute Starre versetzte. Über viele Meter entfernt, am Rande des Weges, wo die Rollerskater mit fließenden Bewegungen entlanggefegt waren, stand der Junge aus der U-Bahn. Ein fast unerträgliches Hochgefühl drohte meinen Körper zu sprengen. So viele Zufälle gibt es doch gar nicht, dachte ich aufgewühlt. War er mir gefolgt? Nein, unmöglich. Ich hatte ihn im Zug davonfahren gesehen. Selbst wenn er an der nächsten Station ausgestiegen war, hätte er mich nicht wiederfinden können. Oder doch? Mein Herz klopfte wild bis zum Hals. Die unterschwellige, schmerzvolle Hoffnungslosigkeit der vergangenen Stunden löste sich auf. Unbändige Freude stieg in mir auf. Dreimal. Und das in einer Riesenstadt. Ich sollte ihn wiedertreffen. Das war ein Zeichen.

Ich hatte seinen wunderschönen Anblick inzwischen offenbar schon etwas verarbeitet, denn immerhin gelang es mir jetzt, zu atmen. Wieder schaute er zu mir herüber, aber diesmal lächelte er nicht. Er sah irgendwie traurig aus, seine Schultern hingen kraftlos herunter, die Jacke hatte er um die Hüften geschlungen.

Ja, es musste Schicksal sein, ich war bereit, daran zu glauben. Und diesmal würde ich es besser machen. Was sollte schon passieren? Entweder bekäme ich einen Korb oder eine Telefonnummer. Ich nahm all meinen Mut zusammen und machte den ersten Schritt auf ihn zu.

Er kam mir zuvor. Ohne den Blick abzuwenden, setzte er sich langsam in Bewegung, um den Weg zu überqueren. Er wirkte fast apathisch, als er mehrere seinen Weg kreuzende Jogger und eine herannahende von einem großen weißen Pferd gezogen Kutsche abwartete.

Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Ich erschrak fürchterlich, genau wie das Kutschpferd. In wilder Panik stieg es vor dem Jungen hoch und traf ihn mit dem wild schlagenden Vorderhuf am Kopf, sodass er zu Boden geschmettert wurde. Ich hielt die Luft an und ein Schrei erstickte in meiner Kehle. Das Pferd galoppierte mit lautem Getrampel davon, im Schlepptau die Kutsche, mit einem kreischenden asiatischen Pärchen besetzt, das vor Angst in den Fußraum gerutscht war, da ein Abspringen unmöglich war. Es gelang dem Kutscher erst nach einer langen Strecke, das durchgedrehte Pferd wieder unter Kontrolle zu bringen.

Mein Blick blieb wie gelähmt auf dem Körper am Boden haften. Leute schrien wild durcheinander, Frauen schlugen ihre Hände vor das Gesicht. Reglos lag der eben noch so präsente, gesunde, junge Körper des schönen Fremden auf dem grauen Asphalt. Ich war nicht in der Lage, sofort zu reagieren. Zu groß war der Schock. Auch schien alles in Sekundenschnelle zu passieren, was eine Reaktion nahezu unmöglich machte.

Fast zeitgleich hatte sich auf Höhe der am Weg stehenden Parkbank ein Tumult entwickelt. Zwei Männer packten eine verwirrt aussehende Frau und hielten sie an beiden Armen fest. Sie entrissen ihr irgendwelche stabähnlichen Teile und schrien auf sie ein. Offenbar hatte sie mit diesen Dingern diesen Wahnsinnsknall erzeugt, der wahrscheinlich den Tauben gelten sollte, denn sie hörte nicht auf, nach ihnen zu treten, sobald eine nur in die Nähe kam. Die ist ja völlig irre, dachte ich, am ganzen Körper zitternd. Über einer weit ausgestellten blauen Jogginghose trug sie ein geblümtes, kittelartiges Kleid. Ihre fast weißen Haare fielen ihr ungekämmt ins Gesicht und die ganze Zeit über hielt sie den Mund weit geöffnet, ohne einen Laut von sich zu geben.

Als ich mich aus meiner Starre zu lösen versuchte, um zu dem verunglückten Jungen zu laufen, schoben sich in Windeseile aus dem Nichts aufgetauchte Gaffer in mein Blickfeld und bildeten eine Art Festung aus Körpern. Nun geschah alles wie im Zeitraffer. Die Männer zerrten die alte Frau in Richtung eines eintreffenden Streifenwagens. Fast zeitgleich kam der Rettungswagen an. Der Wall der Körper lichtete sich schwerfällig für eine schmale Gasse, als die Rettungssanitäter heraneilten. So konnte ich noch einen kurzen Blick auf den leblos daliegenden Körper werfen, bevor sich jemand über ihn beugte, um Erste Hilfe zu leisten. Ich empfand einen immensen Schmerz. Ich kannte ihn doch eigentlich gar nicht und doch war es so, als hätte man mir gerade das Herz bei lebendigem Leibe aus dem Körper gerissen.

Die Blicke der Sanitäter waren gehetzt und besorgt und gaben mir nicht den gewünschten Funken Hoffnung, dass er vielleicht noch einmal Glück gehabt hatte. Ich war bis ins Mark erschüttert, stand einfach nur da, wie in Trance. Alles kam mir so unwirklich vor, als würde es sich nur auf einer großen Leinwand vor mir abspielen. Als ich sah, wie der Rettungswagen davonbrauste, durchzuckte es mich plötzlich wie ein Blitz. Ich war schuld! Ich hatte sein Schicksal besiegelt. Hätte ich ihn nicht angestarrt und hätte es somit diesen magischen Blickkontakt, der für mich eindeutig eine gewisse Art von Beziehung hergestellt hatte, nicht gegeben, wäre er wahrscheinlich nicht in meine Richtung gegangen und das panische Pferd hätte ihn demzufolge auch nicht erwischt. Mir war hundeelend zumute. Ich hätte mich am liebsten auf der Stelle nach Hause gebeamt. Wie zur Salzsäule erstarrt stand ich immer noch auf derselben Stelle, unfähig, mich fortzubewegen. Eine hilflose Leere breitete sich in meinem Körper aus und eine nie gekannte Sehnsucht nach etwas, das ich verloren hatte. Auch wenn ich es nie besessen hatte. Das Blut pochte hinter meiner Stirn. Ich legte meine Finger an die Schläfen und hielt mit gesenktem Blick eine Weile meinen Kopf.

Das Sonnenlicht wurde wieder zu angenehm goldenen Strahlen und der dumpfe Brummton verschwand. Ich strich mit dem Handrücken über meine feuchte Stirn und sah mich verwirrt um.

»So, ich bin bereit. Lass uns die Hufen schwingen, Val!«, flötete Charlie hinter mir. »Val? Hey! Halloho, auf welchem Planeten sind wir denn jetzt gerade mal wieder?«

Ihre gute Laune stand in so krassem Gegensatz zu dem eben Erlebten, dass ich zu zittern begann. Ich hob wie abwehrend die Hände und drehte mich sehr langsam zu ihr um. Ich stand noch immer unter Schock. Die Hufen schwingen, wiederholte ich in Gedanken und ein bitteres Lächeln zeichnete sich auf meinem Gesicht ab.

»Val, du bist ja käseweiß im Gesicht. Was ist denn passiert?«, rief Charlie, sprang auf mich zu und packte meine Hände. »Sag doch was. Was ist los? Bist du überfallen worden?« Sie tastete mit weit aufgerissenen Augen meine Arme ab, als suchte sie nach irgendwelchen Spuren von Gewalt.

»Es gab gerade einen fürchterlichen Unfall«, stammelte ich tonlos.

»Bist du verletzt?«, rief Charlie entsetzt.

»Nein, nicht ich. Er.«

»Wie bitte?« Ihr Blick verriet totales Unverständnis.

»Da hinten, wo der Menschenauflauf ist, da hat es gerade einen fürchterlichen Unfall gegeben«, sagte ich leise und deutete schwach in die Richtung der Tragödie, ohne die Kraft zu haben, hinzusehen. »Es war schrecklich.«

»Wie, was meinst du? Ich kann dir gerade nicht ganz folgen.« Charlie schaute ratlos in die gewiesene Richtung.

Traurig wandte ich meinen Kopf und stutzte. Die Leute schienen sich alle wieder verteilt zu haben. Eine Kutsche mit einem glänzend braunen Pferd trottete, beladen mit einem verliebten Pärchen, vorbei, dort, wo eben noch der Junge gelegen hatte. Jogger kamen den Weg entlang, eine Hundesitterin erschien und stemmte sich mit aller Macht gegen das kräftige Ziehen von sechs großen Vierbeinern, Touristen fotografierten sich gegenseitig. Ich traute meinen Augen nicht. So schnell war alles wieder, als sei nichts geschehen?

»Charlie«, stammelte ich, »er war es. Es war furchtbar. Er ist wahrscheinlich schwer verletzt worden, vielleicht sogar noch schlimmer.«

In dem Moment, als ich es aussprach, schossen mir Tränen in die Augen. Durch einen wässrigen Schleier sah ich ihren fassungslosen Blick, der immer wieder zu dem Ort des Geschehens wanderte, als ich ihr die Einzelheiten schilderte. Stirnrunzelnd lauschte sie meinen Worten, bis ich schwieg. Ich konnte ihr ansehen, dass sie zweifelte.

»Er? Dein Seelenverwandter aus der Bahn?«

Ich nickte kraftlos.

Wieder konzentrierte sich ihr Blick auf die Umgebung. »Ich kann das einfach nicht glauben. Und es ist wirklich gerade erst passiert? Man sieht davon ja überhaupt nichts mehr. Wenn die hier so schnell zur Tagesordnung übergehen, dann erschreckt mich das doch ziemlich«, meinte Charlie kopfschüttelnd. »Vielleicht war der Unfall doch gar nicht so schlimm.«

»Glaub mir«, sagte ich mit fester Stimme, »er war schlimm.«

Die Hoffnungslosigkeit kam noch schmerzvoller zurück, da sie nun endgültig war. Wut mischte sich in meine Gefühle. Wie grausam war es vom Schicksal, mir etwas zu zeigen, das ich mehr als alles andere begehrte, um es mir dann wieder zu entreißen? Mit dem ersten Verlust nach der Begegnung in der U-Bahn wäre ich schon irgendwie fertiggeworden, aber das hier würde mich ewig verfolgen.

Charlie griff nach ihren Einkaufstüten. »Komm, Val, es wird Zeit.« Sanft hakte sie sich bei mir unter und lenkte mich aus dem Park heraus. Wie ein Schlafwandler ließ ich mich von ihr abführen und fand mich irgendwann samt meinem Gepäck im Yellow Cab wieder. Wehmütig blickte ich aus dem Rückfenster des Taxis, um bis zum letzten Augenblick die Sicht auf die Skyline zu haben. Dann war Manhattan nicht mehr zu sehen und der restliche Weg zum Flughafen führte an weniger attraktiven Gebäuden entlang. Charlie kramte schon eine geraume Zeit in ihrem Handgepäck und suchte verzweifelt die Flugtickets. Ich lehnte mich im Sitz zurück und tat so, als döste ich. In Wahrheit versuchte ich, nicht vor Verzweiflung zu sterben.

Pünktlich saßen wir im Flieger. Mit leerem Blick sah ich aus dem kleinen Fenster, bis die Lichter New Yorks unter mir immer schwächer wurden. Kaum hatte die Maschine abgehoben, war Charlie schon weggenickt. Um diese Fähigkeit beneidete ich sie. Ich konnte im Flugzeug einfach nicht schlafen und zog mir einen Film nach dem anderen rein, doch die Bilder flackerten an mir vorbei, ohne dass ich etwas davon aufnahm. Dabei dachte ich an Charlies Gesichtsausdruck, als sie mich pflichtbewusst noch einmal nach dem Vorfall im Park gefragt hatte. Wieder hatte ich an ihrem unsicheren Blick gemerkt, dass sie an der Geschichte zweifelte. Zeitweise war ich selbst nicht mehr sicher, ob das alles wirklich real gewesen war. Trotzdem konnte ich es nicht vergessen. Unablässig arbeitete es in meinem Hirn. Die Bilder des Unfalls tauchten immer wieder vor meinem geistigen Auge auf. Und dieses Gesicht, dieses atemberaubende Gesicht. Warum war das ausgerechnet ihm passiert? Oder war ihm vielleicht doch nicht so viel passiert? Das würde erklären, warum alle so schnell wieder verschwunden und zur Tagesordnung übergegangen waren. Aber der Körper schien ohne Leben gewesen zu sein. Oder hatte er sich im Krankenhaus erholt und dachte jetzt vielleicht sogar an mich? Der Gedanke ließ mein Herz rasen. Ich wollte zu gern glauben, dass es so war. Ich hätte fragen sollen, wohin sie ihn bringen. Aber wen? Von diesen Leuten war ja schon nach kürzester Zeit niemand mehr zu sehen gewesen, sonst hätte auch Charlie mir leichter geglaubt. Sie hielt mich wahrscheinlich sowieso für übergeschnappt. Und ich wurde wirklich langsam irre, denn meine Gedanken drehten sich ergebnislos im Kreis. Ich spürte, dass ich diese unauslöschliche Erinnerung in beklemmender Intensität mit mir nehmen würde.

Die hellen Bilder auf dem Monitor und mein Gedankenmarathon wurden anstrengend. Vielleicht war es auch eine Art Selbstschutz meines Körpers, dass ich schließlich einnickte.

Als ich eine zarte Berührung auf meiner Hand fühlte, kam ich langsam wieder zu mir. Lächelnd drehte ich meinen Kopf zu Charlie und hob müde meine Lider. Aber sie schlief tief und fest, gab sogar ganz leise Schnarchgeräusche von sich. Seltsam. Ich hatte die Berührung doch ganz deutlich gespürt. So tief wie sie hatte ich nicht geschlafen, nichts geträumt. Grübelnd betrachtete ich ihr hübsches Gesicht, das zur Hälfte in dem Kissen der Airline verschwunden war, das sie zwischen ihre Kopfstütze und die Bordwand des Airbus gepresst hatte. In diesem Moment kam die Durchsage, dass wir in fünfundzwanzig Minuten landen würden.

Charlie kam gähnend aus dem Land der Träume zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch das kräftige Haar. »Wie spät ist es?« Sie wartete meine Antwort gar nicht ab. »Du meine Güte. Hab ich etwa die ganze Zeit gepennt? Hat er gesagt, dass wir landen?«

»Jepp, wir sind da«, bestätigte ich.

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer

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