Читать книгу Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner - Страница 9

Unerklärliche Phänomene

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So gut es ging, klopfte ich mir noch ein paar kleine Erdbrocken von Jacke und Hose ab, als ich vor dem roten Backsteinhaus mit der weißen Tür der Cummings stand. Sie wohnten nur zwei Straßen von uns entfernt, aber ich hatte keine Lust, mich zu Hause umzuziehen und Moms nachträgliche Panik über mein Missgeschick über mich ergehen zu lassen. Ben war nicht der Typ, der viel Gewicht auf Äußeres legte. Er würde den Schmutz auf meinen Klamotten wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Trotzdem entfernte ich mit einem Stück Ast die letzten Erdbrocken aus dem Profil meiner Sohlen und zog die schmutzige Jacke aus, bevor ich den schweren schwarzen Klopfer betätigte.

Ich hatte Ben eine Woche lang nicht gesehen, fiel mir jetzt auf. Das war ungewöhnlich bei uns. Wir hingen seit der ersten Klasse ständig zusammen, eigentlich, seit er mich vor einem fürchterlichen Mitschüler namens Clark Mahony beschützt hatte, dessen Lehmbombenattacken in den Pausen damals gefürchtet waren. Außer Charlie, die ich fast genauso lange kannte, war er der Einzige, den ich wirklich nah an mich heranließ. Anderen begegnete ich eher mit abwartender Zurückhaltung, weil ich eigentlich ein Eigenbrötler war, wie Mom immer sagte. Das stimmte wohl, denn allein zu sein, war noch nie mein Problem gewesen, aber zu viel Nähe konnte mir Unbehagen bereiten.

Bens Mutter öffnete die Tür. »Oh, hallo, Val, du bist zurück? War es schön?«

»Guten Abend, Mrs Cummings, ja, es war klasse. Ist Ben oben?« Aus seinem Zimmer dröhnte laute Musik. »Oh, ich hör schon«, beeilte ich mich, zu sagen, und nahm zwei Stufen auf einmal hoch in die erste Etage.

»Ja, geh nur rauf«, lächelte Mrs Cummings mit einem irritierten Blick auf meine Kleidung und schloss die Tür.

Sie war sehr nett, ich mochte sie. Von ihr hatte Ben die gerade kleine Nase und das volle dunkelblonde Haar. Die Größe und die sportliche, athletische Figur hatte er von seinem Vater. Ein Bild von ihm in seinem College Baseballdress stand in einem silbernen Rahmen auf dem Wandregal, gleich neben einem Foto von Ben, mir und meinem Dad beim Drachensteigenlassen am Strand, als wir etwa zehn waren. Da Bens Vater sehr früh gestorben war, hatte mein Dad ihn oft zu Ausflügen mitgenommen.

Ben lag auf seinem Bett, in der einen Hand ein Buch, das er gerade aufmerksam las, und in der anderen ein Trommelstock, mit dem er im Rhythmus gegen die Wand schlug. Er hatte sein taubenblaues Lieblingsshirt und eine Boxershorts an. Sein Zimmer war wie immer unaufgeräumt, aber gemütlich. Er hatte es an zwei Wänden dunkelblau gestrichen und in der Ecke über seinem Bett hingen verschieden große Poster mit Fotos von der Erde, die vom Weltall aus gemacht worden waren. In der gegenüberliegenden Ecke stand sein Schreibtisch und darüber befanden sich Regale mit jeder Menge Bücher, viele davon über Astronomie und Raumfahrt. Das war sein Ding.

Er bemerkte mich. »Hallo, Hübsche!«

Erfreut sprang Ben vom Bett auf, nahm mich fest in die Arme und drückte mich an sich. Ich dachte an Charlies Sticheleien und ärgerte mich, dass sie nun unbeabsichtigt zu einer neuen Betrachtung meiner bislang ungetrübt unschuldigen Gefühle Ben gegenüber führten. Aber nein, ich hielt das für absoluten Unsinn, obwohl mir tatsächlich nicht entgangen war, dass das Wachstum seiner Muskeln die Proportionen seines Körpers zu einem durchaus stattlichen Anblick geformt hatten. Auch hatte er im letzten Jahr so einen Schuss in die Höhe gemacht, dass er mich nun locker um einen halben Kopf überragte. Dennoch, mich an diesen erwachsener gewordenen Körper in anderer Absicht als freundschaftlicher Zuneigung zu schmiegen, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Es wäre mir wie der Bruch eines stillen Abkommens erschienen, der unsere Freundschaft belastet, wenn nicht sogar zerstört hätte. Es machte für mich keinen Sinn, darüber nachzudenken, es war einfach kein Thema.

»Ah, es gab Fisch«, grunzte Ben, während er seine Arme löste.

Ich quittierte die Feststellung mit einem übertrieben breiten Grinsen und legte meine Jacke, die dreckige Seite sorgfältig nach innen faltend, auf das Bettende.

Ben kniff abschätzend die Augen zusammen. »Wie siehst du denn aus? Hast du dich im Dreck gewälzt?« Kopfschüttelnd pflückte er mir einige Erdklümpchen, die ich übersehen hatte, aus den Haaren und vom Rücken und warf sie mit spitzen Fingern zielsicher in den Papierkorb.

»Frag mich lieber nicht.« Ich hatte nicht die geringste Lust, mich als Loser zu outen.

»Wie du meinst«, akzeptierte er die Antwort achselzuckend. »Jedenfalls ist es schön, dass du heil zurück bist. Wie man hört, ist New York ja nicht das ungefährlichste Pflaster«, meinte er und lehnte sich zum CD-Player rüber, um die Musik leiser zu stellen.

Ich zuckte zusammen. »Wieso?«, tat ich erstaunt.

»Charlie hat vorhin angerufen und mich vorgewarnt, dass es wohl etwas länger dauern würde, bis du dich zurückmeldest, da traumatische Erlebnisse dich in einen Hyperschlaf versetzt hätten.«

Ich funkelte ihn gereizt an.

»Hat sie gesagt«, betonte er in Deckung gehend. Aber ich war gar nicht darauf aus, ihm einen Klaps zu verpassen.

»Was hat sie denn erzählt?«, bohrte ich leise nach, da meine Stimme zu brechen drohte.

»Na ja, von diesem Unfall im Central Park, der dich wohl sehr mitgenommen hat.« Während er das sagte, musterte er mich lauernd, sodass ich mir vorstellen konnte, wie Charlie zusätzlich angedeutet hatte, dass ihr Vertrauen in meinen Geisteszustand erschüttert war.

Das beklemmende Gefühl meldete sich wieder, doch ich wollte es auf keinen Fall zulassen und beschloss, diese Geschichte für sehr viel später aufzuheben, bis ich mit einem gewissen Abstand darüber berichten konnte.

Ich sammelte alle Kraft zusammen. »Ach das, ja, das war wirklich schrecklich«, sagte ich nur und beeilte mich, von dem Thema wegzukommen. »Hat sie dir denn schon den ganzen Reisebericht gegeben oder was?«

»Klar«, meinte er grinsend, »ich bin in euer Lotterleben auf dem Big Apple weitestgehend eingeweiht worden.«

Es tat gut, seine flapsige Art zu erleben. Ich fasste mich wieder.

»Ich hab den Stick mit den Fotos dabei. Wenn du willst, kannst du dir deinen Klumpen aus dem All gleich rüberladen«, sagte ich und kramte nach dem USB-Stick in meiner Hosentasche.

»Bitte nicht so respektlos«, rügte er mit gespielter Entrüstung und zog ansatzweise eine Braue nach oben. Er trainierte diese Mimik, seit er gesehen hatte, wie wirkungsvoll es bei Charlie aussah, konnte aber nur mäßige Erfolge vorweisen.

»Hier.« Ich reichte ihm den Stick und dachte daran, wie dieser unglaubliche Junge den Meteoriten angesehen hatte. Das allein machte ihn besonders. »Er war schon besonders«, murmelte ich, meine Gedanken vertonend.

»Ja, oder?«, pflichtete Ben sogleich ahnungslos bei, schnappte voller Vorfreude nach dem Stick und schwang sich auf den Schreibtischstuhl.

»Ich hätte dir ja ein Stück abgesägt, aber es waren so viele Wachen da«, flachste ich und wieder sah ich das schöne Gesicht ganz deutlich für eine Sekunde in meinem Kopf. Ich musste mich zusammenreißen, damit der Schmerz nicht durchbrach.

»Schade, ich hatte fest mit einer Trophäe gerechnet«, meinte Ben grinsend und dockte meinen Stick an seinen Laptop an. Gespannt begann er, die Fotos hochzuladen. »Ich wünschte, ich wäre da gewesen. Irgendwann pack ich das auch«, murmelte er, während die Bilder nach und nach in Miniaturansicht hochluden und er eine kleine Diashow von der Reise erhielt. Dann konzentrierte er sich auf die Aufnahmen von Willamette. »Wie war das, live vor ihm zu stehen? Ist das nicht ein faszinierendes Gefühl? Ich meine, er kam aus dem Universum, dem Weltall, ist durch Galaxien gereist.« Er fuchtelte mit den Armen umher und simulierte offensichtlich die Flugbahn, ohne dabei jedoch die Augen vom Bildschirm zu lösen.

»Meinst du das ernst?«, fragte ich verwundert und dachte nur an das faszinierende Gefühl, das diese erste Begegnung mit dem Fremden in mir ausgelöst hatte.

»Klar. Es ist Materie aus dem Weltall, Milliarden von Jahren alt. Zeitzeuge von Sternenexplosionen und der Entstehung neuer Welten. Das gibt ihm doch eine Wahnsinnsausstrahlung, oder?«

»Ja, für Menschen mit deiner Begeisterung dafür ganz sicher. Sei mir nicht böse, aber es ist einfach nur erkaltetes Eisen.«

»Ach ja?« Er belächelte mich gespielt überheblich, sicher, um mir zu verdeutlichen, dass er mich für eine Unwissende hielt.

Als er die gut gelungenen Fotos der Reihe nach intensiv in Augenschein nahm, geriet er vor Verzückung ganz aus dem Häuschen. »Wow, das ist irre. Ich hätte ihn auch gern live und in Farbe gesehen.« Dass ich das Weltraumgeschoss gründlich von allen Seiten aufgenommen hatte, fand deutlich seine Anerkennung.

Dann stoppte er bei einem Foto, vergrößerte die Ansicht und studierte aufmerksam eines der beachtlichen Löcher am Rand von Willamette. »Apropos Farbe, was ist das da auf dem Foto?« Er deutete auf eine verschwommene Ansammlung von pastellfarbenen Farbpixeln, die im Hintergrund der Aufnahme ganz schwach zu sehen waren. »Hier.« Er zeigte noch mal mit dem Finger darauf, aber ich hatte es auch vorher sofort gesehen.

Ich stützte mich an seiner Stuhllehne ab und beugte mich neben ihm vor. »Keine Ahnung, irgendein Lichtreflex. Da waren so viele Strahler«, mutmaßte ich.

Er ging ein Bild zurück, das ich aus einer ähnlichen Perspektive aufgenommen hatte, und vergrößerte es ebenfalls. »Aber guck mal, hier ist es an derselben Stelle, etwas kleiner.«

Ich teilte die Aufregung über seine Entdeckung nur bedingt. »Ist bestimmt die Aura, die dein Weltallkoloss abstrahlt«, zwinkerte ich ihn an.

»Nee, guck doch mal, es ist weit hinter dem Meteoriten, da, auf Höhe dieses Stützpfeilers etwa!«

»Oh Mann, Ben, das ist nur ein Lichtreflex oder so«, wiederholte ich meine Vermutung.

Ich hatte eigentlich keine Lust, jedes einzelne Foto mit ihm zu diskutieren, doch er nahm eine Lupe und begutachtete den Lichtfleck intensiv. »Hmmm … komisch«, murmelte er.

»Du bist jetzt wohl anderweitig beschäftigt«, maulte ich enttäuscht und griff demonstrativ nach meiner Jacke. Er verstand den Wink sofort.

»Nee, Val, bleib. Ich guck es mir nachher in Ruhe an.« Er stand vom Stuhl auf und warf mir eine Dose Cola vom Schreibtisch rüber. »Hier, ist noch kalt. Also, erzähl noch mal ein bisschen.«

Wir lümmelten uns auf sein gemütliches braunes Sofa und ich öffnete die Lasche der Dose, wobei mir ein dünner Strahl des braunen Gebräus entgegenschoss. »Na super«, zischte ich genervt und fasste in meine Haare.

»Jetzt klebt der Dreck wenigstens besser«, meinte Ben mit unverhohlener Belustigung, während er mir ein Papiertaschentuch reichte, mit dem ich fluchend meine Wange und eine Haarsträhne trocknete.

Ich setzte ein beleidigtes Gesicht auf. »Weiß doch jeder Depp, dass man Dosen nicht schüttelt«, beschwerte ich mich. »Ich glaub, ich gehe nach Hause, duschen.«

»Komm, sei keine Mimose.« Er knuffte mich freundschaftlich in die Seite und reichte mir als Friedensangebot eine frisch geöffnete Kekstüte. Versöhnlich griff ich hinein und erntete ein entwaffnendes Grinsen. Er lehnte sich, ebenfalls mit einer Handvoll davon bevorratet, zurück und sah mich erwartungsvoll an. Also ergänzte ich noch mal in aller Ausführlichkeit Charlies Bericht.

»Das hört sich alles so an, als wenn ich unbedingt auch mal über den großen Teich müsste«, schloss er meine Berichterstattung gedankenvoll ab und schielte wieder rüber zum Bildschirm. Ich kommentierte es nicht und nickte nur. Wir beide wussten, dass es in nächster Zeit nichts werden würde. Es war mit der Witwenrente von Mr Cummings und dem, was sie sich als Schreibkraft im Büro dazuverdiente, finanziell nicht mal eben locker drin.

»Und was ist hier so passiert?«, wechselte ich das Thema und angelte nun nach der angebrochenen Chipstüte auf seinem kleinen Holztisch, der vor Magazinen überquoll.

Ben warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Fragst du das im Ernst?«

»Klar«, sagte ich, unsicher, ob ich wirklich eine Antwort erwartete.

»Und wenn du drei Wochen weg gewesen wärst … nichts … wie immer.«

Am nächsten Morgen verhüllten noch immer graue Wolken die Sonne, was mir nicht gerade dabei half, mein Vitamin D-Depot aufzufüllen, um den Jetlag abzuschütteln. An der Bushaltestelle traf ich Ben, der ebenfalls ausgiebig gähnte, aber keine entsprechende Entschuldigung parat hatte. Er war einfach zu lange auf gewesen. Statt der üblichen Stille im Bus auf dem Weg zur Schule herrschte heute ein lautstarker Austausch von Ferienerlebnissen. Nur Ben, mit mir im Gedränge des Mittelganges stehend, sagte kaum etwas und nickte immer wieder ein.

Unsere Highschool befand sich in einem sehr stattlichen, historischen Gebäude von 1380, war aus grauem Stein, mit hohen Fassaden, gotischen Fenstern und einigen kleinen spitzen Türmchen, die über den Dächern emporragten. Es war umgeben von weitläufigen Rasenflächen, die wiederum umsäumt waren von sehr alten Bäumen. Dazwischen waren Sand- und Kieselwege angelegt, die in westlicher und nördlicher Richtung zu den großen Parkplätzen führten. In südlicher Richtung konnte man, über den abschüssigen Rasen hinweg, in der Ferne das Meer sehen.

Ich mochte alte Gemäuer, weil ich glaubte, dass sie mir Geschichten erzählen konnten. Das klang vielleicht verrückt, aber so war es nun mal. Manchmal berührte ich ehrfürchtig die jahrhundertealten, großen Steinquader im Kreuzgang und stellte mir all die Menschen aus den verschiedenen Epochen vor, die hier schon entlanggegangen waren und vielleicht dasselbe getan hatten wie ich, die Steine berührt und über vergangene Generationen nachgedacht. Ich konnte mich so in diesen Gedanken verlieren, dass ich mir einbildete, die Körperlichkeit von Menschen, die hier vor langer Zeit gelebt hatten, zu spüren, als wäre etwas von ihnen hiergeblieben. Und manchmal meinte ich sogar, in Schatten oder Lichtspiegelungen Silhouetten von Menschen erkennen zu können.

Ich behielt meine Gedanken inzwischen aber lieber für mich, seit ich vor vielen Jahren meiner Mitschülerin Keira leichtfertig davon erzählt hatte. Ein Riesenfehler. Sie war durch die Gänge gehüpft und hatte lauthals »Val glaubt an Geister, Val glaubt an Geister« gerufen und ich hatte dagestanden wie der letzte Depp, als alle mit dem Finger auf mich gezeigt und mich verhöhnt hatten. So richtig hatte ich ihr das nie verziehen, was die Wertigkeit unserer Bekanntschaft erklärte, die langjährig, aber nicht besonders intensiv war.

Nach dem Registrieren traf ich die zierliche Desiree im Flur, die viel strahlender wirkte als vor den Ferien. Ihr aschblondes Haar war von Sonne und Salzwasser ausgeblichen und umrahmte, mit fast weißen Strähnen durchzogen, effektvoll das gebräunte Gesicht. Sie war ebenfalls auf dem Weg zum Geschichtskurs von Mr Collins.

Der Doc, wie wir ihn nannten, weil der würdevoll schreitende Mann mit der randlosen, runden Brille und der stets korrekt gebundenen karierten Fliege wie ein Wissenschaftler wirkte, begrüßte uns freundlich zum neuen Trimester und ließ DIN-A4-Zettel verteilen, auf denen die Themen aufgelistet waren, die er zu behandeln beabsichtigte, sowie einige Buchvorschläge. Es kostete mich einige Mühe, die Augen offen zu halten, geschweige denn, mich an der nun folgenden Diskussion über Wandel und Konsolidierung zu beteiligen.

Ich hatte meinen Kopf auf den Arm gestützt und als dieser das zweite Mal wegsackte, weil ich für eine Sekunde eingeschlafen war, läutete es endlich. Eilig schmiss ich meine Notizen in den Rucksack, bedeutete Keira, die ebenfalls gerade aufwachte, dass ich schon vorginge, und lief zügig durch die altehrwürdigen Gänge in Richtung der Gartenanlagen südlich des Gebäudes.

Als ich ins Freie kam, sah ich Ben schon im Schneidersitz auf dem Rasen bei der alten Rotbuche sitzen, unserem Stammplatz bei gutem Wetter. Er schälte sich gerade eine Banane. Ich ließ mich neben ihn auf den Rasen fallen, stützte mich mit den Ellenbogen auf, warf den Kopf nach hinten und stöhnte unwillig. »Oah, noch nicht mal Mittag und ich bin jetzt schon total im Eimer.« Wie lange konnte so ein Jetlag dauern?

Ben biss ungerührt in seine Banane und warf mir einen kurzen Blick zu. »Die ersten Tage nach den Ferien sind immer die schwersten«, schmatzte er tiefsinnig. Er wirkte ausgeruht, schien auch etwas Schlaf im Unterricht nachgeholt zu haben.

Nic und Keira gesellten sich zu uns auf den Rasen. »Hey, Leute«, riefen sie im Duett.

»Hey«, gab ich den Gruß zurück.

»Also, wie war es in New York, Val? Wann bist du zurückgekommen?«, fragte Keira nun, die normalerweise schon während der Geschichtsstunde darauf gebrannt hätte, mich auszuhorchen, wäre sie nicht selbst zu müde gewesen.

»Gestern Morgen. Es war so cool!« Ich nickte wie ein Wackeldackel, als müsste ich es mir selbst noch mal bestätigen.

Beide waren mit ihren Eltern schon mal dort gewesen, daher forderten sie glücklicherweise keinen detaillierten Reisebericht. Sie nickten nur, warfen sich einen wissenden Blick zu und bedachten mich mit einem anerkennenden Lächeln, so als wäre ich nun in den Kreis der Übersee-Connaisseure aufgenommen worden. »Stimmt, es ist cool da«, stellte Keira noch mal mit Nachdruck fest und Nic fügte hinzu: »Absolut cool, ja.« Nachdem die Coolness meines Kurztrips nun ausreichend dokumentiert war, widmeten sich beide ihren Lunchpaketen.

»Warst du im Boathouse?«, fragte Keira gespannt.

Autsch. Ein Stich schoss schmerzend durch meine Eingeweide. »Hmm.« Ich nickte.

»Haselnusskaffee probiert?«

»Klar. Echt lecker.«

»Und, warst du in dieser Bar auf der Siebten?«, fragte Keira neugierig weiter, bevor sie in ihr Sandwich biss.

»Ja. Das war ein echt guter Tipp«, gab ich zu.

»Kein Problem, ein Bier zu kriegen, oder?«, grinste sie schmatzend.

»Nee, war alles super, auch die Stimmung, gute Musik. Woher kanntest du den Laden eigentlich?«, fragte ich, dankbar, dass ich gedanklich den Park verlassen konnte.

Sie wischte sich den Mund ab. »Mein großer Bruder hatte den Tipp von einem Freund. Ich bin mit ihm da gewesen, als meine Eltern einen Abend zum Essen bei Bekannten eingeladen waren. Wir waren natürlich offiziell nur Burger essen.« Sie grinste breit und zwinkerte. Dann fiel ihr Blick auf Nics Sandwich, das vor Eiersalatfüllung fast überquoll. »Hmmm, darf ich?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern biss ein ordentliches Stück ab. Nic schaute mit undefinierbarem Gesichtsausdruck auf seinen um mehr als die Hälfte geschrumpften Snack.

Keira Harding und Nic Moreno waren jetzt seit einem knappen halben Jahr ein Paar und ich fand, sie wirkten, als wären sie ihr Leben lang zusammen gewesen. Wie Topf und Deckel. Selbst ihre kunstvoll geglätteten, aber wie vom Wind verwuschelten Kurzhaarfrisuren mit langen Ponyfransen ähnelten sich.

Ich zog eine Tüte aus meinem Rucksack hervor, die unter meinen Büchern gelegen hatte. Darin war ein völlig zermatschter Muffin. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und begann, die Krumen mit den Fingern aufzunehmen.

»Ey, wisst ihr schon das Neueste?« Keira kicherte und sah uns mit bedeutungsvoll aufgerissenen Augen an. »Hasenzahn und Dr. Mops haben sich in den Ferien verlobt. Na, wenn das keine schönen Kinder gibt.« Sie kringelte sich vor Lachen.

Hasenzahn war Miss Henderson, die Englischlehrerin, die einen kräftigen Überbiss hatte. Sie war einen halben Kopf größer als Dr. Mops, ein kleiner, rundlicher Mann Ende dreißig, der eigentlich Dr. Moore hieß und Mathe unterrichtete.

»Das ist echt ne tolle Nachricht«, meinte Ben ironisch. »Wen interessiert’s?«

»Ach, stell dir doch mal den Nachwuchs vor«, setzte Keira glucksend nach.

»Oh, bitte«, stoppte ich sie, »vorstellen möchte ich mir da gar nichts.«

»Is ja guut«, schmollte Keira.

Nic verdrehte die Augen und schien sich die beiden ebenfalls nicht vorstellen zu wollen. Geschickt lenkte er vom Thema ab: »Habt ihr schon von dem neuen Horrorstreifen gehört, der jetzt im Kino angelaufen ist? Heißt ›Schwärzer als die Nacht‹ oder so ähnlich. Soll echt gut sein. Keira und ich wollen heute Abend hin.«

Ich guckte zu Ben. »Kino wäre doch nicht schlecht heute, oder? Was meinst du?« Da Charlie noch ein oder zwei Tage blieb, hatten wir geplant, etwas zu dritt zu unternehmen.

»Jooaahh, find ich gut«, antwortete Ben nach kurzer Überlegung.

»Okay, hören wir noch, was Charlie sagt. Sie kommt nachher und holt uns ab.«

Charlie hatte hier im vergangenen Jahr ihren Abschluss gemacht, ließ sich aber nie lange bitten, vorbeizukommen, weil sie vorwiegend gute Erinnerungen mit dem Gebäude verband. Hier war ihr Tobey zum ersten Mal begegnet.

»Oh, gut«, meinte Ben und begann, zufrieden eine zweite Banane zu schälen. »Ich kann den Wagen meiner Mom heute leider eh nicht kriegen. Sag mal, wann hast du eigentlich deine erste Fahrstunde?«

»Freitag um fünf«, erwiderte ich stolz und stellte fest, dass ich es kaum abwarten konnte.

»Oh«, er grinste frech. »Ich werde dann mal lieber zu Hause bleiben, nur zu meiner Sicherheit.«

»Besser ist es«, mischte sich nun auch Nic ein.

»Ha, ha, sehr witzig.« Ich rang mir ein gequältes Lächeln ab.

»Die ganze Theorie war echt nervig«, meinte Nic mit gewichtiger Miene und ließ uns nicht im Unklaren darüber, dass er diese trotzdem recht erfolgreich hinter sich gebracht hatte. »Aber die Praxis lief super. Ich habe die wenigsten Fahrstunden meiner Gruppe gebraucht«, ließ er uns noch mit buchstäblich stolzgeschwellter Brust wissen.

»Toll«, sagte Ben genervt und formte zu mir gewandt die Lippen zu dem Wort »Angeber«, während er mit den Augen schielte.

Keira, die mit mir den Theoriekurs von Mrs Keppler besuchte, meldete sich unterstützend zu Wort: »Macht euch mal keine Gedanken, Jungs. Wir werden das schon rocken. Oder, Val?«

»Logo.« Dass dies überhaupt angezweifelt wurde, ging mir schon auf die Nerven. Ich konnte längst fahren. Charlie hatte mich auf mein Drängen hin schon mit knapp sechzehn viele Male auf einsamen Waldwegen ans Steuer ihres Minis gelassen und mir alles beigebracht. Ich hatte das Fahren schneller kapiert, als ich gedacht hätte.

Während Nic sich über den Ölverbrauch seines gebrauchten Spiders bei Ben beklagte und eine Fachsimpelei über Motoren daraus entstand, krabbelte Keira über den Rasen zu mir herüber und hockte sich neben mich. »Ich hab mir Übungsbögen besorgt. Wir können ja mal zusammen lernen«, schlug sie mit gedämpfter Stimme vor.

»Warum nicht?«, antwortete ich, ohne zu zögern. Es war eine Menge Lernstoff und es konnte sicher nicht schaden, sich gegenseitig abzuhören.

»Meine Eltern haben mir einen Wagen versprochen, wenn ich gleich beim ersten Mal bestehe. Ich darf’s also nicht vergeigen«, verkündete Keira nun mit einem verklärten Leuchten in den Augen. In Gedanken sah sie sich wahrscheinlich schon in ihrem eigenen kleinen Flitzer Dorset unsicher machen. Nachdenklich schaute ich sie an. Das Glück würde ich nicht haben.

Sie bemerkte meinen Blick. »Es wird sicher erst mal ein alter, gebrauchter sein. Aber das ist mir egal«, schwächte sie ab, als wollte sie mich nicht neidisch machen, was ich irgendwie schon wieder rührend fand. Aber Neid war keines meiner Laster.

»Wär’s mir auch«, versicherte ich ihr. »Hauptsache ein fahrbarer Untersatz. Ich hoffe, dass ich vielleicht zum achtzehnten Geburtstag einen bekommen werde. Oder wenigstens einen großen Teil des Geldes. Ich spare zwar wie verrückt, aber … na, mal sehen. So lange darf ich mir auch den von meiner Mutter ausleihen«, sagte ich mit Blick auf Ben, der den mittlerweile nervigen, belehrenden Monolog von Nic mit dem Satz »Du solltest einen Blog darüber schreiben« kurzerhand abgewürgt und sich uns zugewandt hatte. »Deine Mom hat meiner erzählt, dass es ziemlich gut klappt mit eurem Carsharing«, sagte ich hoffnungsvoll zu Ben.

»Ich bin ja auch ein ausgezeichneter Fahrer«, antwortete er mit gespielter Überheblichkeit, als wollte er Nic nacheifern.

»Na klar, wenn du es sagst«, gab ich spröde zurück, obwohl ich zugeben musste, dass es an seinem Fahrstil wirklich nichts auszusetzen gab. Als Erste, direkt nach seiner Prüfung vor zwei Monaten, hatte ich mich wagemutig als Beifahrerin zur Verfügung gestellt.

Die Glocke ertönte. Schwerfällig erhoben wir uns alle und trabten ohne Eile zurück ins Gebäude. Da ich eine Freistunde hatte, begleitete ich Ben zum Chemiekurs und sah eine Weile durch die großen Glasfenster des Raumes zu. Den Kurs leitete der alte Mr Benson, der privat sehr nett, aber als Lehrer ziemlich streng war. Bis zur elften Klasse hatte ich seine Kurse besucht. In seiner typischen Art, mit den hochgezogenen, schneeweißen Augenbrauen, den weit aufgerissenen Augen und einem lautstarken »Konzentration bitte«, forderte er nun die ungeteilte Aufmerksamkeit der Schüler für seinen Versuch ein. Er war ganz offensichtlich nicht so nachsichtig mit dem allgemeinen Bedürfnis der Kursteilnehmer, das Erlebte der vergangenen Wochen aufzuarbeiten. Entsprechend energisch fielen seine Ermahnungen an die tuschelnden Schüler aus. Ich musste grinsen. Nachdem er alle zusammengetragenen Utensilien benannt hatte, begann er mit dem Versuch. Es ging um Kaliumpermanganat. Ich erkannte es, als er in die einzelnen Reagenzgläser, in der sich verschiedene Lösungen befanden, etwas hineinträufelte und lebhaft die dann einsetzenden Farbveränderungen erklärte. Seine Vertretung, Mr Orlando, hatte uns diesen Versuch einmal gezeigt. Saure Lösung klar, neutrale Lösung braun, alkalische Lösung erst grün, dann braun. Ich erinnerte mich noch sehr genau daran.

Ich schielte hinüber zu Ben, der in der letzten Reihe saß und unter dem Tisch eine SMS verfasste. Er schien von den Vorführungen nicht sonderlich gefesselt zu sein, aber ihm traute ich zu, dass er den Stoff längst beherrschte.

Als Mr Benson sich nun dem Thema Oxidation und der Reduktion mithilfe des Natriumsulfits widmete – er kritzelte es quietschend auf die Tafel –, trottete ich in die Bibliothek.

Nachdem ich einen kleinen Stapel der vom Doc empfohlenen Bücher zusammengesucht und mir einen freien Platz gesucht hatte, nahm ich das erste zur Hand. Es fiel mir schwer, die gelesenen Zeilen zu verarbeiten. Müde las ich sie wieder und wieder, ohne etwas zu begreifen. Frustriert schloss ich das Buch und starrte aus dem Fenster, den schnell ziehenden Wolken hinterher. Die Zeitverschiebung, unter der ich immer noch litt, war nur ein Grund. Ich konnte nicht verhindern, dass die Erlebnisse in New York mit regelmäßiger Hartnäckigkeit meine Gedanken unterwanderten.

Irgendwie kam ich an diesem Tag über die Runden, auch, weil mein Rugby spielender Mitschüler Paul, mit dem Desiree seit etwa drei Monaten liiert war, mir in Mathe und Physik sein breites Kreuz als Deckung anbot und ich glücklicherweise nicht aufgerufen wurde. Dann endlich ertönte das erlösende Läuten der letzten Stunde. Ben verkündete, er wolle sich noch ein Buch aus der Bibliothek besorgen und dann gleich nachkommen, also verließ ich das Gebäude allein.

Auf dem großen Parkplatz, wo die meisten Fahrzeuge bereits die Ausfahrt verstopften, hielt ich Ausschau nach Charlie. Sie war noch nicht da, also war noch Zeit für ein kleines Sonnenbad. Ich lehnte mich an die von der Nachmittagssonne aufgewärmte Begrenzungssteinmauer, die mir bis zu den Schulterblättern reichte, und versuchte, beschallt von aufbrüllenden Motoren einiger betagter Transportmittel, mit geschlossenen Augen die unerwarteten Strahlen zur Vitamin D-Gewinnung zu nutzen, während ich ohne Ungeduld auf Charlie und Ben wartete.

Ein kleiner Lufthauch streifte mich am Hals und ich dachte für eine Sekunde, Ben habe sich angeschlichen, um mir in den Nacken zu pusten, wie er es früher manchmal getan hatte. Blitzschnell schlug ich mit dem Handrücken wie nach einer lästigen Fliege nach hinten, traf aber auf keinen Widerstand. Lachend drehte ich mich um, weil ich dachte, er hätte sich reaktionsschnell weggeduckt, doch zu meiner Überraschung war niemand auch nur in der Nähe. Nur zwei Mädchen, die ihre Bücher in gleicher Weise eng vor der Brust trugen, gingen, eifrig in ein Gespräch vertieft, in einiger Entfernung zu einem der letzten Fahrzeuge auf dem Gelände. Ich hätte schwören können, dass jemand direkt hinter mir gestanden hatte. Es war sehr eigenartig. Eine Weile folgte ich irritiert und mit leerem Blick dem davonfahrenden Wagen, dann drehte ich mich zögernd wieder zur Sonne und schloss meine Augen, aber nur halb.

Ein paar Minuten später hörte ich schnelle Schritte auf mich zukommen. »Ist sie noch nicht da?«, keuchte Ben. »Ich hab mich extra beeilt. Ich dachte, ihr wartet schon sehnsüchtig auf mich.«

Ich schenkte ihm ein müdes Grinsen.

Er hievte sich und seinen Rucksack auf die Mauer. »Dann kann ich ja noch schnell mein Sandwich verputzen«, meinte er und öffnete geräuschvoll den Reißverschluss einer Seitentasche. »Charlie hasst es ja, wenn man in ihrem Wagen isst. Ach, wenn man vom Teufel spricht …«

Charlies Mini kam um die Ecke geheizt und der Sand knirschte unter den Rädern, als sie ihn kurz vor uns zum Stehen brachte. Sie sprang aus dem Wagen und kam unternehmungslustig auf uns zu. »Was für ein toller Tag. Es ist warm geworden, oder?« Sie zog die Jacke aus und baute sich nun im kurzärmeligen T-Shirt vor uns auf, wobei sie mir zur Hälfte die Sonne nahm.

»Sag mal«, ich blinzelte sie träge mit einem Auge an, »hast du überhaupt keinen Jetlag mehr?«, fragte ich sie, etwas verwundert über ihre Power.

»Nö, eigentlich nicht.«

»Na, wenigstens eine, die heute hellwach ist«, meinte Ben mit einem vorwurfsvollen Blick auf mich Schlaffi. »Und, was machen wir nun heute Abend?«, fragte er, sein Eiersandwich mampfend. »Kino oder doch lieber Sport?« Ein Tropfen Mayonnaise drohte sich von seiner Lippe abzuseilen, aber mit chamäleonartiger Zunge angelte er ihn blitzschnell wieder in den Mund.

»Oje, eigentlich müsste ich ja dringend zum Sport«, meinte Charlie mit einem skeptischen Blick auf ihre Hüften. »Ach, scheiß drauf, lieber Kino«, entschied sie mit heftigem Kopfnicken. Sie biss die Lippen zusammen, streckte die Arme etwas aus und fing an, ganz schnell mit den Füßen abwechselnd auf der Stelle zu treten, wobei ihre Hüftregion ordentlich ins Vibrieren kam. Ich fragte mich erneut, woher sie diese Energie nahm.

»Jaaa, mach uns die Shakira«, feuerte Ben sie an.

Charlie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Figur. Manchmal kokettierte sie mit ihren weiblichen Rundungen und erheiterte uns mit spontanen Latino-Tanzeinlagen, manchmal haderte sie mit der Kilobande, die sich ungefragt ihrer Hüften bemächtigt hatte, wie sie es nannte. Es war nur der übertriebene Schlankheitswahn, den ihre Mutter ihr eingepflanzt hatte, denn sie sah sehr gut aus. Auch Ben war dieser Meinung, hätte es ihr aber nie gesagt. Stattdessen zog er sie gern mit den vermeintlichen Pfunden auf. Wie die meisten Jungs, die ich kannte, konnte auch er sich dem Reiz, in der Wunde herumzubohren, nicht entziehen.

»Gehen wir doch vorher noch ins Chillhouse auf einen Burger«, schlug Ben vor und sah Charlie mit hochgezogenen Augenbrauen gespannt an.

»Genau, ich muss ja meine Fettdepots wieder auffüllen, nicht?«, schnaubte Charlie mit gespielter Entrüstung, da sie offenbar eine Provokation hinter diesem Vorschlag vermutete.

»Ach, Charlie, du isst doch sowieso wieder nur Kaninchenfutter.« Ben sog die Unterlippe ein und bewegte die Oberlippe wie ein Karnickel über die vorderen Zähne.

»Ach, wir werden wieder drollig«, meinte sie schmallippig und verschränkte die Arme. »Weißt du eigentlich, wie schwer mir das fällt, euch reinhauen zu sehen, während ich auf einem Salatblatt herumkaue?«

»Und wenn es dann noch nicht mal was bringt«, legte Ben nach und setzte ein mitleidiges Gesicht auf.

Charlies Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. »Sehr charmant«, presste sie hervor und ich hatte den Eindruck, dass es ihr alle Beherrschung abrang, ihn nicht von der Mauer zu stoßen. »Im Übrigen solltest du auch mal mehr Vitamine zu dir nehmen, mein Lieber«, schnappte sie stattdessen zurück.

»Ich weiß schon, was mein Körper braucht, Charlie«, sagte Ben mit einem selbstgefälligen Ton und dehnte seinen Oberkörper, als wollte er sich strecken, wobei die Konturen seiner in letzter Zeit beachtlich gewachsenen Oberkörpermuskeln noch deutlicher unter seinem engen, weißen T-Shirt hervortraten.

»Ich meinte keine Steroide.« Sie machte eine abwertende Handbewegung, Marke »beeindruckt mich gar nicht«.

Ben erwiderte mit einer gelangweilten Gähn-Geste.

Ich hielt mich aus den Kabbeleien der beiden, wie meistens, geflissentlich heraus. Ich fand es viel amüsanter, zuzuhören. Es war kein Geheimnis, dass sie einander eigentlich mochten, aber die Wortgefechte waren ein liebgewonnenes Ritual geworden, wenn sie sich trafen. Mein Verdacht war, dass Ben damit versuchte, die zwei Jahre Altersunterschied zu kompensieren. Charlie schlug bei ihm oft den Ton einer älteren, belehrenden Schwester an und das nahm er schon seit einem guten Jahr nicht mehr kampflos hin. Irgendwann war er auf Kollisionskurs gegangen.

»Okay, was essen und dann Kino, alles klar!«, sagte ich und ging, um den Schlagabtausch zu beenden, demonstrativ zu Charlies Wagen.

»Aber schlaf im Kino bloß nicht ein«, verlangte Ben. »Das wäre echt peinlich, wenn du da rumschnarchst.«

»Also, wenn ich bei einem Horrorfilm einschlafe, dann muss er wirklich scheiße sein«, gab ich schnippisch zurück.

»Horrorfilm? Na klasse«, wiederholte Charlie mäßig begeistert und ging um ihr Auto herum zur Fahrertür. »Dann lasst uns mal los, Mädels.«

Ben bedachte diese Betitelung mit einem aufgesetzt verächtlichen Grinsen in ihre Richtung und ließ sich gemächlich von der Mauer rutschen.

Als er vor seinem Haus ausgestiegen war, meinte Charlie: »Wir holen dich gegen fünf wieder ab. Ach, und zieh doch zur Abwechslung mal ein enges T-Shirt an.« Dann gab sie schnell Gas, damit er nicht kontern konnte, und lachte glucksend. Im Rückspiegel sah ich, wie Ben mit der imaginären Kurbel den Mittelfinger anhob und schmunzelte.

Charlies Elternhaus war in Somerford, keine fünf Fahrminuten von uns entfernt. Sie hatte aber keine Lust, die Zeit dort zu überbrücken, sondern schmiss sich auf mein Bett, steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren und startete ihre Playlist. Während es mir endlich gelang, etwas Konzentration aufzubringen, um Dr. Moores heutige Berechnungen von Sinus- und Cosinuskurven nachzuvollziehen, wippte sie mit den Füßen und blätterte die Modemagazine durch, die Moms Freundin Rita mitgebracht hatte und die schließlich bei mir im Zimmer gelandet waren.

Kurz vor fünf saßen wir schon wieder in Charlies Auto. Ben stand wie verabredet vor dem Haus. Er trug eine lässige, etwas zu große Jeans und ein schwarzes, bedrucktes T-Shirt mit relativ kurzen Ärmeln, unter denen sich seine Bizepse hervorschoben. In der Hand hielt er eine Jacke. Wortlos stieg er ein. Erst, als er sicher auf seinem Platz saß, meinte er: »Fotos kannst du später machen, Charlie.«

Ich blickte mich zu ihm um und biss auf meine Lippen, um nicht zu lachen.

Charlie grinste zu mir herüber und meinte dann, in den Rückspiegel schauend: »Nur, wenn du dich noch einölst.« Dann trat sie unsanft das Gaspedal durch.

Unser Ziel war die Stadt Bournemouth, eine knappe halbe Autostunde entfernt in westlicher Richtung. Dort pulsierte, zumindest im Sommer, das Leben, wenn junge Sprachstudenten aus aller Welt kamen und die Stadt für ein paar Wochen aus ihrem Winterschlaf erwachte. Die Strände waren dann heillos überfüllt und Tausende blau-weiß und rot-weiß gestreifte Liegestühle entlang der kilometerlangen Küste beherrschten das Bild, bis sie am Abend unter lautem Geklapper von den Beachboys wieder eingesammelt und aufeinandergestapelt wurden. Auf den Rasenflächen der Gardens saßen chillende Studenten in kleinen Grüppchen, es wurde Gitarre gespielt, bis in die lauen Nächte hinein, und manchmal, besonders im August zu den Candlelight Nights, mischten wir uns unter sie. Wenn der Sommer sich dem Ende zuneigte, so wie jetzt, kehrte an den Stränden langsam Ruhe ein und das Wasser gehörte wieder hauptsächlich den Surfern.

In Rekordzeit erreichten wir Boscombe und ich bat Charlie im letzten Moment, den East Overcliff Drive entlangzufahren, weil ich den Ausblick so sehr mochte. Sie bog, ein tuckerndes Fahrzeug schneidend, rasant von der Hauptstraße ab in Richtung Küste. Träumerisch sah ich aus dem Seitenfenster, während Charlie Bens neckende Kommentare zu ihrer Fahrweise schließlich mit dem Angebot beendete, sie könne ihn jederzeit gern an einer Bushaltestelle oder auch mitten auf der Autobahn absetzen.

Verträumt blickte ich runter zum Strand, wo die letzten Strandbesucher in der Abendsonne lange Schatten erzeugten. In der Nähe des weit ins Wasser ragenden Bournemouth Piers badeten sogar noch einige im Meer. Ein Mann spielte mit einem kleinen Jungen an der Wasserkante Fußball.

Charlie lenkte den Wagen auf den Parkplatz am Pavillon und ergatterte den letzten freien Platz. »Na bitte, wer sagt’s denn!«, meinte sie triumphierend.

Nachdem wir unter Bens Protest noch ein Schuhgeschäft aufgesucht und danach unter dem unaufhörlichen Zirpen der Zikaden im Garten des Chillhouse zweimal Burger und einmal Salat verdrückt hatten, wurde es Zeit, sich in die Schlange am Kino einzureihen. Ich schlang schnell meine zweite Cola herunter, während Charlie sich beim Aufstehen die letzten Pommes frites von meinem Teller angelte.

Vor dem Kinosaal Nummer eins trafen wir Nic und Keira und ich machte ihnen mit gespielt ernster Miene klar, dass wir nur auf ihre Empfehlung hier seien und dass ich mich bitter bei ihnen beschweren würde, wenn der Film Schrott sei, worauf Charlie mich kichernd in die Seite knuffte.

Beim Rausgehen standen wir wieder in einer Schlange. Natürlich hatten sich alle gleichzeitig erhoben, um zum Ausgang zu gelangen. Nic und Keira sahen wir nicht mehr. »Die haben sich wohl schnell verdrückt«, sagte ich grinsend, »dabei fand ich den Film gar nicht mal sooo übel.«

»War ganz okay. Er war ja eher mystisch. Ich hasse es, wenn Blut spritzt«, meinte Charlie. Sie zog eine angewiderte Grimasse und deutete mit ihren Händen das spritzende Blut an: »Pschhh, pschhhh.«

»Ihh.« Ich wehrte die imaginäre Fontäne mit erhobenen Händen ab und machte meinerseits eine Geste, als säuberte ich mir die Schultern.

Lachend gingen wir durchs Foyer. Ben traf einen Jungen aus seinem Computerclub. Er hieß Gary Wong. Ich kannte ihn vom Chemiekurs im letzten Jahr. Ein ziemlich intelligenter, netter Typ. Wir nickten uns freundlich zu und Ben sagte: »Geht ruhig schon mal vor, ich komme gleich nach.«

Es war etwas kühler geworden, daher zog ich meine Wolljacke über, als wir auf die Straße traten.

»Oh nein, shit«, rief Charlie, »ich habe meine Jacke liegen lassen. Bin gleich wieder da.« Sie sprintete wieder zurück ins Kino und ließ mich allein auf dem Bürgersteig zurück.

Ich postierte mich direkt vor dem großen mit Preview-Kinoplakaten dekorierten Schaufenster und wippte auf meinen Sneakers auf und ab. Als ein Luftzug mich streifte, zog ich meine Wolljacke enger über der Brust zusammen, um mich noch mehr einzukuscheln. Ich war müde, fror und wollte nur noch ins Bett. Der Strom der hinausgehenden Kinobesucher hatte sich relativ schnell aufgelöst und so stand ich nun allein vor dem erleuchteten Fenster. Herzhaft gähnend sah ich, ohne etwas zu fokussieren, geradeaus in Richtung der hohen Hecke an den Parkanlagen. Auf einmal glaubte ich, eine deutliche Bewegung, die ich nicht einordnen konnte, wahrzunehmen, und stellte meinen Blick scharf. Die Blätter des üppigen Rhododendronbusches am windgeschützten Eingang zu den Gardens bewegten sich kaum. Die Bewegung musste also von etwas anderem herrühren. Leider fiel wenig Licht dorthin. Um alles andere auszublenden und noch besser sehen zu können, verengte ich meine Augen zu kleinen Schlitzen. Alles war reglos. Doch dann hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich direkt aus dem Blattwerk heraus angesehen wurde. Für einen kurzen Moment glaubte ich sogar, ein Paar dunkle Augen zu sehen. Du spinnst jetzt total, dachte ich bei mir. Aber da war es wieder. Erst das Augenpaar, dann, ich blinzelte ungläubig, schien sich aus dem Dunkeln eine Gestalt zu schälen. Sie war nicht klar zu erkennen, eher diffus. Ich bekam eine Gänsehaut. Bildete ich mir das nur ein? Nun glaubte ich, die Umrisse eines Gesichtes zu erkennen, einer Schulter, aber es wurde nicht deutlicher. Die Erscheinung schien nicht weiter aus der Deckung hervortreten zu wollen oder zu können. Ich schluckte. Was passierte hier gerade? Zögernd, die Augen immer noch eng zusammengekniffen, machte ich einen Schritt nach vorn. Dann noch einen. Ich bewegte meinen Kopf hin und her, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen, eine Reflektion auszuschließen. Auf einmal löste sich die Gestalt wieder komplett auf.

Als ich meine Augen wieder zur normalen Größe öffnete, fühlte ich mich wie aus einer Trance erwachend und bemerkte, wie ich die Büsche anglotzte. Und es gab definitiv nichts anderes zu sehen als einen Haufen Blätter. Ich war geneigt, zu glauben, dass es eine Art Halluzination war, hervorgerufen durch an Bewusstlosigkeit grenzende Müdigkeit und zu viel Konsum von Horrorfilmen. »Jetzt drehst du völlig ab«, murmelte ich kopfschüttelnd vor mich hin.

»Wer dreht ab?«, fragte Ben, der lautlos von hinten an mich herangetreten war.

»Ich. Ich hab schon Wahnvorstellungen vor lauter Müdigkeit. Ich muss ins Bett.« Zum Glück ging er nicht näher darauf ein. Ich hatte auch nicht die geringste Lust darauf, dass er mich für durchgeknallt hielt.

»Wo ist Charlie?«, fragte er stattdessen, sich nach links und rechts umblickend.

»Sie holt noch ihre Jacke. Ah, da ist sie ja.«

Charlie kam eilenden Schrittes in ihrer kurzen, schwarzen Blazerjacke auf uns zu und verkündete krächzend: »Zum Glück war sie noch da. Ich hatte sie irgendwie in den Spalt zwischen Lehne und Sitz gedrückt.«

»Kein Wunder, bei dem Ausleger«, murmelte Ben grinsend.

»Du fängst dir gleich eine«, zischte sie Ben an und drohte mit ihrer geballten Faust. Er tat, als fürchtete er sich und suchte Schutz hinter meinem Rücken.

»Oh bitte, nicht schon wieder.« Das letzte Wort dehnte ich genervt. Wie ein Zombie stapfte ich in Richtung Auto voraus. Ich war wirklich hundemüde.

Im Augenwinkel sah ich, wie Charlie einige Schwinger in Bens Richtung austeilte, denen er jedoch geschickt auswich. Frustriert gab sie ihr Vorhaben auf. »Ben geht heute zu Fuß nach Hause«, sagte sie stattdessen laut, als sie mich einholte. Weiter hinter uns hörten wir Ben hell lachen. Er war stehen geblieben und hielt sich den Bauch. »Lach nur. Du wirst schon sehen«, rief sie ihm mit bissigem Blick zu und zerrte an meinem Arm, um mich zu einem schnelleren Schritt zu bewegen.

»Das ist Kindergarten, Leute. Glaubt ihr, ihr seid schneller als ich?« Sein Lachen ging in ein Kichern über.

Charlie hatte inzwischen so beschleunigt, dass ich fast stolperte. Wir erreichten den Mini und sie sprang zur Fahrertür. »Los, los«, feuerte sie mich an und ich riss gehorsam die Beifahrertür auf.

Keuchend erschien Ben neben mir und schob mich beiseite. »Darf ich mal, Ladys?« Katzengleich schob er sich an mir vorbei auf den Rücksitz. Ich musste grinsen, aber Charlie verpasste dem in der Falle Sitzenden einen kräftigen Schlag auf den Oberarm. »Au«, machte Ben und setzte eine beleidigte Miene auf. »Was hab ich denn gemacht?«

»Übertreib es nicht«, funkelte Charlie ihn böse an, weitere Bestrafung mit ihrer erhobenen Hand andeutend. Ben kreuzte abwehrend die Arme vor der Stirn und seine Mundwinkel zuckten verdächtig. Charlie drehte sich wieder nach vorn, warf mir zwinkernd einen Blick zu und startete den Wagen.

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer

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