Читать книгу Corona & Amore - Susanne Tammena - Страница 2
1. Tag
ОглавлениеDas Haus mit der Nummer 19 gehörte zu dem Abschnitt der Konrad-Adenauer-Allee, auf dem sich der Straßenfluss aus der einige Hundert Meter währenden Enge zwischen vielstöckigen Mehrfamilienhäusern in eine großzügige Weite zu ergießen schien, einem Tal gleich, das Licht und Luft zum Atmen bot, und dem Strom des Verkehrs endlich den nötigen Raum zugestand, sich ausbreiten zu können. Tatsächlich versickerte jedoch auf diesen letzten Metern vor den Sportanlagen des Schulzentrums sowohl der Verkehr als auch der Menschenstrom, als handele es sich um die dürre Einöde eines Hochplateaus, einen Ort ohne Wiederkehr für gestrandete Existenzen. Der Zugang zu den Sportplätzen lag auf der anderen Seite der Anlage am Hölderlinpark, und tatsächlich war die Konrad-Adenauer-Allee trotz ihres großartigen Namens eine Sackgasse und endete vor einem grünen Gitterzaun.
Die wenigen Einfamilienhäuser, die hier standen, hatten großzügige Grundstücke mit breiten Auffahrten. In den achtziger Jahren war das Gelände Teil des Gewerbegebietes Hölderlinplatz Nord gewesen, das auch heute noch jenseits des Schulzentrums existierte, und die hier am Ende der Allee stehenden Häuser verdankten ihre Existenz nur dem fehlenden Bedarf an Gewerbegrundstücken in der mittelgroßen Stadt, die zu einer Umwidmung im Raumnutzungsplan geführt hatte. Trotz der vierzig Jahre, die seitdem vergangen waren, wirkte das Gelände noch immer nicht wie eine echte Wohngegend, sondern wie eine zufällig bewohnte Brache, die Häuser von großen Rasenflächen und niedrigen Zäunen umgeben, doch kaum Hecken, Bäume oder Sträucher schufen eine Illusion von Gartenkultur.
Das Haus mit der Nummer 19 war rundherum hell erleuchtet, und aus einem kleinen, offenstehenden Fenster, das vermutlich zu einer Gästetoilette gehörte, da es sich direkt neben der Eingangstür befand und mit undurchsichtigem Glas versehen war, drang laute Musik, deren starke Bässe Anna auch durch die Tür hindurch bis in ihre Fußspitzen spüren konnte. Sie hatte den kleinen Transporter mit der Aufschrift ‚Ristorante Napoli‘, den sie neuerdings zum Ausliefern der Pizza benutzte, an der Bordsteinkante geparkt. Seit einer Woche war der Restaurantbetrieb so weit eingeschränkt, dass ein Besuch des Lokals niemandem mehr wirklich Freude bereitete, doch seitdem waren die Außer-Haus-Bestellungen sprunghaft angestiegen. Glücklicherweise, betonte ihr Vater Angelo täglich, denn so hatten sie zumindest ein wenig an Umsatz zu verbuchen. Dass Anna jetzt den Lieferwagen fuhr, statt im Restaurant an den Tischen zu bedienen, gefiel ihr allerdings überhaupt nicht. Das war Martins Job gewesen, doch den hatte ihr Vater in der vorigen Woche nach Hause geschickt. Mit ihr als Tochter konnte er das natürlich nicht machen, andererseits konnte er auch viel freier über sie verfügen, als Martin es sich hätte gefallen lassen, ein Dilemma, das sie manchmal ihre dunklen Locken schütteln ließ, aber nur manchmal, meistens fühlte sie sich ganz wohl in ihrer Position, die so passgenau zugeschnitten war auf ihr Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Sozialkontakten, ohne ihr dabei allzu viel Eigenverantwortung abzuverlangen.
Anna drückte auf den Klingelknopf und wartete. Den Geräuschen im Haus und der Bestellung nach zu urteilen, feierten die da drin eine Party mit mindestens fünfzehn Leuten. War das überhaupt erlaubt? Die Lautstärke lag sicherlich weit über dem, was man Nachbarn eigentlich zumuten durfte, doch die Nachbarschaft lag in geradezu bedrückender Stille da. Kein Licht in den Fenstern, kein Geräusch kläffender Hunde, nicht einmal das blaue Licht eingeschalteter Fernsehgeräte war zu entdecken. Nur die Nummer 19 pulsierte stetig und ungebremst wie ein gut funktionierender Herzmuskel den Techno-Beat auf die Straße und leuchtete dabei wie ein Weihnachtsbaum.
Anna klingelte noch einmal. Es war die letzte Adresse, die sie heute beliefern musste, ein Blick auf ihr Handy zeigte ihr, dass es schon nach 22 Uhr war. Sie wollte endlich nach Hause. Die Kälte der beginnenden Märznacht war inzwischen durch die Sohlen ihrer Turnschuhe gedrungen, und die Pizza in den fünf Pappkartons, die sie auf ihrer rechten Hand balancierte, war sicherlich auch schon bedenklich abgekühlt. Vielleicht war auch nur die Klingel kaputt, überlegte Anna und lauschte angespannt, als sie ein weiteres Mal den Finger auf den Knopf legte und ihn gedrückt hielt. Als die Musik für einen kurzen Moment aussetzte, weil das Stück vorbei war, hörte sie tief im Innern des Gebäudes einen schrillen Ton, der ihr selbst aus der Entfernung durch Mark und Bein ging, doch gleich darauf setzte der stampfende Bass erneut ein und es war nichts anderes mehr wahrzunehmen.
Sie fühlte Zorn in sich aufsteigen und hielt die Klingel trotz der vermutlichen Vergeblichkeit weiter gedrückt, bis die Haustür mit Schwung aufgerissen wurde und ein Mann um die dreißig in Trainingsanzug vor ihr Stand.
„Na endlich!“, hatte er die Frechheit zu sagen, nahm ihr aber glücklicherweise den Stapel Pizzakartons aus der Hand und stellte sie neben sich im Hausflur ab.
„Und der Rest?“, fragte er wenig hilfreich, obwohl Anna sich schon halb zum Gehweg umgedreht hatte, um die restlichen zehn Kartons aus dem Kofferraum des Autos zu holen. Sie sparte sich die Mühe einer Antwort, stieß ihm den Kartonstapel etwas unsanft in die Arme und fragte ihrerseits unwirsch:
„Sollten größere Menschenansammlungen nicht eigentlich vermieden werden? Wegen der Ansteckungsgefahr?“
Sie schaute ihn böse an. Oberlehrerinnenhaftes Benehmen war sonst nicht ihre Art, aber sie ließ sich auch nicht gerne herumscheuchen. Er hätte seine Hilfe zumindest anbieten können. Zu ihrer Überraschung lachte er jetzt jedoch, wodurch sein etwas ungepflegtes Gesicht mit den hellen Bartstoppeln ein sympathisches Aussehen bekam.
„Schon zu spät! Wir sind alle in Quarantäne. Da können wir die letzten Tage der Menschheit auch in vollen Zügen genießen.“
Anna wurde blass und trat instinktiv einen Schritt zurück.
„Sollten Sie dann nicht zumindest einen Mundschutz tragen, wenn sie die Tür öffnen?“, fragte sie entrüstet, und tatsächlich wurde ihr Gegenüber ernst und schaute etwas betroffen drein.
„Sorry, da haben Sie wohl recht, wir sind erst seit heute da und noch nicht so gut organisiert.“
Er wendete sich von der offenen Tür ab und kramte auf einem Tischchen hinter dem großen Stapel Pizzakartons herum. Anna konnte einen ganzen Karton mit Gesichtsmasken erkennen, aus dem er einen Mundschutz nahm und die Gummis hinter die Ohrmuscheln zog. Als die Maske korrekt saß, fragte er versöhnlich:
„So besser?“, und Anna nickte stumm. Er musterte sie einige Augenblicke, bevor er mit zellstoffgedämpfter Stimme, die über dem Technobeat kaum noch zu verstehen war, fragte:
„Was bekommen Sie eigentlich von mir?“
„105,90€“, antwortete Anna und reichte ihm vorsichtig Abstand haltend den Kassenbon.
Der Mann zog einige zerknitterte Geldscheine aus der Hosentasche und entfaltete sie, dann zählte er 110€ ab und streckte ihr die Hand entgegen. Anna verfluchte sich, dass sie wegen der milden Tage in der letzten Woche ihre Handschuhe zu Hause gelassen hatte.
„Ist eine Virusübertragung über Papier möglich?“, fragte sie verunsichert, hielt ihm dann aber, statt eine Antwort abzuwarten, das große Kellnerportemonnaie hin, damit er die Scheine selbst hineinstecken konnte.
„In der Zeitung stand, dass eine Übertragung über Zeitungspapier nicht möglich ist. Habe ich in der Spalte mit den Corona-FAQs gelesen“, antwortete er.
Jetzt musste Anna lachen.
„Das schreiben sie doch sicher nur, damit ihnen überhaupt noch jemand die Zeitungen abnimmt.“
Der Mann lächelte ebenfalls unter seiner Schutzmaske, sie konnte es an den Falten in seinen Augenwinkeln erkennen.
„Wahrscheinlich“, brummelte er und strich sich die ungekämmten Locken aus der Stirn. Dann hob er zum Abschiedsgruß die Hand und Anna wendete sich zum Gehen. Als sie schon auf halbem Weg zum Auto war, rief er noch einmal hinter ihr her. Er hatte den Mundschutz wieder nach oben geschoben, der jetzt wie ein Faschingshütchen in seinem dichten blonden Haar saß.
„Hätten Sie nicht Lust hierzubleiben?“, fragte er mit daher gut vernehmlicher Stimme. Anna hob ungläubig die Augenbrauen.
„Nein, auf keinen Fall“, antwortete sie mit fragendem Unterton in der Stimme und schnaubte leise.
„‘Tschuldigung, ich frag‘ ja nur“, entgegnete er tatsächlich enttäuscht und fuhr dann fort: „Hier sind nur Männer, wissen Sie, ist irgendwie traurig.“
Anna schnaubte noch einmal, dann stieg sie kopfschüttelnd ins Auto. Erst als sie den Wagen mit einiger Mühe gewendet hatte, weil sich der Rückwärtsgang des Lieferwagens nur schwer einlegen ließ, sah sie aus dem Augenwinkel die Haustür ins Schloss fallen.
*
Die Straßen lagen in der Dunkelheit tatsächlich so leer und verlassen da, als bestünde bereits die Ausgangssperre, die nach China auch Italien schon verhängt hatte und die seit Tagen wie ein Schreckgespenst durch die deutschen Medien geisterte. ‚Unheimlich‘, dachte Anna, als sie den Lieferwagen erschöpft vor dem Restaurant abstellte. Sie wünschte sich zurück in die turbulente Geschäftigkeit des Lokals, mit ihrem Vater in seiner Pizzabäckernische, der lautstarke Anweisungen, halb auf italienisch, halb auf deutsch auf seine Angestellten regnen ließ. An diesem Abend hatte er dort allein gestanden, in einer Stille, in der man das schleifende Geräusch hören konnte, das der Hefeteig machte, wenn er über die bemehlte Arbeitsfläche gezogen wurde. Ohne den Trubel der Gäste, die eilig in die warmen Räume eintraten, sich die Kälte aus den Mänteln klopften und an den für sie reservierten Tischen Platz nahmen, nur um dann später am Abend um so träger Abschied zu nehmen,
musste ihr Vater auch keine Anweisungen ans Personal geben, trotz der langen Liste an Auslieferungen, die anstanden. Die Stille ihres Vaters war für Anna noch bedrückender als die Leere des Lokals, so dass sie eigentlich dankbar hätte sein müssen, beidem durch die Lieferfahrten entkommen zu können. Doch die Situation insgesamt stimmte sie so hoffnungslos, dass ihre persönliche Verfassung tatsächlich dem entsprach, was die Regierung seit Tagen propagierte: Die Lage war ernst und jeder leichtfertige Umgang mit der Situation unbedingt zu vermeiden.
Müde durchquerte sie das Restaurant, warf ihrem Vater zur Abrechnung das Portemonnaie auf den Tresen und stieg über die dunkle Mahagonitreppe, deren Lauf hinter der Tür mit der Aufschrift ‚Privat‘ begann, hinauf bis ins zweite Obergeschoss, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester Chiara und ihrer Freundin Marit in einer Wohngemeinschaft lebte.
Angelo Ferucci hatte das Haus gekauft, als er die Pizzeria vor fünfzehn Jahren eröffnete, und seitdem wohnte die Familie direkt über dem Restaurant. Die Wohnung in der zweiten Etage war lange vermietet gewesen, doch für Annas Vater war es eine Selbstverständlichkeit, dass er für seine Töchter Eigenbedarf anmeldete. Am liebsten hätte er sie im ersten Stock behalten, doch dass wäre wohl an Chiaras entschiedenem Widerstand gescheitert. Eine kostenlose eigene Wohnung konnten die Mädchen dagegen kaum ablehnen.
*
Marit hatte das Licht in der Küche nicht eingeschaltet und stand am Fenster, als Anna die Wohnung betrat. Von der Straßenbeleuchtung gelangte ein fahler Lichtschein bis zu ihnen herauf, so das Marits Silhouette wie ein dunkler Fleck vor dem Fenster erschien.
„Hat es einen Grund, dass du hier im Dunkeln stehst?“, fragte Anna irritiert und strich sich müde das lange dunkle Haar aus der Stirn.
„Man kann besser hinausschauen“, antwortete Marit mit monotoner Stimme ohne sich umzudrehen, „Wenn ich das Licht anmache, sehe ich nur noch mein Spiegelbild in der Scheibe, dafür können mich dann alle Nachbarn sehen, als stünde ich auf einem Präsentierteller. Und alle würden sie gucken, denn es gibt ansonsten nichts zu sehen. Nichts, nichts, nichts.“
Marit seufzte und drehte sich zu Anna um. Mit leichter Verzweiflung in der Stimme fragte sie:
„Kann das wirklich ein Freitag Abend sein? So tote Hose, es ist zum Eingehen!“
„Ich war gerade an einem Haus, das war das absolute Gegenteil von toter Hose. Party bis zum Umfallen mit mindestens 15 Leuten“, entgegnete Anna, schaltete das Licht ein und setzte sich an den Küchentisch. Marit schaute sie ungläubig an.
„Wie bitte? Wo das denn?“, fragte sie, und setzte bestimmt hinzu: „Da muss ich hin, ich sterbe vor Langeweile!“
„Konrad-Adenauer-Allee 19. Aber glaub mir, da willst du nicht hin“, antwortete Anna und berichtete kurz von ihrem Erlebnis am Quarantänehaus.
„Scheiße“, kommentierte Marit, „Aber trotzdem irgendwie beneidenswert. Die können wenigstens einen draufmachen, ohne von der Polizei gestört zu werden.“
„Ich glaube schon, dass die Polizei stören würde, nur die Nachbarn trauen sich nicht“, war Anna überzeugt, dann fragte sie Marit nach Neuigkeiten an ihrem Arbeitsplatz. Marit arbeitete als Sozialarbeiterin im „Birkenhain“, einer Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der Name war ein wunderbarer Euphemismus für die Tatsache, dass für den Bau der Tagesstätte und weiterer sozialer Einrichtungen, die hier entstanden waren, ein kleines Birkenwäldchen hatte weichen müssen, von dem heute nur noch drei dürre Exemplare am Rande eines Parkplatzes existierten. Marit leitete dort das Café, das die Anlaufstelle für eine ganze Reihe depressiver, neurotischer und schizophrener Menschen darstellte, deren seelische Verfassung sich nach Tiefschlägen und medikamentösen Behandlungen gerade so weit stabilisiert hatte, dass sie es wagten, wieder unter Leute zu gehen. Etliche von ihnen saßen den ganzen Tag bei ihr, halfen manchmal auch hinter dem Tresen aus und verließen die hellen und freundlichen Räume nur, um gemeinschaftlich im Innenhof zu rauchen. Die einzige Struktur ihres Tages bildeten die Schließzeiten der Tagesstätte, und um 18.00 Uhr am Abend konnte man einen Treck empfindlich gestörter Seelen vom Birkenhain aus in Richtung Innenstadt wandern sehen, wo sie sich langsam vereinzelten und ein jeder und eine jede sich ins private Schneckenhaus zurückzog und einsam die Nacht verbrachte.
Zum Birkenhain gehörte natürlich mehr als nur das Café, es gab Sporträume, Werkstätten und einen großen Garten, in denen den Besuchern alle möglichen Angebote zur Freizeitgestaltung gemacht wurden. Doch diese Angebote waren inzwischen im Zuge der Coronaschutzmaßnahmen gestrichen worden. Geöffnet hatte nur noch das Café, denn dessen Schließung wäre de facto einer Schließung der Tagesstätte gleichgekommen, und diese Maßnahme hatten Marit und ihre Kolleginnen bislang verhindern können.
„Es ist fürchterlich“, berichtete Marit, „Das Café wird immer voller statt leerer, seit die Angebote zusammengestrichen wurden. Wie soll man bei vierzig Besuchern an zwanzig Tischen auf einen Mindestabstand von zwei Metern achten? Und einfach nach Hause schicken kann ich sie auch nicht. Die drehen mir doch sonst durch. Ab nächster Woche haben wir Schichten eingeteilt, und alle dürfen nur noch jeden zweiten Tag kommen. Dafür machen wir zusätzlich auch am Samstag auf. Wenn das immer noch nicht ausreicht, müssen wir auch noch in Vormittags- und Nachmittagsschichten einteilen.“
Marit rieb sich die Augen. Die Enttäuschungen, die sie ihren Besuchern an diesem Nachmittag hatte bereiten müssen, hatten sie mehr erschöpft als drei Wochen zielgerichtete Arbeit und sie schien auch schlagartig nicht mehr in Ausgehstimmung zu sein.
„Morgen ist auf unabsehbare Zeit mein letzter freier Samstag.“
„Tut mir Leid“, sagte Anna voller Mitgefühl, obwohl sie selbst vor drei Jahren ihr letztes freies Wochenende gehabt hatte. Aber das war natürlich etwas anderes, in der Gastronomie lief immer alles anders.
Marits Haare leuchteten unter der Küchenlampe in ihrem hellen natürlichen Gold und den kräftig dunkelgrünen und silberfarbenen Strähnen, die sie sich vor einigen Wochen auf der linken Seite hineingefärbt hatte. Die Haare über dem rechten Ohr hatte sie dagegen so kurz geschoren, dass die verbliebenen Stoppeln wie der Flor eines Teppichs zum Darüberstreichen animierten. Es war die Reaktion auf ihre Trennung von Erik gewesen, den sie sehr geliebt hatte, bevor er mit einer Kollegin ein Kind gezeugt hatte. Eigentlich liebte sie ihn noch immer, aber seine Entscheidung war eine endgültige gewesen.
„Ist Chiara noch nicht wieder da?“, fragte Anna, während sie im Kühlschrank nach verwertbaren Lebensmitteln für ein schnelles Abendessen suchte. Dass sie im Restaurant arbeitete, hatte irgendwie stillschweigend dazu geführt, dass die Frage der Mahlzeiten meistens von ihr beantwortet werden musste. Eine Tatsache, über die sie sich manchmal ärgerte, wenn sie ohnehin schlechter Stimmung war und sämtliche Ungerechtigkeiten des Lebens ihr Bewusstsein fluteten. Doch an den meisten Tagen akzeptierte sie es gern als eine Aufgabe, die ihr ganz gerechterweise als der Qualifiziertesten zugefallen war. Marit schüttelte den Kopf und murmelte gedankenverloren: „Nicht so viel Knoblauch“, als wenig später der wunderbare Duft von Olivenöl und Kräutern aus der heißen Pfanne stieg. Anna schwenkte die übriggebliebenen Spaghetti vom Mittagessen durch das heiße Öl und stellte die Pfanne mit einem Strohuntersetzer auf den Tisch. Marit holte zwei Gabeln aus der Schublade und sie aßen direkt aus der Pfanne.
Gutes Essen basierte auf guten Zutaten und guter Zubereitung und nicht auf der Formvollendung der Tafel, diese Ansicht hatte Angelo ihr vererbt. Chiara war da allerdings etwas eigen und empfand schon seit Jahren die Tischmanieren ihrer Familie in allen Punkten, die sie von den Sitten in den Häusern ihrer Schulkameradinnen unterschied, als zutiefst verachtungswürdig. Aber nun war sie ja nicht dabei, und Anna genoss die Freiheit, ohne drohende Kritik mit der Gabel in der schweren gusseisernen Pfanne herumstochern zu dürfen.
„Die Corona-Maßnahmen sind wirklich eine Katastrophe“, sagte Marit, nachdem sie das Essen weitgehend schweigend beendet hatten.
„Wieso?“, fragte Anna halbherzig, „Sie sind doch ganz vernünftig und plausibel, oder etwa nicht?“
„Kann sein, aber dann ist Corona eben eine Katastrophe“, gab Marit zu, was Anna zum Lachen brachte.
„Stimmt!“, gab sie ihrer Freundin scherzhaft recht, „Aber warum im Besonderen?“
Marit war nicht in der richtigen Stimmung für Spitzfindigkeiten, weshalb sie bereits die Lust verloren hatte, Anna eine Antwort zu geben. Doch ihre Freundin spürte ihren Verdruss und fragte mit echtem Interesse in der Stimme noch einmal nach.
„Was bereitet dir Sorgen?“
Marit seufzte und raffte sich zu einer Antwort auf.
„All die Zwangsneurotiker, denen wir über die Jahre beigebracht haben, sich nicht ständig fieberhaft zu schrubben – jetzt sollen wir ihnen das Gegenteil erzählen und sie zum dauernden Händewaschen anhalten, und sie werden um Jahre zurückgeworfen. Die Hypochonder, die sich auf einmal in bester Gesellschaft sehen. Und was ist mit den Depressiven, die man jetzt allein zu Hause lässt? Was ist mit den ganzen unerkannten Fällen, die nur deswegen noch nicht von der Brücke gesprungen sind, weil sie am Arbeitsplatz ein paar nette Kollegen haben, und die jetzt niemanden mehr sehen. Auch Selbsthilfegruppen treffen sich nur noch eingeschränkt. So viele Psychotherapeuten hat das Land nicht, um alles in Einzeltherapien per Videokonferenz aufzufangen. Ich frage mich, wann der erste Amokläufer durch die Stadt rennt, weil er denkt, sein klopfendes Heizungsrohr sende in Wirklichkeit Morsesignale aus dem Weltraum.“
Anna verkniff sich ein Lachen. Marit hatte täglich mit solch geistig fehlgeleiteten Personen zu tun, ihre Befürchtungen musste man ernst nehmen. Doch eine allen Umständen angemessene Konsequenz ließ sich daraus kaum ziehen. Kopfschüttelnd fuhr Marit fort.
„Ich frage mich, welche Statistik uns am Ende dieser Tage in Angst und Schrecken versetzen wird, die der Toten oder die der Psychopathen.“
„Aber wie soll die Regierung sonst damit umgehen?“, fragte Anna, die die ihnen allen auferlegte Isolation tatsächlich für ein notwendiges Opfer hielt, dass nun einmal gebracht werden musste.
„Wir zerstören gerade Teile einer gut funktionierenden Gesellschaft, ihre Wirtschaft, ihre Sozialsysteme, um einige Tausend Alte und Immungeschwächte zu schützen. Deren Tod wäre eine Art natürliche Auslese. Stattdessen lassen wir zu ihrem Schutz andere krepieren“, behauptete Marit bitter.
Anna wurde bei dieser Äußerung zutiefst unwohl. Alles in ihr sträubte sich gegen die Vorstellung auch nur einen einzigen Toten als notwendiges Opfer zu akzeptieren.
„Das klingt so unglaublich zynisch, als wärst du nur noch einen Katzensprung von der Idee des Volkskörpers entfernt, in dem schwache Elemente ausgemerzt werden müssen“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Quatsch“, verteidigte Marit ihre Position, „ich rede ja eben nicht von ‚Ausmerzen‘, sondern von natürlicher Selektion. Covid-19 wird doch in ein paar Wochen nicht verschwunden sein. Es ist doch eine glatte Lüge, wenn man behauptete, man wolle die Alten schützen. In Wirklichkeit schützt das System sich selbst. Nichts wäre für den Gesundheitsminister entsetzlicher, als zugeben zu müssen, dass auch nur ein Coronapatient wegen fehlender Geräte oder eines fehlenden Platzes auf der Intensivstation nicht behandelt werden konnte. Ein deutscher Arzt, der sich entscheiden müsste, wen seiner Patienten er behandelt und wen nicht – das ist das eigentliche Horrorszenario, das riecht zu sehr nach unnatürlicher Auslese, nach Euthanasie!“
Marit hatte sich in Rage geredet.
„Wenn sie aber alle hübsch hintereinander sterben, wohl versorgt mit Sauerstoff und Schläuchen – dann kann dagegen niemandem ein Vorwurf gemacht werden. Sterben werden die Alten aber so oder so.“
Anna fehlten die Argumente, mit denen sie die Meinung ihrer Freundin hätte widerlegen können, doch ganz ohne Widerspruch wollte sie sie auch nicht stehenlassen.
„Das kann ich nicht glauben. Nicht, dass alle Alten sowieso sterben würden, und auch nicht, dass in den Krankenhäusern bei anständiger Therapie nicht auch Patienten geheilt würden. Und was ist mit der Arbeit an den Impfstoffen? Natürlich ist es ein Wettlauf gegen das Virus, deswegen muss es verlangsamt werden.“
Marit erwiderte nichts mehr darauf. Diskussionen zwischen ihnen endeten häufig damit, dass Marit Annas Meinung einfach im Raum stehen ließ, ohne noch einmal darauf einzugehen, und trotz dieses letzten Wortes, das damit ihres war, was doch eigentlich wohl bedeutet hätte, dass sie den Sieg in der Auseinandersetzung davongetragen hatte, blieb in Anna stets das Gefühl zurück, die Unterlegene zu sein.
„Ich gehe jetzt ins Bett! Gute Nacht“, verabschiedete Marit sich, und Anna nickte.