Читать книгу Corona & Amore - Susanne Tammena - Страница 3

2. Tag

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Die Straße lag noch in tiefster Dunkelheit, als Chiara am folgenden Morgen das Haus verließ, in dem sie - ohne etwas zu essen - nur einige Stunden mit Schlaf verbracht hatte. Sie hatte Spätdienst gehabt, gleich würde sie Frühdienst haben, eine entsetzliche Zumutung, für ihre Füße noch mehr als für ihren müden Verstand, die in normalen Zeiten auf ihren erklärten Widerstand gestoßen wäre. Doppelschichten waren normal, das war sie gewöhnt, wenn man erst einmal da war, konnte man einfach weiterarbeiten. Aber diese für einen anständigen Schlaf viel zu kurze Unterbrechung grenzte an Folter. Aber die normalen Zeiten waren vorbei und sicherlich hätten die Personalräte am Klinikum nur ein müdes Lächeln für sie gehabt, wenn sie sich tatsächlich dazu entschlossen gehabt hätte, Beschwerde einzureichen.

Sie war keine Aufrührerin, keine egoistisch stets auf die eigenen Rechte bedachte Anklägerin, auch keine von den jammernden Heulsusen, die auch im normalen Betrieb schon ständig an Überlastung litten. Aber sie war es leid, immer für eben jene die Lücken stopfen zu müssen. Sandra war schon bei dem Gedanken an Covid-19-Notfälle krank geworden und hatte sie mit den ganz normalen Herz-Kreislauf-Patienten der Intensiv-Station alleine gelassen und Sandro war immer sehr gut darin, die eigene Work-Life-Balance zu wahren und während seiner Dienste möglichst keinen Handgriff zu viel zu tun. Seltsamerweise schaffte er es nie, Berichte zu Ende zu schreiben, abzuheften und die Unterlagen wegzusortieren. Regelmäßig arbeitete sie für ihn nach, und wenn sie selbst einmal in diese Situation geriet, machte sie selbstverständlich Überstunden. Es war einfach unfair!

Chiara holte tief Luft und zwang sich zum langsamen Durchatmen.

‚Reiß dich zusammen und werde nicht selber unfair‘, ermahnte sie sich, ‚Sandro ist nicht fauler als andere auch, er ist nur unsympathischer.‘

Zufrieden mit ihrer Leistung, von kleingeistig-anklägerischen Gedanken zugunsten einer gerechteren Betrachtungsweise abgerückt zu sein, schaffte sie es, noch einmal tief durchzuatmen, das Brustbein zu heben und die Schultern entspannt und breit nach hinten unten fallen zu lassen, ganz so, wie ihre Yoga-Lehrerin es ihr beigebracht hatte. Es war eine Übung, die ihr nie viel Mühe bereitet hatte, im Gegensatz zu den anderen Frauen, deren Schultermuskulatur wahlweise unter zerstörerischer Büroarbeit oder zu vielen Kaffeekränzchen so sehr gelitten hatte, dass eine aufrechte Haltung eine echte Herausforderung darstellte. Chiara dagegen konnte die schlanken Arme um ihren zierlichen Oberkörper winden wie die Schlangengöttin Kali und ihr Brustbein reckte sich dem Himmel zu, als wolle sie auch alle anderen Götter grüßen. Schwer fiel ihr nur das Lösen der Halsmuskulatur, der Übergang in die Schwerelosigkeit, mit der ihr Schädel über ihren Schultern zu schweben hatte, als sei er wie der einer Marionette an einem Faden aufgehängt. Chiara streckte ihre Nackenmuskulatur und fühlte einen leichten Schwindel, der vielleicht vom Schlafmangel herrührte, vielleicht aber auch dem kurzen Moment der Verunsicherung entsprang, in dem sie den himmlischen Herrschern, an die sie nicht glaubte und denen sie doch vertrauen musste, die Verantwortung über ihre Schritte übergab. Sie atmete vier Zählzeiten ein, die dem gleichmäßigen Takt entsprachen, mit dem sie einen Fuß vor den anderen setzte, bestimmt, bewusst und ohne zu zögern, und vier aus, fühlte sich stark und wieder Herrin ihrer selbst.

‚Du bist Krankenschwester geworden, um anderen zu helfen und nicht, um dich mit Kollegen zu streiten‘, sagte sie noch einmal zu sich selbst, als sie nach einem kurzen Fußmarsch von fünf Minuten auf dem Gelände des Klinikums ankam.

Der unbedingte Wunsch zu aufrichtigem Verhalten hatte schon immer ihr Handeln bestimmt, und so durchforstete sie stets auch ihr Gefühlsleben akribisch nach versteckten und womöglich unlauteren Motiven, die ihr Urteilsvermögen eventuell beeinflussten. Deswegen musste sie sich eingestehen, dass Stefan auch nicht mehr schaffte als Sandro. Im Gegenteil, jede seiner Bewegungen wurden mit einer Ruhe und Präzision ausgeführt, die eine Beschleunigung von vornherein zu verbieten schienen, und die in ihrer gemächlichen Gangart auch noch ansteckend wirkte. Wenn sie Stefan beim Arbeiten zusah, dann wurde sie sich sofort des Irrsinns ihrer eigenen durchgetakteten Bewegungsabläufe bewusst, den ehemals wohlüberlegten und inzwischen in Fleisch und Blut übergegangenen Handgriffen, die in ihrer Abfolge so durchdacht waren, dass ihre Hände niemals leer, aber auch niemals zu voll waren, um Schranktüren oder Registerschubladen zu öffnen oder notwendige Schalter zu betätigen. Wenn sie Stefan zusah, versuchte sie selbst zu entschleunigen, sie nahm sich kurz Zeit, wechselte ein freundliches Wort mit ihm und den anderen Kollegen und arbeitete dann etwas ruhiger weiter.

Wenn Sandro dagegen auf seine umständliche Art in den Schränken kramte, reizte sie der Anblick bis aufs Blut und sie spürte sich selber beim Arbeiten immer schneller werden, als könnte sie ihn dadurch mitreißen, verbissen schweigend in der Annahme, dass ihm seine eigene Unzulänglichkeit angesichts ihrer Effektivität doch wohl selbst auffallen müsse. Sogar jetzt musste sie bei dem Gedanken daran schnauben, so dass eine große weiße Wolke vor ihrem Gesicht in der Luft stehen blieb. Noch immer waren die Temperaturen nicht weit über den Gefrierpunkt gestiegen.

Stefan schaffte es, ihr die Zeit für ein Lächeln zu stehlen, und er traf sogar immer den richtigen Moment, um ihr zwischendurch einen Schluck Wasser zu reichen, ohne dass sie dafür Spritzen oder Kanülen hätte ablegen müssen. Und obwohl seine Langsamkeit ihr ihre eigene Geschwindigkeit bewusst machte und sie selber meinte, sich seiner Gangart anzupassen, war es in Wirklichkeit nur ihr Atem, der sich beruhigte und an Tiefe gewann, dem seinen nachspürte und sie mit so viel mehr Sauerstoff versorgte, dass ihre Bewegungen noch an Beschwingtheit zunahmen, bis ein glückseliger Tanz daraus wurde, ein Tanz mit Spritzen und Kanülen, aufschwingenden Schranktüren und sich unregelmäßig und doch berechenbar schließenden Registerschubläden, deren kurzes Zögern vor dem endgültigen Schließen eine besondere Würze in den sonst doch eher nüchternen Takt ihrer Arbeit brachte.

Leider arbeitete sie mit Stefan kaum noch zusammen, sondern sah ihn nur noch zum Schichtwechsel, bei der konzentrierten Übergabe der Patienten in andere Hände, wenn auch ihm kaum Zeit für ein Lächeln blieb. Auch heute gaben sie sich die Klinke in die Hand. Stefan gähnte verstohlen in seine Armbeuge hinein und strich sich anschließend mit der Hand über die hohe Stirn. Er war müde, er hatte gearbeitet, während sie schlief. Jetzt würde sie arbeiten während er schlief, und so würde es weitergehen, vermutlich bis an das Ende ihrer Tage.

Sobald sie die Verantwortung von Stefan übernommen hatte, blieb ihr keine Zeit mehr für fachfremde Gedanken und sie begann konzentriert ihr Tagewerk.

*

Auch gegen Mittag, als Spicy die Tür seines Tankstellenshops verschließen wollte, waren die Straßen menschenleer. Nicht überall gleichermaßen, ein Blick in die Seitenstraßen reichte aus, um vereinzelte Spaziergänger mit ihren Hunden zu sehen, doch der breite Sachsenring, der in einer großzügigen Schleife Hauptbahnhof und Einkaufsviertel miteinander verband, glänzte vollständig verlassen im Nieselregen. Eine Tankstelle mit Mittagspause schien ihm zwar selbst reichlich blöde zu sein, aber er hatte im Laufe der letzten halben Stunde nur ganze zwei Autos gesehen, die überhaupt ins Zentrum fuhren, und die hatten natürlich nicht bei ihm getankt. Im Zweifel gab es ja noch die Säule mit Kartenzahlung, sagte er sich, und dann sah er aus dem Augenwinkel die schöne blonde Frau die Straße heraufkommen, und das ließ jeden Rest eines schlechten Gewissens in ihm verstummen. Elektrisiert beobachtete er, wie sie die Straßenseite wechselte und etwa zehn Meter vor ihm wieder auf den Bürgersteig trat. Das lange Haar mit den grünen Strähnen hatte sie oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt, ein warmer Schal in den gleichen Farbtönen bedeckte schützend ihren Hals und ihre Ohren.

Spicy überlegte nicht lange, sondern folgte ihr in einigen Metern Abstand, gewillt endlich herauszufinden, wer sie war. Er gehörte eigentlich nicht zu den Männern, die grüne Haare und freigeschorene Schläfen liebten, aber er kannte sie schon lange und hatte sie schon so oft an seiner Tankstelle vorbeigehen sehen, als ihre Haare noch rein blond und auf beiden Seiten gleich lang waren, dass er darüber hinwegsah. Die reine Bewunderung ihrer Schönheit war längst einem tieferen Interesse an ihrer Person gewichen, einem Interesse, das Herzklopfen verursachte und den unbedingten Wunsch in ihm ausgelöst hatte, seine Rolle als distanzierter Beobachter endlich gegen eine aktivere in ihrem Leben einzutauschen.

Seine lederbesohlten Stiefel machten mehr Lärm auf dem Pflaster als ihm im Moment lieb war, aber daran konnte er leider nichts ändern. Er war ihr den gesamten Sachsenring hinauf gefolgt und inzwischen war sie in eine Wohngegend hinter dem Bahnhof abgebogen, in eine Siedlung mit vielen kleinen Wegen und Sackgassen, in denen er sie verlieren konnte, weshalb er sich genötigt sah, den Abstand zwischen ihnen nicht zu groß werden zu lassen, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihn hörte. Sie hatte einen solch forschen Schritt am Leib, dass er langsam ins Schwitzen geriet, und vermutete, sie wolle ihn abhängen, aber bisher hatte sie sich kein einziges Mal nach ihm umgedreht. Als er ihr ins Färbergässchen folgte, einer kurzen Verbindung zwischen Schmiede- und Kirchstraße, war sie plötzlich verschwunden.

‚Mist‘, dachte Spicy, und sah sich verwirrt nach allen Seiten um. Während er aufmerksam die Häuser beobachtend seinen Weg fortsetzte, in der Hoffnung vielleicht irgendwo eine Haustür zuschlagen zu sehen, erreichte er die nächste Straßenecke, und bevor er auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte zu reagieren, traf ihn ein präzise gesetzter Schlag in die Magengrube. Spicy entfuhr ein Schmerzensschrei, er rang nach Luft und krümmte sich zusammen. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie sie mit einer Art Schlagstock erneut ausholte und riss entsetzt beide Arme hoch, um sie schützend über seinen Kopf zu legen. Da hielt sie inne und ließ ihren Arm sinken, hielt den Stock jedoch weiterhin drohend auf ihn gerichtet. Ihr Arm zitterte und ihre Handknöchel leuchteten weiß, so fest umklammerte sie den Metallgriff, als sie schweratmend brüllte:

„Hau ab! Sonst schlag ich noch mal zu!“

Selbst wenn Spicy gewollt hätte, wäre es ihm im Moment nicht möglich gewesen, ihrem Befehl Folge zu leisten. Noch immer japsend ließ er sich nach hinten fallen und rutschte mit dem Rücken an der Hauswand hinunter, bis er auf dem feuchten Bürgersteig saß. Marit hätte jetzt einfach gehen können, aber zutiefst verunsichert wie sie durch die Situation war, hatte sie das Gefühl, dass er jetzt gehen musste, weil es sonst nach Flucht aussah. Außerdem sah der von ihr niedergestreckte Mann so lädiert aus, dass sie sich auch nicht ganz sicher war, ob sie nicht vielleicht sogar bleiben musste. Trotz des Regens trug er seine schwarze Lederjacke offen und nur der dünne Stoff seines weißen T-Shirts hatte ihren Schlag ein wenig abgemildert. Nach einigen Sekunden der Stille schob sie den ausziehbaren Schlagstock, den sie seit einem Vorfall mit einem schizophrenen Besucher im Café immer bei sich trug, zusammen und fragte noch immer aufgebracht:

„Warum verfolgen Sie mich?“

„Wie kommen sie darauf, dass ich Sie verfolge?“, entgegnete Spicy noch immer nach Luft schnappend und bemühte sich, einen vorwurfsvollen Ton in die Gegenfrage zu legen, um sie glaubwürdiger klingen zu lassen.

Marit schnaufte und dachte angestrengt nach, was sie jetzt tun sollte. Der Schreck über ihre eigene brutale Vorgehensweise verstellte ihr für einen Moment den Blick dafür, dass seine Reaktion durchaus nicht glaubwürdig war. Wenn sie mit ihrer Vermutung wirklich falsch gelegen und ihre Attacke einen völlig Unschuldigen niedergestreckt hätte, dann hätte der wohl eher mit einem ‚Was fällt Ihnen ein?‘ seiner Empörung Luft gemacht. Doch für diese Erkenntnis klopfte ihr Herz zu stark und statt ihn zum Teufel zu jagen, fragte sie daher nur scharf:

„Etwa nicht?“, noch nicht ganz bereit, ihn zu rehabilitieren, aber doch schon soweit, ihn mit einer Erklärung davonkommen zu lassen.

„Nein, bestimmt nicht!“, antwortete Spicy auf die gleiche nur mäßig überzeugende Art wie zuvor, dann setzte er hinzu:

„Ich war auf dem Weg nach Hause.“

„Na dann...“, entgegnete Marit, unschlüssig ob jetzt eine Entschuldigung angebracht war, denn ihr Unterbewusstsein war von seiner Unschuld keineswegs überzeugt. Doch dieser Mann dort schien ganz offensichtlich keine Gefahr mehr darzustellen, Schuldfrage hin oder her. Sie entschloss sich zur Nachsicht und reichte Spicy die Hand, um ihm aufzuhelfen. Und so ergab sich die seltsame Situation, dass sie zwar nicht wirklich an seine Version der Geschichte glaubte, aber keinerlei Konsequenzen daraus zog, sondern die Unterhaltung doch so weiterführte, als sei sie wahr und ihre Begegnung nur einem Zufall geschuldet.

„Was haben Sie da eigentlich für ein brutales Gerät?“, fragte er mit noch immer ein wenig schwacher Stimme und deutete auf den Schlagstock in ihrer Hand.

„Darf man sowas überhaupt mit sich herumtragen?“

Angriff war noch immer die beste Verteidigung, dachte er, zumindest wenn der Gegner sich schon auf dem Rückzug befand. Doch in diesem Fall hatte er sich getäuscht.

„Doch, dass darf ich“, sagte Marit bestimmt und nahm ihre Waffe noch einmal fest in die Hand, um zu demonstrieren, dass sie sie auch noch einmal benutzen würde, bevor sie sie zurück in ihre Handtasche steckte.

„MeToo lässt grüßen, oder?“, bemerkte Spicy etwas vorsichtiger und Marit nickte bestimmt, doch dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie schaute sich kurz in beide Richtungen um und fragte dann:

„Wo wohnen sie denn eigentlich?“

„Kirchstraße“, log Spicy mit einer vagen Handbewegung nach vorn, „Und Sie?“

Marit zögerte kurz, bevor sie antwortete:

„Bahnhofsring.“

Spicy sah sie verständnislos an, denn der Bahnhofsring lag vom Hauptbahnhof aus gesehen in der anderen Richtung, so dass sie sich zu einer Erklärung genötigt sah.

„Na ja, ich bin hier ins Viertel gelaufen, um Sie abzuhängen, ist doch wohl logisch, oder?“

„Und dabei haben Sie zufällig genau meinen Weg genommen. Das ist ja ein Ding!“, bekräftigte Spicy noch einmal seine Version der Geschichte und lächelte nunmehr beseelt zurück, glücklich, dass sie bereit war, ihm zu vertrauen.

„Darf ich Sie noch auf ein Bier einladen?“, fragte er offenherzig, doch Marit schüttelte skeptisch den Kopf.

„Wie soll das denn funktionieren, die Kneipen haben doch alle zu“, sagte sie mit etwas spöttischer Stimme und machte damit gleichzeitig klar, dass sie einer Einladung in seine Wohnung auf gar keinen Fall zustimmen würde.

„Da haben Sie leider wohl Recht“, antwortete Spicy und die Enttäuschung war seiner Stimme deutlich anzuhören.

„Na dann, auf Wiedersehen“, verabschiedete er sich, ohne sich zum Gehen abzuwenden.

„Tschüss. Vielleicht treffen wir uns ja mal irgendwo“, erwiderte Marit seinen Gruß und machte kehrt, um zurück zum Bahnhof zu gehen. Spicy setzte sich langsam, fast unwillig, in entgegengesetzter Richtung in Bewegung, seine Brust schmerzte und außerdem gab es keine Haustür, in die er ordnungsgemäß hätte einkehren können. Nach einigen Metern blieb er stehen und schaute sich noch einmal nach ihr um. Und tatsächlich hatte auch die unbekannte Schöne, die jetzt nicht mehr ganz so unbekannt war, den inneren Drang verspürt, noch einmal einen Blick zurück über die Schulter zu werfen, und dabei ertappten sie sich, schauten sich – zwar über eine beträchtliche Distanz, doch lachend - in die Augen und er hob noch einmal die Hand zum Gruß.

Glücklicherweise war sie um die nächste Straßenecke gebogen, bevor er das Ende der Kirchstraße, die nur etwa Hundert Meter lang war, erreicht hatte. Dort setzte er sich auf den Pfosten eines Gartenzauns, noch immer mit Schmerzen, aber so beseelt, so leicht, wie er sich noch nie gefühlt hatte.

Er saß so lange dort, bis er sah, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorsichtig ein Vorhang um wenige Zentimeter zur Seite geschoben wurde, und ihm bewusst wurde, wie seltsam seine Anwesenheit in der intimen Enge der Straße wirken musste, erst recht angesichts des beständigen Nieselregens, der noch immer nicht aufgehört hatte und den Spicy inzwischen bis auf die Haut spürte. Er lächelte freundlich zu der Gardine hinüber, dann machte er sich mit einem tiefen Seufzer auf den Heimweg.

*

Anna war damit beschäftigt, ihrem Vater in der Küche des Restaurants beim Gemüseschneiden zu helfen, als Marit endlich mit ihren Einkäufen vom Wochenmarkt zurück in die Wohnung kam. Vollkommen in Gedanken versunken, machte sie sich daran, die Vorräte in den Schränken zu verstauen, und warf zwischendurch einen Blick auf die Leere der Straße vor dem Fenster, doch die Ödnis schaffte es trotz des einheitlich grauen Himmels nicht bis in ihr Bewusstsein. Sie blieb mit einem Bund Möhren in der Hand am Fenster stehen und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Ihr Herz klopfte noch immer spürbar, hatte allerdings den wilden Schlag panischer Angst, zu der sich ihre Unruhe ausgewachsen hatte, als der schwere Stiefelschritt in ihrem Rücken nicht verschwand, soweit verlangsamt, dass er nicht mehr in der Kehle trommelte, sondern nur noch dumpf in der Magengrube zu spüren war. Dem Adrenalinstoß war Erschöpfung gefolgt, die sie jetzt erst richtig zu spüren begann.

Eigentlich hätte sie schon allein deshalb wütend auf ihn sein müssen, weil die Angst in ihr das Gefühl hinterlassen hatte, einmal komplett durch den Fleischwolf gedreht worden zu sein. Doch tatsächlich drang kein wie auch immer geartetes Gefühl des Widerwillens in ihre Seele, stattdessen machte sich dort ein sanftes Wohlbefinden bemerkbar. Wer konnte dieser Tage schon mit Überzeugung von sich behaupten, er habe interessante Begegnungen gehabt? Vielleicht hätte sie doch mit ihm gehen sollen? Statt jetzt hier allein in der Küche zu sitzen?

‚Verpasste Chance‘, dachte sie ein wenig wehmütig.

Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild der Kirchstraße im Regen, in der er verschwunden war. In welches Haus war er gegangen? Ihre Erinnerung lieferte kein passendes Bild dazu. Sie versuchte es so lange, bis sie davon überzeugt war, dass sie sich unaufmerksam abgewandt hatte, und es somit nur verdient war, dass sie seine Spur verloren hatte und sich jetzt ärgerte. Das Bild, das ihre Erinnerung sicher bewahrte, war das eines lachenden Mannes mit zum Gruß erhobener Hand auf einer verlassenen Straße.

*

„Alles in Ordnung?“, fragte Anna leicht besorgt, als sie Marit so in sich gekehrt in der Küche fand, das Bund Möhren noch immer im Schoß haltend. Doch Marit nickte.

„Ich hatte eine seltsame Begegnung heute Morgen“, setzte sie an und erzählte von der Verfolgung durch den Unbekannten.

„Oh Scheiße, das ist ja peinlich!“, kommentierte Anna die Geschichte an dem Punkt, als Marit von ihrer fälschlicherweise ausgeführten Schlagstockattacke berichtete.

„Hoffentlich hat er dich nicht total zur Schnecke gemacht!“ Anna glaubte die Scham ihrer Freundin in diesem Moment so gut nachempfinden zu können, dass sie die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Doch Marit zuckte nur verständnislos die Schultern.

„Er hat nicht einmal auf einer Entschuldigung bestanden“, bemerkte sie nun doch etwas verwirrt, nicht über seine, sondern über ihre eigene widersprüchliche Reaktion.

„Wie bitte?“, fragte Anna und hob verwundert die Augenbrauen, bevor Marit sie aufklärte, gewissermaßen in Echtzeit, denn ihr selbst wurde auch erst jetzt wirklich bewusst, wie die Dinge sich abgespielt hatten.

„Ich glaube, er ist mir doch gefolgt. Ja, sicher, ist er das, sonst passt seine Reaktion auch gar nicht.“

Zu Annas Erschütterung fing Marit bei diesem Gedanken an zu Lachen.

„Wieso kannst du darüber lachen? Wer weiß, was passiert wäre, wenn du den Schlagstock nicht dabei gehabt hättest?“, fragte sie irritiert. Doch Marit gab lediglich ein nüchternes „Aber ich hatte ihn ja dabei“ zur Antwort.

Das eigentliche Gefühl, dass ihre Seele in diesem Augenblick flutete wie seichte Wellen das Wattenmeer, scheinbar unbedeutend doch in Wirklichkeit kraftvoll und unaufhaltsam, konnte sie einfach nicht so genau in Worte fassen, dass sie es Anna hätte begreiflich machen können. Es war ein triumphales Hochgefühl, zusammengesetzt aus dem Wissen darum, dass er ihr gefolgt war, weil er an ihr interessiert war, und dem Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit. Für sich allein genommen hätte die Verfolgung, welche Motivation auch immer dahinter gesteckt haben mochte, nicht ihren beängstigenden Charakter verloren. Er hatte sie schließlich mit seiner Aufdringlichkeit in Angst und Schrecken versetzt. Ihren Schrecken hatte die Situation nur dadurch verloren, dass sie ihn besiegt hatte, sie hatte sich als die Stärkere erwiesen, aber er war doch noch immer ein Bewunderer, ein Gefolgsmann im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie lächelnd für sich selbst feststellen musste. Dann dachte sie an den verletzten Mann am Boden und stöhnte vernehmlich. Und sie hatte ihn ziehen lassen!

Diesen seltsamen seelischen Entwicklungen ihrer Freundin konnte Anna natürlich nicht folgen. Sie nahm nur wahr, dass Marit in den folgenden Stunden kaum ansprechbar war und außer einigen gelegentlichen Seufzern kaum etwas von sich gab.

*

Gegen 15.00 Uhr am Nachmittag kam Chiara aus der Klinik zurück, müde und abgespannt und dankbar, dass Anna etwas gekocht hatte. An diesem Tag hatte sie ihren ersten Coronapatienten auf der Intensivstation versorgen müssen, und die endgültige Gewissheit, dass das Virus sie erreicht hatte und bis in die letzte Bastion vorgedrungen war, wo nur noch die Atemgeräte den Tod verhindern konnten, hatte sie vorübergehend verstummen lassen. Im Krankenhaus hatte es sie sogar unempfindlich gemacht gegen Sandros Langsamkeit. Jetzt wurde es ernst, und es war nötig, alle Kräfte für die Aufgaben zu nutzen, die vor ihnen lagen, und sie nicht in zwischenmenschlichen Nebensächlichkeiten zu vergeuden. Für ein beklemmendes Angstgefühl war Chiara zu professionell, es war eher der Wunsch, ein solches nicht bei ihrer Schwester aufkommen zu lassen, die zu kindischen Panikanfällen neigte, der sie jetzt bei Tisch schweigen ließ, so dass eine seltsam anmutende Runde still in sich versunkener Frauen um den Küchentisch herumsaß, die ein außenstehender Betrachter leicht für eine Trauergemeinschaft hätte halten können. Anna, deren Schweigen weder ernst wie Chiaras noch entrückt wie Marits war, sondern nur dem zufriedenen Genuss eines wohlgelungenen Essens entsprang, brach es als erste.

„Ich habe gestern Pizza an ein paar Corona-Kranke ausgeliefert. Kannst du mir sagen, ob sich das Virus über Geldscheine überträgt?“, fragte sie ihre Schwester beiläufig.

Chiara spitzte ein wenig die Lippen, bevor sie antwortete.

„Ja, sicher. Du solltest auf jeden Fall in nächster Zeit Handschuhe tragen. Und Papa beim Geldzählen ebenso. Du hast dir hoffentlich gleich die Hände gewaschen, als du nach Hause kamst.“

„Ich glaube schon“, antwortete Anna etwas unsicher und runzelte die Stirn, sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern.

„Wo war das denn?“, hakte Chiara nach und Anna antwortete etwas kurz angebunden:

„Konrad-Adenauer-Allee 19.“

Sie hatte das unbehagliche Gefühl, sich wegen der fehlenden Handschuhe fahrlässig verhalten zu haben, zumindest in den Augen ihrer Schwester.

„Ach so, die Typen aus Ischgl. Von denen habe ich schon gehört“, bemerkte Chiara.

Anna war erstaunt, ihre Schwester interessierte sich sonst nicht für Klatsch und Tratsch, aber im Fall von Corona war das vielleicht etwas anderes.

„Die WG dort ist dem Gesundheitsamt bekannt und von da aus sind wir informiert worden. So ein Hotspot sollte im Krankenhaus ja auch wirklich bekannt sein.“

Bei dem Wort Hotspot bekam Anna Herzklopfen.

„Na ja, eigentlich sollte doch wohl die ganze Bevölkerung Bescheid wissen, wer da wohnt, oder nicht? Also ich wusste nicht, was mich da erwartet. Was heißt denn eigentlich Ischgl-Typen?“

„In Ischgl in Tirol hat ein infizierter Barmann beim Après-Ski halb Europa angesteckt. Die Männer-WG hier bei uns war zusammen dort, anscheinend eine Clique seit Studententagen – alle infiziert. Also sind sie hier gemeinsam in das Haus eines der Typen gezogen, um gemeinsam die Infektion durchzustehen“, klärte Chiara sie auf und urteilte dann mit spitzer Zunge:

„Wahrscheinlich spielte ein etwas spätpubertärer Wunsch nach Verlängerung des Après-Ski-Gefühls bei der Entscheidung auch eine Rolle.“

Anna dachte an die laute Musik vom Vorabend und nickte.

„Ist doch eigentlich auch nur vernünftig, oder?“, mischte sich jetzt Marit ins Gespräch, „So können die stärker von der Krankheit Betroffenen von den anderen mitversorgt werden, ohne dass die Gefahr besteht, dass es Neuinfizierte gibt. Ich meine, dass das auch die Begründung war, die in der Zeitung stand.“

Chiara nickte, dem war nicht zu widersprechen. Anna fragte sich unterdessen, warum sie anscheinend die einzige war, die von den „Ischgl-Typen“ vorher nichts gehört hatte. Aber der Blonde hatte behauptet, es sei ihr erster Tag. Wie konnte da überhaupt schon etwas in den Zeitungen gestanden haben? Sie schwor sich, in Zukunft peinlichst aufs Händewaschen zu achten, dann überließ sie Marit und Chiara das Aufräumen der Küche und ging zu ihrem Vater hinunter.

Mit leichter Panik in der Stimme erzählte sie von einem Corona-Patienten, für dessen Bestellung sie den Betrag kassiert habe, und fragte ihn besorgt, ob er das Geld vom Vortag schon gezählt habe. Mit einem Lächeln deutete Angelo auf die Box mit Einweg-Handschuhen, die neben der Kasse stand, und sagte:

„Die benutze ich schon seit einer Woche zum Geldzählen. Und außerdem steht im Toilettenschrank eine Flasche Sagrotan, mein Kind.“

Erst einmal beruhigt verbrachte Anna den Rest des Nachmittags mit der Lektüre eines Romans auf dem Sofa, während sich Chiara ins Badezimmer zurückgezogen hatte, von wo aus sich der Duft ihres Lavendel-Badeöls verbreitete. Die Wohnung, die die drei Frauen sich teilten, war vom Zuschnitt her für eine Wohngemeinschaft eigentlich ungeeignet. Ein kleiner, offener Flur verband die Eingangstür mit einem großen, mit Parkett ausgelegten Wohnraum, der eigentlich eher eine Diele war, da von ihm die anderen Räume abzweigten. Sie nutzten ihn als gemeinschaftliches Wohnzimmer, an das sich auf der nordwestlichen Seite des Hauses die Küche anschloss, die großen Fenster beider Räume gingen auf den Bahnhofsring hinaus. Die Schlafzimmer lagen auf der anderen Seite, lichtdurchflutete, freundliche Räume, mit Fenstern zum ruhigeren Hof. Einer davon, den die Vormieter als Elternschlafzimmer genutzt hatten, war recht groß und Chiara wie selbstverständlich als der Älteren zugefallen, als Anna und sie die Wohnung bezogen hatten. Anna bekam dafür die zwei kleineren Räume, die vom Architekten ursprünglich wohl als Kinderzimmer geplant gewesen waren und in denen jeweils kaum ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch Platz fanden. Schon bevor Anna Marit im letzten Sommer das eine dieser Zimmerchen abgetreten hatte, waren es seltsam leblose Räume gewesen. Anna hatte ihr Hab und Gut auf beide verteilt gehabt, ohne mehr als ihr Bett darin zu nutzen. Sie lebte in der Küche und auf dem alten Ledersofa, das den Mittelpunkt ihres gemeinschaftlichen Wohnzimmers bildete, während Chiara sich gern und häufig in ihre eigenen vier Wände zurückzog. Als Marit einzog, hatte Anna all ihre Möbel in das linke ihrer Zimmerchen gequetscht, und Marit baute ein Bett und einen Schrank, die sie in Eile gebraucht gekauft hatte, in dem rechten auf. Doch genau wie Anna hielt sich auch Marit lieber im Wohnzimmer und in der Küche auf, obwohl hier erst am Nachmittag das erste Sonnenlicht einfiel. Dafür ließen sie oft die Türen zu ihren Zimmern offen stehen, um das Licht von dort bis in die Tiefen des Wohnzimmers vordringen zu lassen, ein Umstand der regelmäßig zu Diskussionen führte, weil Chiara in ihrer Ordnungsliebe die Türen wieder schloss. Häufig war deshalb am Stand der Türen abzulesen, ob Chiara sich im Hause befand oder nicht, und obwohl sie sich ins Bad zurückgezogen hatte, reichte für den Moment auch ihre entfernte Anwesenheit aus, dass Anna und Marit sie nicht wieder öffneten.

Während Anna auf dem Sofa lag, saß Marit mit ihrem Skizzenbuch auf den hochgezogenen Knien in der tiefen Laibung der Fensterbank und zeichnete das winterliche Geäst des Baumes auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab. Von Zeit zu Zeit ließ sie dabei den Blick in beiden Richtungen die Straße entlang schweifen, doch die lag wie ausgestorben da. Seit dem Vormittag hatte der Regen aufgehört, ansonsten hatte sich am Straßenbild nichts verändert.

*

Am frühen Abend ging Anna erneut zu ihrem Vater ins Restaurant. Angelo war bereits schwer beschäftigt, auf dem Tresen neben seiner Backnische lag eine lange Liste mit Bestellungen.

„Gut das du kommst, meine Liebe, wir haben schon wieder so eine Riesenbestellung aus der Konrad-Adenauer-Allee. Zum Glück haben sie sich heute entschlossen, etwas früher zu bestellen. Hilf mir bitte mal beim Verteilen der Tomatensauce.“

Anna zögerte. Sie hatte ihrem Vater am Nachmittag nicht berichtet, dass es eben dieses Haus war, in dem sie die kontaminierten Geldscheine eingenommen hatte. Eigentlich hatte sie gehofft, die seltsame Wohngemeinschaft nicht wiedersehen zu müssen. Auf der anderen Seite waren sie dringend auf den Umsatz angewiesen, und die Tatsache, dass sie heute gleich wieder bei ihnen bestellten, außerdem ein gutes Aufputschmittel für das Selbstbewusstsein ihres Vaters. Um es später nicht zu vergessen, ging sie um den Tresen herum zu der Box mit den Einmal-Handschuhen und steckte sich eine Handvoll in die Jackentaschen, bevor sie ihrem Vater bei der Bestellung zur Hand ging.

*

Als sie eine gute halbe Stunde später die großen Stapel mit den Pizzakartons in den Lieferwagen stellte, war die Wolkendecke aufgerissen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages erhellten den Himmel an seinem westlichen Rand. Anna atmete tief durch. Jetzt würde bald der Frühling kommen, es wurde wirklich Zeit, dass es wärmer wurde. Und die Corona-Viren würde er hoffentlich auch vertreiben.

An diesem Abend lag das Haus mit der Nummer 19 in völliger Stille da. Im Flur war trotz des Tageslichts schon eine Lampe eingeschaltet, doch die übrigen Fenster waren dunkel. Die Eingangstür lag auf der Ostseite des Hauses, das hier an der Auffahrt einen düsteren Schatten warf und Anna fröstelte. Sie zog sich ein Paar von den Handschuhen aus ihrer Jackentasche über, erst dann drückte sie den Klingelknopf. Der schrille Ton drang diesmal ungehindert an ihr Ohr, trotzdem musste sie eine Weile warten, bis sich etwas regte. Zu ihrer Überraschung kam der blondgelockte Mann vom Vorabend auf dem Gartenweg ums Haus herum auf sie zu. Er hatte sich ein warmes Federbett um den Körper gewickelt und war dabei, sich einhändig einen Mundschutz über das Gesicht zu ziehen.

„Könnten Sie vielleicht mit nach hinten kommen, wir sitzen im Wintergarten“, sagte er undeutlich und unterdrückte ein Husten. Anna nickte. Sie holte den ersten Stapel mit Kartons aus dem Auto und folgte dem Vermummten um das Haus herum. Dort bot sich ihr ein seltsam surreales Bild. Der Garten auf der Rückseite des Hauses hatte einen äußerst spärlichen Bewuchs und ließ nach Westen den Blick auf ein angrenzendes Wohngebiet frei, deren nächstgelegene Straße so schnurgerade in Ost-West-Richtung verlief, das in der Ferne die Abendsonne wie eine riesiger Feuerball zwischen den Häusern auf der Straße zu liegen schien, und von dort aus reichten ihre goldenen Strahlen bis tief in das Haus hinein. Auf zwei Sofas, die in einem großen, vollverglasten Wintergarten standen, konnte Anna sechs Gestalten erkennen, die ähnlich in warme Decken eingehüllt waren, wie der Mann, der ihr vorausgegangen war. Sie sahen aus wie weißverpuppte Mumien, in Anbetung erstarrt und auf die Erlösung durch den Sonnengott wartend, der sie Kraft seines Lichtes im allernächsten Moment auf goldenen Bahnen in sein Himmelreich hinaufholen würde. Ihre weißen Kokons waren von einem leuchtenden Orange überzogen, ebenso wie alle anderen Objekte hinter dem Haus, angefangen bei den jetzt im Frühjahr schon vereinzelt wachsenden aber noch ungeschnittenen Grashalmen, die hauchdünne schwarze Schatten gegen den Sockel der Hausmauer warfen, bis zu dem gigantischen Flutscheinwerfer in der Nordwestecke der Sportanlage, der um die Mittagsstunde sicherlich wie der Zeiger einer Sonnenuhr seinen Schatten quer über den Garten legte, jetzt aber zu brennen schien wie eine olympische Fackel.

‚Gleich werden sie weggebeamt‘, dachte Anna und glaubte für den Moment tatsächlich an die Möglichkeit ihres Verschwindens, als sie den Kartonstapel neben der Hintertür abstellte und zurück zum Auto ging, um den zweiten zu holen. Doch als sie wieder um die Ecke bog, saßen sie noch immer dort, allerdings hatte sich ein Teil ihrer Leuchtkraft durch die minimale Wanderung des Sonnengottes verbraucht und es war nurmehr ein orangener Schimmer geblieben. Der Moment für den Abflug schien verpasst. Die lebende Mumie hatte den ersten Kartonstapel schon ins Haus gebracht und erwartete sie an der Tür.

„Wie im Sanatorium“, sagte er und lachte, doch Anna verstand den Witz nicht und nickte nur verhalten.

„Im ‚Zauberberg‘“, erläuterte er, „da müssen alle Kranken immer stundenlang in Decken gehüllt auf dem Balkon ruhen.“ Anna lächelte abwartend. Sie hatte den Zauberberg nicht gelesen, wusste ihn aber zumindest ungefähr in der Literaturgeschichte einzuordnen, und hoffte, sich nicht gänzlich zu blamieren, wenn er weiter hochgebildete Konversation betreiben wollte.

„Ich habe das Buch auch nicht gelesen“, gab er jetzt jedoch freimütig zu, „aber Henk, der ist Deutschlehrer, und wir haben uns gerade darüber unterhalten.“

Er deutete auf eine der Mumien im Wintergarten.

„Und warum sind Sie hier und nicht im Sanatorium?“, fragte sie etwas neugierig, doch bevor er etwas erwidern konnte, musste er sich mit einem Hustenanfall abwenden.

„Na ja“, antwortete er dann verschmitzt, „Hans war sieben Jahre auf dem Zauberberg, und ich hoffe, dass ich das hier in zwei Wochen hinter mir habe.“

Vermutlich lächelte er, doch das konnte Anna nur daran erkennen, dass sich sein Mundschutz ein wenig aufwärts bewegte. Sie erwiderte das Lächeln, doch in ihren Augen mussten Zweifel ablesbar gewesen sein, denn er setzte noch einmal zu einer Erklärung an:

„Einige von uns haben Familie, die sie nicht anstecken wollen, andere sind zu Hause ganz allein, was auch nicht lustig ist, wenn man krank ist.“

Anna nickte, es war in etwa das, was Marit vermutet hatte.

„Ich bekomme heute 108,00€“, sagte sie und schaute noch einmal in den Wintergarten, der inzwischen nur noch in der äußersten Ecke von der Sonne beschienen wurde und in dem die eingehüllten Gestalten nun trostlos und grau aussahen, während ihr Gegenüber versuchte, zwischen den Schichten der Bettdecke hindurch das Geld aus der Hosentasche zu ziehen.

„Und, heute keine Party?“, fragte sie, um freundlich zu sein. Er schüttelte den Kopf und fluchte leise, als ihm einige Geldscheine auf den Boden fielen. Dann hielt er ihr 120€ entgegen und zuckte die Schultern.

„Nee, Martin und Tobias haben Kopfschmerzen. Musik geht heute nicht. Stimmt so.“

Anna nahm das Geld und verstaute es im Portemonnaie.

„Gute Besserung dann“, wünschte sie ihm, doch bevor sie um die Hausecke herum verschwinden konnte, hielt er sie auch diesmal mit einer Frage zurück.

„Liefern Sie eigentlich immer aus?“

Anna zuckte mit den Schultern.

„Wir sind ein kleiner Betrieb“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Die Antwort schien ihm zu genügen, denn er nickte, und Anna glaubte noch einmal die Anzeichen eines Lächelns erkennen zu können, bevor sie sich endgültig abwandte und ging. Ihr Vater würde bereits mit fertigen Bestellungen auf sie warten.


Corona & Amore

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