Читать книгу Corona & Amore - Susanne Tammena - Страница 5

4. Tag

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Die Arbeit im Restaurant brachte das Privileg mit sich, morgens ausschlafen zu können, was Anna schon immer sehr entgegengekommen war. Als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, war Marit schon aus dem Haus gegangen, die ins Schloss fallende Tür hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Durch den Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen fiel ein zarter Lichtstrahl auf die gelbe Wand neben ihrem Bett und brachte sie zum Leuchten. Der Himmel war blau wie am Vortag. Sie langte mit der rechten Hand nach der Gardine, die sich am Kopfende ihres Bettes befand, um sie ein Stückchen weiter aufzuziehen, dann zog sie sie schnell wieder unter ihre Bettdecke. Die Luft im Raum war eiskalt. Sie legte sie zurück auf ihre linke Brust, wo sie auch vorher geruht hatte und klopfte sich dabei zweimal kurz aufs Herz, fast reflexhaft, und musste lächeln.

‚Björn Helmers‘, dachte sie.

Er hatte sie wiedersehen wollen. Am ersten Abend hatte er sie schon eingeladen, ins Haus zu kommen. Undenkbar natürlich, aber er schien es doch ernst zu meinen. Er war krank, aber er würde schließlich bald wieder gesund sein, dann konnte man sich treffen und richtig kennenlernen. Anna hatte sich noch nie mit einem Mann getroffen, den sie nicht vorher schon einigermaßen gut gekannt hätte. Zumindest gut genug, dass sie sicher sein konnte, dass sich ein Abend nicht zu einem Desaster entwickeln würde. Zu ihrer Verwunderung stellte Anna fest, dass sein Wunsch, sie wiedersehen zu wollen, dazu geführt hatte, dass sie seit dem vergangenen Abend beständig an ihn dachte. Das Bewusstsein, dass er an sie dachte, verschaffte ihm in Annas Gedanken einen so unermesslichen Raum, dass sie gar nicht anders konnte, als sich aufs Herz zu tippen, zweimal schnell hintereinander, immer wieder, und ansonsten im Bett zu bleiben, wo sie mit ihren Gedanken ungestört war.

‚Kann es sein, dass ich mich in nur fünf Minuten in ihn verliebt habe? Oder bin ich nur sein Spiegel, und fühle mich in Wirklichkeit nur geschmeichelt?‘, fragte sie sich, konnte sich aber nicht sofort eine Antwort darauf geben.

Doch nach einer halben Stunde, die sie mit wohligen Träumereien verbracht hatte, fiel ihr plötzlich Francesco wieder ein. Bis vor einem Jahr hatte er im Restaurant gearbeitet, und irgendwann angefangen, ihr dauernd Liebesschwüre ins Ohr zu flüstern und sie zu Stelldicheins gebeten. Sie hatte immer wieder abgelehnt, zunehmend angewidert durch seine Aufdringlichkeit, bis er dann glücklicherweise gekündigt hatte und zurück nach Italien gegangen war. Allein das Wissen um das Interesse eines Mannes reichte also keineswegs aus, sie auf rosarote Wolken zu heben, stellte Anna erleichtert fest. Glücklich rollte sie sich in ihrer Bettdecke zusammen. Sie konnte das Wiedersehen mit Björn Helmers kaum erwarten, wenn es auch nur wenige Minuten dauern würde.

*

Marit hatte sich am Morgen den Lieferwagen ausgeliehen, weil sie nach der Arbeit Leinwände zum Malen kaufen wollte. Glücklicherweise hatte das Kaufhaus einen Lebensmittelsupermarkt und durfte öffnen, sonst hätte sie sie wohl mit horrenden Versandkosten im Internet bestellen müssen. Nachdem sie sich zu Hause zuerst einen Kaffee gemacht hatte, riss sie die Folie von der ersten Leinwand und platzierte sie auf der Staffelei, die im Wohnzimmer in der Ecke stand. Sie hatte in ihrer Mittagspause eine Skizze angefertigt, die sie großformatig in Acryl umsetzen wollte: Eine Straße, eine Häuserzeile, ein Regenfallrohr, alles grau in grau, und darin, mittig im Bild, in dem Winkel zwischen Bürgersteig, Hausmauer und Regenrohr, ein Büschel leuchtend gelbes Scharbockskraut.

Marits Enttäuschung nach ihrem gestrigen Erlebnis war groß, doch sie mochte sich noch nicht geschlagen geben. Die Lähmung vom Vorabend war verschwunden, stattdessen befand sie sich in einem Zustand hilflosen Abwartens, fest davon überzeugt, dass noch etwas geschehen würde, aber nicht in der Lage, selber etwas herbeizuführen. Diese Zeit der ärgerlichen Ungewissheit musste mit Aktivität gefüllt werden, und zu malen war für Marit schon immer das beste Ventil gewesen.

Sie skizzierte ihr Motiv in groben Zügen mit dem Bleistift auf die Leinwand, bevor sie die Kiste mit den Farbtuben aus ihrem Zimmer holte und einen Malerfilz unter der Staffelei ausbreitete, um den Fußboden zu schützen. Sie arbeitete hochkonzentriert und mit starken Pinselstrichen, als Anna, die mit ihrem Buch in einer Ecke des Sofas saß, sie mit einer Frage aus ihrer Versenkung riss.

„Glaubst du, es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, nur weil derjenige gesagt hat, dass er einen mag?“

Marit glaubte im ersten Moment nicht richtig gehört zu haben, so durchschaut fühlte sie sich. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, so dass sie keine Antwort geben konnte. Anna dachte, ihre Freundin habe sie nicht richtig verstanden und versuchte eine andere Formulierung.

„Ich meine, dass man jemandem hinterherläuft, nur weil der Interesse bekundet hat?“

Anna wollte gerne mit Marit ihr Problem klären. Sie war sich einfach nicht sicher, warum ihr der gleiche Mann, der sie am Vortag noch kaum interessiert hatte, auf einmal ein solches Herzklopfen verursachte, warum sie ständig seine wilden Locken vor Augen hatte und den Klang seiner zellstoffgedämpften Stimme im Ohr, doch Marit glaubte, ihre Freundin könne auf einmal Gedanken lesen, oder hätte von irgendjemandem von ihrer gestrigen Wanderung in die Kirchstraße erfahren. Schließlich war sie eine durchaus auffällige Erscheinung, und der grimmige Herr hinter der Gardine war vielleicht einer der Ferucci-Stammkunden.

„Wie kommst du darauf?“, fragte sie vorsichtig, doch Anna schien gar nicht sie, sondern den Sonnenschein vor dem Fenster im Blick zu haben und erwiderte ausweichend:

„Ach, nur so. Ich fürchte, es hat etwas Demütiges. Der will mich, also nehme ich ihn, verstehst du.“

Anna hatte das Wort „demütig“ so inbrünstig ausgesprochen, als schwelge sie in Wirklichkeit in einer wie auch immer gearteten Demut und unterwerfe sich in Gedanken bereits dem Mann, der sie dazu aufforderte.

Marit, die noch immer glaubte, Anna spreche von ihr, reagierte darauf heftiger als sie gewollt hatte.

„Das ist doch Quatsch! So eine Demut, so ein Sichfügen in die Gegebenheiten würde sich doch anfühlen wie ein Begräbnis! Das kann man doch wohl deutlich von Verliebtsein unterscheiden.“

Marit hielt einen Moment inne und spürte ihren eigenen Gefühlen nach.

„Verliebtsein ist doch leicht. Nein, das ist nicht das richtige Wort, Verliebtsein ist nicht leicht, es ist eine starke, mächtige Unruhe, die alle Sinne durcheinander wirbelt und trotzdem Flügel verleiht. Man fliegt, obwohl innendrin alles taumelt und eigentlich abstürzen müsste, wenn es mit rechten Dingen zuginge.“

Gedankenverloren hatte sie sich in einen der Sessel fallen lassen und setzte zu einer weiteren Erklärung an, noch immer davon überzeugt, sich vor Anna dafür rechtfertigen zu müssen, einem Mann hinterhergelaufen zu sein; ein Umstand den sie Anna gar nicht hätte erklären müssen, warum sollte man denn nicht an einem Sonntag Vormittag zufällig dort spazieren gehen, wo man schon einmal eine interessante Begegnung hatte, das war doch eigentlich selbstverständlich. Weniger verständlich wäre es für Anna sicher gewesen, dass Marit ihr nichts von ihrem Ausflug erzählt hatte. Hatte sie selbst ihr nicht seit ihren frühesten Kindheitstagen von jeder Schwärmerei berichtet? Über diese Kleinigkeit an freundschaftlicher Untreue ging Marit gedanklich hinweg. In Wirklichkeit hatte ihr eigenes emanzipiertes Ego noch immer ein wenig daran zu knabbern, dass sie in der Kirchstraße gewesen war.

„Wenn man weiß, dass man gemocht wird, ist man doch viel freier in seiner Entscheidung, ja oder nein zu sagen.“

Anna nickte eifrig und bestätigte:

„Ja, da hast du recht, und ich kann ja immer noch gehen, wenn er mir dann doch nicht gefällt.“

Erstaunt schaute Marit ihre Freundin an.

„Sag mal, von wem redest du da eigentlich?“, fragte sie dann, froh nicht weiter auf ihren eigenen Fall eingegangen zu sein. Anna wurde rot und zögerte einen Moment bevor sie antwortete.

„Björn Helmers, einer von den Ischgl-Typen“, gestand sie dann. Marit schaute sie ungläubig an.

„Du hast was mit dem Corona-Typen? Spinnst du? Letzte Woche hast du mir noch erzählt, wie wichtig die Isolation ist.“

Anna schüttelte den Kopf.

„Ich hab nichts mit ihm, das geht doch gar nicht. Er hat mir nur gesagt, dass er mich gern wiedersehen wollte und deswegen schon wieder Pizza bestellt hat. Und alles auf Abstand und mit Mundschutz“, erklärte sie und fügte nach einer kurzen Pause mit einem Lächeln hinzu: „Trotzdem bin ich verliebt. Davon rede ich doch die ganze Zeit!“

Marit musste lachen.

„Stimmt. Ich hoffe, ich konnte dir weiterhelfen.“

Anna nickte und Marit stelle sich wieder an ihre Staffelei.

*

Am Abend lag wieder eine lange Bestellliste aus der Konrad-Adenauer-Allee auf dem Tresen ihres Vaters und Anna hüpfte das Herz vor lauter Vorfreude, als sie die Kartons ins Auto stapelte. Doch außer ihrer Vorfreude hatte sich an ihrer abendlichen Routine kaum etwas geändert. Björn öffnete nach dem Klingeln sofort die Tür, als habe er dahinter bereits auf sie gewartet, ordentlich angezogen und mit Mundschutz vor dem Gesicht. Sie begrüßten sich durch den Doppelschlag aufs Herz und Anna holte die Kartons aus dem Auto. Nachdem er bezahlt hatte, blieb sie erwartungsvoll noch einen Moment stehen, doch ihm schien an diesem Tag nichts einfallen zu wollen, womit er sie hätte aufhalten können. Oder überhaupt müssen. Alles geschah mit einem neuen Einverständnis ihrerseits, einer Bereitschaft, ihm noch einige Augenblicke schenken zu wollen, die jede Form des Werbens überflüssig machte.

„Heute wollen alle wieder Pizza“, bemerkte sie dann etwas verlegen, „Schön.“

Björn nickte und unterdrückte einen Hustenanfall. Anna wartete ab.

„Der Chinese hat heute Ruhetag“, sagte er dann, anscheinend ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie den Satz als Abwertung ihres eigenen Essens auffassen könnte. Nach einer Pause fügte er jedoch hinzu:

„Aber ich hätte ja sowieso Pizza bestellt.“

Anna fühlte kurz ihr Herz hüpfen, doch die unbeschwerte Leichtigkeit, auf die sie gehofft hatte, stellte sich trotzdem nicht ein.

„Ein Ruhetag, unglaublich, welches Restaurant kann sich das denn zur Zeit leisten“, sagte sie dann und lächelte ihm noch einmal zu, bevor sie sich auf den Weg machte.

„Bis morgen!“, rief er ihr hinterher, nachdem er den Mundschutz vom Gesicht gezogen hatte, und Anna versuchte sich im Rückwärtsgehen seine Gesichtszüge einzuprägen, die sie immer nur verschwommen von ihrer ersten Begegnung vor Augen hatte. Doch wieder war es nur ein flüchtiges Bild, das sie für sich bewahren konnte, denn schon eine Sekunde später wandte er sich ab, weil ein Hustenanfall ihn schüttelte, und ihr Bemühen blieb fast ganz vergebens.

*

Obwohl sich alles fast genauso zugetragen hatte wie am Vortag, war Anna enttäuscht und froh als ihr Vater ihr bei ihrer Rückkehr verkündete, dass sie nicht noch eine Tour zu fahren habe. Sie nahm sich stattdessen eine Flasche Rotwein aus dem Restaurant mit in die Wohnung und setzte sich zu Marit ins Wohnzimmer, die ihr Blumenstillleben inzwischen beendet hatte und in kritischer Betrachtung auf dem Sofa saß.

„Bist du zufrieden?“, fragte Anna interessiert, doch anstelle einer Antwort rümpfte Marit nur leicht die Nase. Anna konnte nicht erkennen, was ihr missfiel, aber das war ihr bei den Werken ihrer Freundin schon häufiger so gegangen. Das Grau der Straße war eintönig, die Melancholie, die Marit damit wohl hatte ausdrücken wollen, fast schmerzhaft nachzuempfinden, und die gelben Blumensterne strahlten daraus hervor wie ein Versprechen auf Neuanfang.

Marits Art zu malen war weder besonders detailversessen noch naturgetreu, Stimmungen erzeugte sie meist durch Farbe, und erst in zweiter Linie durch Form. Auf diesem Werk fand Anna die Farben wohlgelungen und lobte das Ergebnis.

„Ich finde es gut.“

Doch Marit winkte ab.

„Es ist nicht das, was ich wollte.“

Sie zögerte einen Moment, bevor sie ihre Meinung genauer ausführte.

„Es sollte den Titel ‚Hoffnungsschimmer‘ tragen, verstehst du? Aber das hier ist ein Hoffnungsstrahl, oder noch besser: ein Hoffnungsflutlicht geworden. Viel zu eindeutig.“

Sie hatte kritisch die Augenbrauen zusammengezogen und Anna schwieg lieber. Ihr Geschmack war bei Marits Kunstprojekten noch nie besonders gefragt gewesen, und mehr als Geschmack hatte sie nicht anzubieten. Sie trank ihren Rotwein aus und spürte zufrieden, wie sich in ihrer Brust ein kalter Knoten löste. Auch Marit wollte anscheinend das Thema wechseln, sie drehte ihrem Bild entschlossen den Rücken zu und lächelte Anna an.

„Und wie geht es deinem Björn?“, fragte sie so direkt, dass Anna erst einmal nur mit den Schultern zucken konnte, bevor sie über eine Antwort nachgedacht hatte. Sie wollte Marit auf keinen Fall wieder unausgegorenes Gefühlsgewäsch präsentieren. Diese Erinnerung war ihr aus dem Gespräch am Nachmittag geblieben, obwohl das objektiv gesehen nicht der Wahrheit entsprach. Eine bedeutungsschwere Beschreibung des Verliebtseins waren vielmehr Marits Worte gewesen. Doch alles was ihre Freundin gesagt hatte, war ihr so treffend vorgekommen, von einer so tief empfundenen Weisheit, dass Anna sie für ihre eigene, Marit in den Mund gelegte Offenbarung gehalten hatte, eine Bloßstellung ihrer Seele, die im Moment des Überschwangs eine Befreiung gewesen und ihr doch in ihrer momentanen kleinlichen Enttäuschung schmerzhaft peinlich war.

„Ich glaube schlecht“, sagte sie daher vage, ohne ihre eigenen Gefühle zu erwähnen, „Er hustet schrecklich und hat schwarze Ringe unter den Augen, vielleicht hat er auch Fieber, mehr kann ich nicht sagen.“

„Also das, was man von einem Corona-Patienten erwartet“, antwortete Marit leicht spöttisch, „Und was mich eigentlich nicht so interessiert.“

„Du hast doch gefragt“, erwiderte Anna genervt, obwohl ihr in Wirklichkeit ein Kloß im Hals saß und sie am liebsten geweint hätte.

„Aber ich möchte natürlich wissen, ob er dir Komplimente gemacht hat oder Liebesschwüre oder einen Heiratsantrag, und ob du glücklich bist und Schmetterlinge im Bauch hast! Hältst du mich wirklich für so desinteressiert, dass du mich mit medizinischen Details abspeist?“

So sparsam Marit mit der Offenbarung ihrer eigenen Gefühle umging, schaffte sie es doch immer mit Leichtigkeit, Anna geradezu vorwurfsvoll genau dazu zu bewegen. Doch jetzt standen ihrer Freundin tatsächlich die Tränen in den Augen und sie schüttelte nur stumm den Kopf.

„Keine Liebesschwüre heute?“ fragte Marit daher mitleidig, und Anna schüttelte den Kopf,.

„Nicht einmal Komplimente?“, fragte Marit weiter und legte dabei ein wenig gespielte Empörung in ihre Stimme, so dass Anna gegen ihren Willen lachen musste.

„Ich bin einfach blöde“, gab sie dann zur Antwort, „Ich hatte mich so sehr auf die Begegnung gefreut und wahrscheinlich einfach zu viel erwartet. Aber was soll da schon passieren? Ich gebe ihm ein Paar Kartons, er mir ein paar Geldscheine und das war‘s.“

„Okay“, erwiderte Marit sachlich, „und wieso warst du dann gestern so schwer verliebt? Das kann ja nicht wirklich alles gewesen sein!“

Anna schloss die Augen und dachte nach. Nein, das war natürlich nicht alles gewesen. Aber der Rest war nur ein Lächeln, eine Geste und eine Rötung der Stirn gewesen, so flüchtige Kleinigkeiten, dass sie in eine hohle Hand gepasst hätten, nicht mehr als ein Gedanke, ein Traum, ein Sonnenstrahl. Anna seufzte.

„Dein Hoffnungsschimmer“, sagte sie dann leise, „müsste ein goldener Schein sein, gold oder orange, aber ganz zart.“

Marit drehte sich wieder zu ihrem Bild um und dachte nach. Es dauerte einen Moment, bis sie zustimmend nickte.


Corona & Amore

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