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MARCO POLO

1254–1324

Der Patron aller Reisenden ist 17 Jahre alt, als er zur größten Reise des Mittelalters aufbricht. Sie führt ihn bis nach China und dauert 24 Jahre. 1295 kommt er zurück – und damit beginnen auch die Probleme.

Das Reisen liegt den Polos im Blut. Sie sind Händler. Typische Venezianer ihrer Zeit, wenn man so will, obwohl die Familie erst Anfang des 13. Jh. von Dalmatien nach Venedig gekommen war. Venedig ist zu diesem Zeitpunkt die bedeutendste Handelsmacht Europas, der wichtigste Stützpunkt im Orienthandel. 120 000 Menschen leben um 1300 in dieser Metropole. Damit zählt Venedig zu den größten Städten des Abendlandes. An der Mole zwischen Dogenpalast 25 ( ▶ F 5) und dem Werften- und Handwerkszentrum Arsenale 1 ( ▶ G/H 5) legen die großen Segelschiffe ab, die mit ihren Handelsgütern das östliche Mittelmeer befahren. Sie begründen Venedigs Reichtum und seine Macht im östlichen Mittelmeerraum. Alles beginnt im alten Venedig mit dem Reisen.

Und alles könnte so enden. Diese Vision kann man durchaus haben, wenn wir 800 Jahre ins Jetzt und Heute überspringen. Schiffe erobern Venedig. Weiße Ozeanriesen von über 300 Metern Länge, die wie umgekippte Hochhäuser über das flache Wasser der Lagune am Dogenpalast vorbei in den Giudecca-Kanal ( ▶ A-E 6/7) fahren und einen der drei großen Kreuzfahrtanleger ansteuern. Über eine Million Besucher kommen jährlich auf diese Weise – für viele Venezianer mutet das wie eine Bedrohung aus einem Katastrophenfilm an, der Wirklichkeit geworden ist. Auch das ist Venedig: die filigrane »Serenissima«, die »durchlauchteste« Stadt einer glorreichen Vergangenheit, bedroht von Touristenmassen auf schwimmenden Kolossen, die nur wenige Hundert Meter entfernt an der einmaligen filigranen Architektur von San Marco 2 ( ▶ F 5) vorbeiziehen.

Dererlei Vergleiche zum Thema verloren gegangene Maßstäbe können angesichts des Arsenale 1 ( ▶ G/H 5) schon aufkommen. In der historischen Werft Venedigs wurden seit dem 12. Jh. die berühmten venezianischen Langschiffe gebaut, ausgestattet und repariert. Sie bildet das »Herzstück des Staates«, wie es in einem Dokument heißt. In den besten Zeiten arbeiten hier 16 000 Zimmerleute, die innerhalb weniger Tage ein ganzes Schiff bauen können. Hinzu kommen Schmiede, Segelnäher, Seiler. Jahrhundertelang liefen Handels- und Kriegsschiffe im Arsenale vom Stapel, bis die Werft 1917 stillgelegt wurde.

Zum größten Teil ist sie heute militärisches Sperrgebiet. Doch allein das mächtige Renaissancetor am Eingang lohnt den Abstecher. Zwei der vier Löwen zu beiden Seiten des Tores kamen 1687 als Beutestücke aus Athen nach Venedig. Ein Kuriosum sind die Schriftzeichen an der Flanke des größeren Tieres. Es handelt sich um Runeninschriften norwegischer Söldner aus dem 11. Jh. Das Museo Storico Navale ( ▶ G 5) am Campo San Biagio zeigt Schiffsmodelle des Arsenale; die einstige Seemacht präsentiert sich stolz.

Marco Polos Familie ist ein Teil dieser Handelsmacht. Vater Niccoló und Onkel Maffeo sind Juwelenhändler. Der Dritte der Brüder, Marco der Ältere, betreibt ein Handelskontor auf der Krim. Als der kleine Marco sechs Jahre alt ist, brechen Niccoló und Maffeo 1260 von Venedig aus zu einer ersten großen Handelsreise gen Osten auf. Marco bleibt mit seiner Mutter zurück.

Die beiden Brüder Niccoló und Maffeo führt ihr Weg zunächst zu Marco dem Älteren auf die Krim, dann geht es immer weiter Richtung Osten, entlang der Seidenstraße. Sie kommen schließlich bis Peking, an den Hof des Mongolenherrschers Kublai Khan, einem Enkel von Dschingis Khan. Fast zehn Jahre sind Vater und Onkel unterwegs, immer wieder aufgehalten von Kriegswirren, ehe sie 1269 nach Venedig zurückkehren.

Der Kublai Khan will sein Volk missionieren und hat die Venezianer mit einer heiklen Aufgabe betraut: Sie sollen ihm heiliges Öl aus der vermeintlichen Grabstätte von Jesus in Jerusalem mitbringen. Außerdem bittet er um 100 christliche Missionare, die in China das Evangelium verkünden sollen.

NACH VIER JAHREN IST DAS ZIEL ERREICHT: CHINA

Eine zweite Reise nach China steht also an. Diesmal begleitet der mittlerweile 17-jährige Marco seinen Vater und Onkel, als sie 1271 erneut aufbrechen. Dass er seine Heimatstadt Venedig erst 24 Jahre später wiedersehen wird, dürfte er nicht geahnt haben, als das Schiff ablegte. Zunächst führt die Reise die drei Polos in die Stadt Akko im heutigen Israel. Die Stadt ist damals eine Bastion der Kreuzfahrer im Heiligen Land. Hier treffen sie den päpstlichen Legaten Tedaldo Visconti da Piacenza, der kurz darauf zum Papst Gregor X.gewählt wird und die Polos in ihrer Mission unterstützt. In Jerusalem beschaffen sie das Öl aus der Lampe des Heiligen Grabes für den Kublai Khan. Statt 100 Missionare begleiten sie aber nur zwei Mönche, die das Christentum in China verbreiten sollen. Und auch diese brechen die Reise bald ab und kehren um.

Bis die Reisegruppe der drei Polos auf dem Landweg ihr Ziel, den Hof zu Peking, erreicht, werden vier Jahre vergehen. Ihr Weg führt durch das Gebiet der heutigen Türkei, den Irak und Persien bis nach Afghanistan. Sie durchqueren die Wüste Taklamakan und streifen die Wüste Gobi, um schließlich zur Residenz des Kublai Khan zu gelangen. Auf dem Seeweg wäre es schneller gegangen, aber der schlechte Zustand der Schiffe lässt die Reisenden davor zurückschrecken.

DER KHAN IN PEKING MAG DEN JUNGEN MARCO

Marco Polo begegnet Kublai Khan 1275 zum ersten Mal, der große Herrscher ist von dem jungen, gelehrigen Mann angetan. Er nimmt ihn als seinen Präfekten in seine Dienste. In den folgenden Jahren reist Marco Polo im Auftrag des Khan kreuz und quer durch dessen Imperium und lernt so weite Teile des Reiches kennen, das sich bis in das Gebiet des heutigen Irak und im Norden bis nach Russland erstreckt. In seinen Reiseberichten schildert er später nicht nur prächtige Paläste und Häfen mit Schiffen voller Gewürze und Edelsteine, sondern entsetzt sich auch über chinesische Essgewohnheiten – rohes Schweinefleisch mit Knoblauch und Sojasauce – oder schwärmt von öffentlichen Warmbädern.

17 Jahre lang bleibt Marco Polo im Dienst des Kublai Khan, ehe er 1291 mit Vater und Onkel die Rückreise nach Venedig antritt, dieses Mal auf dem Seeweg vom Hafen Quanzhou aus. Mit 14 Dschunken und 600 Passagieren brechen sie auf, nur 17 von ihnen werden die Reise überleben. Sie führt über Sumatra und Ceylon zum persischen Hafen Hormus und durch das Kaiserreich Trapezunt in der heutigen Türkei. Dort konfiszieren Beamte von den Seefahrern 500 Kilo Rohseide, die die Polos nach Venedig bringen wollten. 1295 erreichen die Reisenden schließlich ihre Heimatstadt. Bei ihrer Rückkehr sollen die drei selbst von ihren Verwandten nicht mehr erkannt worden sein. Erst als sie sich die Säume ihrer Kleidung aufschneiden und Edelsteine hervorholen, heißt man sie willkommen.

Von der Zeit, die Marco Polo nach seiner Rückkehr in Venedig verbrachte, ist nicht so viel bekannt wie von seinen Reisen. Er kaufte sich ein Wohnhaus im Stadtteil Cannaregio, unweit der Rialtobrücke ( ▶ E 4), wo der Rio di San Giovanni Crisostomo und der Rio di San Lio zusammentreffen. Das Haus steht zwar heute nicht mehr, es wurde bei einem Brand im Jahr 1596 zerstört. Der Platz, an dem es stand, ist der kleine Corte Seconda del Milión 10 ( ▶ E 4), gleich hinter der Kirche San Giovanni Crisostomo.

Ganz in der Nähe, in der Salizzada San Giovanni Crisostomo ( ▶ E 3), findet man heute übrigens eines der besten Restaurants in Venedig. Die Fiaschetteria Toscana lockt ihre Gäste mit köstlichen, typisch venezianischen Gerichten wie »sfogi in saor«, kleine Seezungen mit Zwiebeln, Rosinen und Pinienkernen in Vinaigrette, oder »granseola«, Seespinne.

Die Bezeichnung »Corte Seconda del Milión« geht auf den Titel von Marco Polos Reisebericht »Il Milione. Die Wunder der Welt« zurück. Den hat Marco Polo allerdings nicht selbst verfasst, sein Entstehen entspringt eher einem Zufall. Bei der Rückkehr waren die beiden Erzrivalen um die Vorherrschaft im Seehandel, Venedig und Genua, in einen Seekrieg verstrickt; Marco Polo nahm als Flottenkommandant auf venezianischer Seite daran teil. In der Seeschlacht bei Curzola, bei der die Flotte Venedigs am 8. September 1298 unterlag, führte er eine venezianische Galeere und geriet in genuesische Gefangenschaft. Bis Mai 1299 wurde er festgehalten. Sein Mitgefangener war ein gewisser Rustichello da Pisa, der als Autor von Ritterromanen bekannt geworden war. Dem diktierte Marco Polo seine Reisegeschichte.

SEIN BERICHT WIRD EIN BESTSELLER

Unter dem Titel »Il Milione. Die Wunder der Welt« wurde der Bericht veröffentlicht. Er lieferte die ersten Beschreibungen des Fernen Ostens und entwickelte sich schnell zu einem der populärsten Bücher weltweit. Marco Polo wird damit bereits zu Lebzeiten zu einer Berühmtheit, weit über seine Heimatstadt Venedig hinaus. Es gibt rund 150 Handschriften des Reiseberichts, in Latein, Italienisch, Französisch, Deutsch. Das Buch wurde von Gelehrten ausgewertet, Geografen fertigten danach ihre Karten an. Selbst Christoph Kolumbus nutzte Marco Polos Angaben, um die Länge einer Seefahrt nach Indien zu berechnen. Er kalkulierte allerdings zu optimistisch.

Nach seiner Rückkehr aus genuesischer Gefangenschaft heiratet Marco Polo die venezianische Kaufmannstochter Donat Badoer, mit der er drei Töchter hat. 25 Jahre später stirbt Marco Polo am 8. Januar 1324. Die näheren Umstände seines Todes liegen im Dunklen. Bekannt ist lediglich, dass er ein Testament hinterlassen hat, in dem er seine Hinterlassenschaft klärt. Außerdem verfügt er in seinem Letzten Willen die Freilassung seines mongolischen Sklaven Piedro Tartarino, den er vor vielen Jahren aus China mitgebracht hatte.

Der Wahrheitsgehalt von seinen Reiseberichten wurde immer auch in Zweifel gezogen. Später stellten kritische Wissenschaftler etwa die Frage: »Warum hat Marco Polo ein so bedeutendes Bauwerk wie die Chinesische Mauer nicht in seinen Berichten erwähnt?« Es gibt sogar zeitgenössische Kritiker Marco Polos, die dem Venezianer seine Reisen nicht en detail glauben. Kurz vor seinem Tod – Marco Polo soll schon sehr krank gewesen sein – verlangen einige von ihm, um des lieben Friedens willen, »den Lügengeschichten abzuschwören«, schließlich ginge es um sein Seelenheil. Marco Polo soll ihnen auf seinem Sterbebett versichert haben: »Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe!«

Marco Polo wurde wahrscheinlich in der Benediktinerkirche San Lorenzo, in der auch sein Vater bestattet wurde, beigesetzt. Die Gräber gingen beim Umbau des Gotteshauses (1580–1616) verloren. Anderen Quellen zufolge wurde Marco Polo in San Sebastiano begraben, die auch nicht mehr existiert.

Heute ist der Flughafen von Venedig nach ihm benannt. Einsteigen, ein paar Stunden dösen und am anderen Ende der Welt ankommen. Der Patron aller Reisenden, der mit seinen unglaublichen Berichten die Welt verblüffte, hätte die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten des modernen Reisens selbst nicht geglaubt.

ARSENALE 1G/H 5

Campo dell’ Arsenale, Castello

▶ Vaporetto: Arsenale

CORTE SECONDA DEL MILIÓN 10E 4

Cannaregio

▶ Vaporetto: Rialto

Venedig. Eine Stadt in Biographien

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