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WARUM ICH NICHT MEHR SCHWEIGEN KANN

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Am 7. Jänner 2015 verübten zwei Islamisten einen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris. Elf Menschen wurden dabei getötet. Weltweit gingen Menschen auf die Straße und bekundeten ihre Solidarität mit den Opfern mit dem Spruch „Je suis Charlie“. Politiker aus aller Welt verurteilten den Anschlag.

Nicht so meine Schüler.

Viele meiner Schüler feierten die Attentäter wie Helden. Die Opfer spielten für sie keine Rolle. An diesem Tag wurde mir bewusst, wie stark der konservative bis fundamentalistische Islam unsere Schüler beeinflusst, wie sehr diese Religion die Gedanken der Kinder beherrscht. Ich erkannte, wie weit die Mehrheit in der Schule von den Werten, die wir Lehrer ihnen zu vermitteln versuchten, entfernt war.

Die Ursachen für diesen Terroranschlag waren für viele Schüler in der Politik Israels und der USA zu suchen – und besonders in der Beleidigung des Propheten Mohammed durch Karikaturisten. „Wer den Propheten beleidigt, hat den Tod verdient. Wir Muslime müssen uns gegen den Westen verteidigen. Niemand darf unseren Propheten lächerlich machen. Wir sind dadurch alle beleidigt und müssen die Ehre unseres Propheten verteidigen.“ Das waren nur einige von vielen Aussagen, die mich nachdenklich bis beunruhigt zurückließen.

Viele Mädchen haben geweint. Sie hatten Angst, dass ich sie jetzt nicht mehr mögen würde, weil sie Muslime sind. Die Jungen gingen mit der Situation vollkommen anders um: Sie waren wütend, gereizt und aggressiv. Doch je länger wir mit den Jugendlichen diskutierten und versuchten, auf sie einzuwirken, umso mehr stellten sie ihre islamistischen Sympathien und Theorien infrage. Zumindest für den Moment. Am Ende blieb meist die Vorstellung: Das waren keine Muslime wie wir. Denn wir tun so etwas nicht.

Dieses Erlebnis führte mich zu der Frage: Woher kommt die ablehnende und aggressive Haltung dieser Jugendlichen gegenüber unserer Gesellschaft? Eigentlich wollen diese Kinder ja zu uns gehören und die Freiheiten unseres westlichen Lebensstils genießen. Aber sie können nicht. Es gibt eine Kraft, die sie zurückhält, die stärker ist als alles andere: ihr muslimischer Glaube. Er kontrolliert und lenkt sie.

Ich konnte diese Vorfälle nicht mehr als bedauerliche Einzelfälle abtun. Es ging nicht mehr. In meiner Schule hatte sich etwas Grundlegendes verändert, und ich empfand ein wachsendes Unbehagen bei dem Gedanken, dass der Islam für viele Schüler das Wichtigste in ihrem Leben geworden war. Religiöse Gebote und Verbote beherrschten ihr Denken. Sie gehorchten ihrem Glauben. Alles andere musste sich unterordnen. Die Religion hatte unsere Schule im Griff. Das ging so weit, dass diese Schüler mit unserer Kultur nichts zu tun haben wollten, sie hassten und sie immer mehr auch aktiv bekämpfen wollten. So wie die Charlie-Hebdo-Terroristen, die genau deswegen von ihnen bewundert wurden.

Die Anschläge von Paris waren bei uns in der Schule noch sehr lange Thema. Im Lehrerzimmer diskutierten wir intensiv und emotional miteinander, besonders über die Reaktionen unserer Schüler. Sosehr alle über die ausdrücklichen Sympathiebekundungen entsetzt waren, wirklich überrascht war niemand. Die Veränderungen in den Jahren zuvor waren zu offensichtlich. Viele muslimische Schüler und deren Eltern hatten eine immer fundamentalistischere und radikalere Richtung eingeschlagen.

Viele meiner Kollegen hatten die Veränderung auch gespürt, wagten dennoch nicht offen darüber zu sprechen. Bis heute scheuen sich viele Lehrer, Kritik am Islam zu üben. Der Grund des Schweigens liegt in einer Verwechslung von Akzeptanz und Toleranz sowie der Sorge, als überfordert und islamophob diffamiert zu werden.

Dabei sind die Hinweise auf diesen religiösen Wandel nicht zu übersehen. Viele unserer Schüler entglitten uns zunehmend in die Welt des Glaubens. Wir konnten sie dorthin nicht begleiten. Zurückhalten konnten wir sie auch nicht. Die Gräben zwischen uns wurden größer, und wir kamen immer weniger zu ihnen durch. Jeder weitere islamistische Terroranschlag erhärtete den Verdacht: Immer mehr muslimische Schüler haben Verständnis für diese Gräueltaten. Die Sympathien für die Attentäter sind stärker als das Mitleid mit den Opfern.

Lehrer und Schüler leben in zwei völlig verschiedenen Welten, die nicht miteinander vereinbar sind. Und wir Lehrer haben das akzeptiert. Was bleibt uns anderes übrig? Wir haben nicht mehr die Kraft, gegen dieses religiöse Gedankengut unserer Schüler anzukämpfen. Es ist zu stark. Wir sind zu schwach.

Der Stadtschulrat (SSR) für Wien machte sich offenbar zum Zeitpunkt der Pariser Anschläge noch keine großen Sorgen über die Radikalisierung junger Muslime in Österreich. Frankreich sei ein anderes Land mit einer anderen Geschichte und zum Glück nicht einmal ein Nachbarland Österreichs. Bei uns schien, zumindest für den SSR und die Wiener Stadtpolitik, Integration zu funktionieren. Natürlich gab es Beispiele gelungener Integration. Man konzentrierte sich allerdings nur auf diese und übersah dabei die immer größer werdenden Brennpunkte. Als Sozialdemokratin war auch ich jahrelang davon überzeugt gewesen, dass Integration in jedem Fall gelingen müsste. Es braucht nur genügend Ressourcen und die Akzeptanz der österreichischen Mehrheitsgesellschaft. Diese Einschätzung teile ich heute nicht mehr. Schon damals sprach ich meinen Dienstgeber und die Lehrergewerkschaft auf das Thema „Politischer Islam in der Schule“ an. Bei beiden stieß ich über Jahre auf Unverständnis und Desinteresse. Oft auch auf Kritik und Ablehnung.

Nachdem sich die Anschläge in Europa, wie auch die Vorfälle mit radikalisierten Jugendlichen an Schulen gehäuft hatten, fanden dann schließlich doch einige Veranstaltungen zur Deradikalisierung an Schulen statt. Ich war mit keiner wirklich zufrieden. Die vortragenden Referenten vermittelten mir stets den Eindruck, das Problem nicht verstanden zu haben: „Ändert euch und akzeptiert die Welt, in der eure Schüler leben, wie sie ist. Dann wird Integration gelingen.“ Eine realitätsfernere und naivere Meinung konnte man nicht haben. Ich sollte akzeptieren, dass diese Jugendlichen die religiösen Gesetze unseren weltlichen vorziehen? Ich sollte mich damit abfinden, dass Mädchen nicht schwimmen gehen dürfen und mit Einsetzen ihrer Periode in einer Moschee nach einem passenden Ehemann gesucht wird? Ich sollte zusehen, wie muslimischen Schülern unser kulturelles Leben vorenthalten wird, weil es in den Augen ihrer Eltern harām (religiös verboten) ist?

Einwände vonseiten der Lehrer, die Probleme bei der Integration könnten auch an den Familien und muslimischen Communitys liegen, wurden mit der moralischen Überlegenheit der Vortragenden weggewischt. „Lehrer müssen mehr Selbstreflexion betreiben. Die Türken sind ein stolzes Volk. Das Fasten im Ramadan ist wichtig für Muslime.“ Derartige Aussagen veranlassten mich, bei den Deradikalisierungs-Experten in unseren Seminaren nicht unbedingt Verständnis zu erwarten. Also versuchte ich mein Glück im privaten Umfeld.

Doch auch meine Freunde und Bekannten, allesamt bürgerliche Linke, zeigten wenig Interesse an diesen Entwicklungen. Sie wollten nicht glauben, was ich ihnen erzählte. Ich versuchte in einigen Gesprächen zu erklären, dass muslimische Schüler nicht nur im Internet, sondern sehr wohl auch in ihren konservativen Moscheen und Verbänden bei uns in Österreich radikalisiert werden. Diese Gespräche über Integrationsprobleme führten meist zu Vergleichen mit der katholischen Kirche oder zu positiven Berichten über Reisen durch muslimische Länder, natürlich aus der Jugendzeit. Der beste Beweis für gelungene Integration war dann letztendlich der Brunnenmarkt in Wien, ein türkischer Straßenmarkt, wo man so schön Kaffee trinken und billig einkaufen kann. Angesichts dieser Ignoranz zog ich mich auch im privaten Umfeld immer weiter zurück. Bis heute ist es mir unverständlich, warum Linke den konservativen Islam verteidigen. Jahrelang haben dieselben Linken die katholische Kirche – zu Recht – kritisiert und ihre Anhänger abfällig als „Kerzlschlucker“ bezeichnet.

Als Ansprechpartner für meine Schulprobleme blieben nur noch Familienmitglieder und engste Freunde. Am nächsten waren mir aber immer meine Lehrerkollegen. Nur sie verstanden, was wirklich an Brennpunktschulen passiert. Nur sie bekamen mit, unter welchem furchtbaren Druck viele unserer muslimischen Schüler stehen und wie zerrissen sie sind. Nur mit meinen Kollegen konnte ich auch die schlimmsten Ereignisse besprechen; manchmal zynisch und desillusioniert. Lange Zeit hielt ich mich an die Vorgabe des Dienstgebers und sprach in der Öffentlichkeit nicht über die Probleme an Wiener Schulen. Die Amtsverschwiegenheit schob ich ehrlich gesagt nur vor. Der Hauptgrund war die Sorge, in die Nähe von rechtskonservativen Parteien gerückt zu werden. Einerseits entspricht das nicht meiner politischen Haltung. Andererseits könnte das zusätzliche Isolation im beruflichen wie im privaten Leben bedeuten. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Also schwieg auch ich lange Zeit.

Mein gesamtes Erwachsenenleben stand ich dem linken Rand der Sozialdemokratie nahe. Ich empfand die Aussicht, in die Nähe einer rechten Partei gerückt zu werden, als bedrohlich. Und so besprach ich Probleme nur mehr mit Kollegen, die mit ähnlichen Situationen an ihren Schulen konfrontiert waren. Wir diskutierten zum Beispiel die Motivation von Schülern, Wildschweine zu quälen und zu töten und die verharmlosende Reaktion ihrer Eltern. Wir unterhielten uns darüber, warum unsere Schüler den Ehrenmord an einer afghanischen Schülerin verteidigten, und warum Mädchen meinten, ihre Familie müsste sie töten, wenn sie einen Christen heiraten. Natürlich suchte ich in vielen Fällen auch das Gespräch mit meinem Dienstgeber. Leider nur mit geringem Erfolg. Dies machte die Arbeit mit vielen unserer Schüler nicht unbedingt einfacher.

Als ÖVP und FPÖ im Dezember 2017 an die Regierung kamen, wurde der Druck des Stadtschulrats, der Gewerkschaft, und auch der moralische Druck des privaten Umfelds, nicht über Integrationsprobleme – schon gar nicht von Flüchtlingskindern – zu sprechen, noch einmal erhöht. Meine Frustration darüber war, ehrlich gesagt, manchmal größer als jene über die neue Regierung.

Anfang Jänner 2018 ging ich zur Abschlusskundgebung der großen Demonstration gegen die neue türkis-blaue Regierung auf dem Heldenplatz in Wien. Als Sozialdemokratin kritisierte ich den geplanten Abbau im Sozialsystem, das war meine Hauptmotivation hinzugehen. Ich lauschte einer Rednerin, die uns Demonstranten aufforderte, unsere Körper schützend vor alle Moscheen zu werfen. Tosender Applaus um mich herum! Frauen mit netten Transparenten riefen spontan: „Wir werden Kopftuch tragen!“

Ich war in diesem Moment wie erstarrt und fühlte mich wirklich einsam. Ich musste die Demo fluchtartig verlassen. Natürlich darf kein Mensch aufgrund seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert werden. Meine Gedanken waren aber auch: Würden diese jubelnden Demonstrantinnen ihre Körper auch vor Moscheen werfen, mit deren Hilfe meinen Schülerinnen ein Ehemann vermittelt wird? Werfen sie den Körper auch vor jene Moscheen, die den Koran über unsere Verfassung stellen, die unsere Jugendlichen daran hindern, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren? Wirft eigentlich irgendjemand von diesen aufgeklärten und toleranten Linken seinen Körper vor ein Mädchen, dem mit Mord gedroht wird, wenn es aus starren patriarchalen Familienverhältnissen ausbrechen will?

Die Ignoranz der Sozialdemokraten in meinem beruflichen Umfeld gegenüber Problemen mit muslimischen Schülern sehe ich rein pragmatisch: Sie wollen wiedergewählt werden und ihre Posten behalten. Deswegen darf es kein Problem geben, für das sie verantwortlich gemacht werden können. Die Ignoranz im privaten Bereich ist dagegen von romantischen Vorstellungen geprägt: Links ist gut, Rechts ist böse. Und wir Linken sind die Retter der Unterdrückten. Hinterfragen ist oft schon zu mühsam. Das Leben soll einfach und schön sein. Beides erhöhte den Druck in mir, über die wirklichen Probleme muslimischer Schüler zu sprechen. Denn für mich gehören sie zu uns, und darum muss sich eine Mehrheitsgesellschaft ihrer Probleme annehmen. Ich bin heute davon überzeugt: Was den betroffenen Kindern und Jugendlichen am meisten schadet, sind falsche Toleranz und Stillschweigetaktik gegenüber dem radikal-konservativen Islam.

Kulturkampf im Klassenzimmer

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