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Jasper

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Mai 2000

Die Schulklingel läutet zum Ende der zweiten Pause, der Schultag scheint wie jeder andere zu verlaufen.

Jaspers Leiche liegt zerschmettert im Treppenhaus der großen Eingangshalle. Schnell breitet sich eine Blutlache neben seinem Kopf aus und bildet einen starken Kontrast zu dem schwarz-weißen Karomuster der Fliesen.

Flüsternde Mädchen und Jungen drängen sich um den toten Mitschüler, um seine Leiche möglichst genau sehen zu können. Endlich eine richtige Sensation! Eine blutige, sogar eine tödliche Sensation! Genau wie im Film! Sie zeigen keine spontane Trauer, kein Mitleid, überhaupt keine Gefühle, nur ein kleiner Junge beginnt zu weinen. Blitzschnell werden Handys gezückt, um zu fotografieren.

Frau Rieck, eine junge Lehrerin, kommt aus der Pausenaufsicht. Da sie nicht schwindelfrei ist, benutzt sie das zum Hinterausgang gelegene, geschlossene Treppenhaus und braucht immer etwas länger in die Halle.

Als Frau Rieck den toten Jasper entdeckt, schreit sie fassungslos: „Mein Gott! Was ist ihm denn passiert?“ Vor Schreck kann sie sich nur mühsam auf den Beinen halten, ihre Stimme zittert: „Hat schon jemand den Notarzt gerufen? Nein?“ Hektisch blickt sie von einem zum anderen, doch sie bekommt keine Antwort. „Sofort in die Klassenzimmer mit euch! Ich übernehme das und bleibe bei ihm! Los jetzt! Los!“

Murrend und betont langsam zerstreuen sich die Schulkinder.

Nach dem Notruf bricht Frau Rieck schluchzend neben Jaspers Leiche zusammen.

Drei Monate früher

Anne und Thore leben mit ihren drei Kindern in einer alten, verwohnten Reihenhaus-Siedlung. Damit haben sie sich einen langjährigen Traum erfüllt, denn beide Ehepartner sind in vernachlässigten, elenden Komplexen des sozialen Wohnungsbaus am Stadtrand aufgewachsen, in völlig zerrütteten Familienverhältnissen.

Ständig bemühen sie sich, ihren Nachbarn alles recht zu machen und das strengt sie mehr an, als ihnen selbst bewusst wird. Anne und Thore sind unendlich stolz auf ihre Berufsausbildungen und ihre Jobs, denn ihre Eltern hatten keine Ausbildungen und waren häufig, auch für längere Zeit, arbeitslos.

Thore ist als Kfz-Mechatroniker in einer großen Vertragswerkstatt angestellt, Anne arbeitet halbtags als Fachverkäuferin in der Filiale einer großen Bäckerei. Finanziell reicht das gerade aus für eine Familie mit drei Kindern. An oberster Stelle in der Haushaltsführung steht strenge Sparsamkeit, um jedem Kind ein Hobby oder eine Sportart zu ermöglichen.

Die zarte Ina, die jüngste Tochter, weiß ganz genau, dass Thore sie als seine kleine Prinzessin vergöttert. Mit sechs Jahren bezaubert sie alle mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit. Ina fällt es unendlich schwer, Entscheidungen zu treffen.

Ihr Bruder Markus schwärmt für den Boxsport und als Achtjähriger ist er schon fest entschlossen, in eine erfolgreiche Karriere als Profiboxer zu starten.

Jasper, der Älteste, benimmt sich ganz anders als seine Geschwister. Er fühlt sich unglücklich und bleibt am liebsten ganz für sich allein in seinem Zimmer und liest traurige Gedichte.

Seine Eltern sind der Meinung, dass er sich für einen Dreizehnjährigen irgendwie komisch verhält.

„Jasper! Frühstück! Wo bleibst du denn? Du kommst wieder zu spät zur Schule!“

Annes Stimme klingt immer schärfer. „Was macht er nur so lange da oben?“

Ungeduldig blickt sie zur Küchentür.

Geübt schiebt Ina Brotstückchen auf ihrem Frühstücksbrett hin und her und tatsächlich wirkt es so, als ob das Brot weniger wird. „Er liest was und weint.“

Anne lacht auf. „Das gibt's doch nicht! Wahrscheinlich liest er jetzt schon vor dem Frühstück todtraurige Gedichte. Er steigert sich da richtig rein. Mensch, Thore! Sag' doch auch mal was.“

Thore blickt überrascht auf. „Ich? Er wird bestimmt gleich runter kommen. Ich denke, wir sollten ihm etwas mehr Zeit geben. Wie sagt man? Das wächst sich raus.“ Thore lächelt seine Frau unsicher an und trinkt einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen.

Ungeduldig, fast schon abwehrend schüttelt Anne den Kopf. Beim Familienfrühstück fühlt sie sich ganz alleine dafür verantwortlich, dass alle pünktlich das Haus verlassen und das stresst sie total.

Mit voll gestopftem Mund grinst Markus breit: „Er weint aber richtig doll, Mama.“

Anne sieht ihn irritiert an. „Du sollst doch nicht schwindeln, Markus.“

Markus hält sich an seinem Kakaobecher fest und bleibt dabei: „Das tu' ich nicht, Mama. Ich hab's gesehen, als ich runter gekommen bin. Und seine Schultasche hat er auch noch nicht gepackt.“

Gequält seufzt Anne und steht so abrupt von ihrem Küchenstuhl auf, dass der fast umfällt. Sie stürmt die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal.

Oben spricht sie laut, kurz und böse.

Plötzlich hören sie Jasper schreien: „Ich bring' mich um! Ich bring' mich um!“

Einen Moment herrscht absolute Stille in der Küche, nur Ina schiebt ungerührt kleine Brotstückchen über das Brettchen.

Anne lacht und schreit zurück: „Red' doch keinen Quatsch. Hast du das aus deinen Gedichten? Komm' jetzt runter frühstücken. Sofort!“

Unten lächelt Thore Anne liebevoll an, als sie sich wieder hinsetzt.

Mittlerweile schwärmt Markus von einem neuen Ausdauertraining, das für seine Fortschritte im Boxen angeblich megawichtig ist.

Anne und Thore gehen heute Abend zu ihrem monatlichen Kegelabend, ihr gemeinsames, gesellschaftliches Highlight. Voller Vorfreude hat Thore schon gute Laune und übersieht großzügig Inas Versuche, ihr Frühstücksbrot jetzt im Kakao zu versenken und er hat auch keine Lust, sich den ganzen Tag und vor allem den Abend von seinem ältesten, ständig traurigen und deprimierten Sohn verderben zu lassen. Er steht auf und schaut zufrieden aus dem Küchenfenster. Gestern hat er nach der Arbeit den kleinen Vorgarten mit bunten Frühlingsblumen bepflanzt. Es ist ihm sehr wichtig, diese Arbeiten genau zur gleichen Zeit wie seine Nachbarn zu erledigen. Es sieht recht annehmbar aus, langweilig, haargenau wie in Gärten der Nachbarn. Auf keinen Fall möchte Thore Anlass zur Kritik geben, dass wäre schrecklich für ihn. Immer noch lächelnd setzt er sich wieder an den Tisch, um weiter zu frühstücken. Es gelingt ihm, Anne mit ein paar Bemerkungen über den Kegelabend abzulenken. Was wird sie anziehen? Den neuen Rock? Bald lachen die beiden zusammen und blenden alles um sich herum aus.

Unbemerkt erscheint Jasper ein paar Minuten später mit verweinten Augen am Frühstückstisch. Er trinkt nur ein paar Schlucke von seinem fast kalten Kakao.

Mittags kommt Anne gerade aus der Bäckerei nach Hause, als das Telefon klingelt.

„Hallo? Frau Schmidt? Hier ist Frau Rieck, Jaspers Klassenlehrerin. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“

„Oh nein!“, flüstert Anne. In der Bäckerei war heute der Teufel los. Das sagt sie immer, wenn die Kunden sich vier Stunden lang die Tür in die Hand geben. Jetzt möchte sie nur noch die Spülmaschine ausräumen, den Eintopf in die Mikrowelle stellen, ihre Kleidung für heute Abend herauslegen und sich dann einen Moment hinlegen. Diesen Luxus gönnt sie sich nur an den Tagen, an denen der Kegelabend stattfindet. Das Telefonat stört sie einfach. „Wenn es nicht zu lange dauert, Frau Rieck.“ Anne bemerkt das kurze Zögern auf der anderen Seite. Hat die Lehrerin ihr spontan geflüstertes Nein gehört? Unmöglich!

„Frau Schmidt, es ist wirklich wichtig. Jaspers Schulleistungen haben rapide nachgelassen, in allen Fächern und er beteiligt sich überhaupt nicht mehr am Unterricht. Es ist auch ganz untypisch für ihn, dass er seine Hausaufgaben nicht mehr erledigt.“

Anne versucht, die Lehrerin zu unterbrechen. „Frau Rieck!“

„Einen Moment bitte, Frau Schmidt, das ist ja noch nicht das Wichtigste. Jasper ist ständig so deprimiert, er macht einen richtig unglücklichen Eindruck auf mich. Ich habe schon mehrere Male vergeblich versucht, ein vertrauensvolles Gespräch mit Jasper zu führen. Er kann oder er will mir keinen Grund für seine Traurigkeit nennen, aber in seinen Aufsätzen gibt es so schrecklich düstere Andeutungen. Das macht mir richtig Angst.“

Anne stöhnt. „Ich weiß, ich weiß, er ist auch zu Hause deprimiert, sitzt nur noch in seinem Zimmer und liest … Er schwafelt sogar von Selbstmord, wenn ihm was nicht passt, so ein Quatsch!“

Frau Rieck ist fassungslos. „Wie furchtbar, Frau Schmidt! Was unternehmen Sie denn dagegen? Ich hoffe, Jasper ist in Behandlung, oder kann ich Ihnen mit einer guten Adresse für eine Therapie helfen?“

Anne schmunzelt. „Wieso denn? Das ist doch nur Gerede, vielleicht eine harmlose Phase, mehr nicht. Aber Jasper braucht bestimmt keine Behandlung.“

So schnell gibt Frau Rieck nicht auf, sie ist ernsthaft beunruhigt. „Frau Schmidt, was sagt denn Ihr Mann zu Jaspers Verhalten?“

Langsam verliert Anne die Geduld. „Er sieht es selbstverständlich haargenau so wie ich, Frau Rieck. Und jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Ich bin in Eile.“ Am anderen Ende der Leitung hört Anne hastiges Blättern.

„Frau Schmidt, können wir das nicht in den nächsten Tagen noch einmal persönlich besprechen, vielleicht sogar gemeinsam mit Jasper? Ich kann Ihnen auch verschiedene Termine anbieten. Bitte, Frau Schmidt, ich halte das für ein ernstes Problem.“

Anne sieht nervös zur Uhr. Gleich kommen schon Ina und Markus aus der Schule, dann hat sie keine Chance mehr, sich ein paar Minuten auf dem Sofa auszuruhen.

„Nein, Frau Rieck, danke, wirklich nicht nötig. Wiederhören.“

„Aber, Frau Schmidt!„

Das Klicken in der Leitung unterbricht den zaghaften Versuch der Lehrerin, Jasper zu helfen.

Zwei Monate früher

Jasper sitzt in seinem Zimmer und weint. In allen wichtigen Klassenarbeiten hat er mangelhaft abgeschnitten und weil er sich schämt, die Noten seinen Eltern verschwiegen. Seine ständig deprimierte Stimmung hat ihn in der Schule völlig isoliert.

Seine Mitschüler lassen keine einzige Gelegenheit aus, Jaspers Vorliebe für Lyrik als Zielscheibe für Hohn und Spott zu nutzen. Vom traditionellen Tafelbild bis zu Facebook und Twitter sind ihnen alle Mittel recht, um ihn zu verletzen. Wenn er sich mit Horrorgeschichten oder Mystery-Romanen gut auskennen würde, das wär' immerhin cool… Die Mädchen zeigen da etwas mehr Toleranz. Im Sportunterricht kann er auch nicht glänzen, ganz im Gegenteil. Die anderen hänseln ihn grausam wegen seiner Unsportlichkeit und hier mischen auch die Mädchen völlig unbekümmert mit.

Zu Hause tratschen Anne und Thore alleine über Nachbarn und Arbeitskollegen, als Eltern hören sie Ina und Markus aufmerksam zu, wenn sie umständlich versuchen, kleine Anekdoten aus der Schule zu erzählen und gemeinsam lachen sie ausgelassen.

Ausgiebig prahlt Markus mit kleinen Trainingsfortschritten und Ina wünscht sich sehnlich Musikunterricht. Nur fällt es ihr schwer, sich für ein Instrument zu entscheiden. Bisher weigert sie sich beharrlich, dem Rat der Musikschule zu folgen und mit einer Blockflöte zu beginnen.

Demnächst wird Thore befördert und er kann sein Glück kaum fassen, nur Anne hat Sorgen.

Ihr Arbeitsplatz fällt eventuell einer Rationalisierungsmaßnahme zum Opfer. Doch sie zwingt sich zum Optimismus und sagt sich immer wieder: „Du bist eine Bäckereifachverkäuferin und du hast schon viele Jahre Berufserfahrung, ganz klar, du findest sofort wieder eine neue Stelle.“

Jeden Abend macht Thore ihr Mut, so gut er eben kann.

Jasper muss richtig leiden, er ist der Blitzableiter für alle. Es ist ganz einfach, sich über Jaspers Liebe zu Gedichten lustig zu machen und so reißt auch die Familie bösartige Witze. Doch immer häufiger ignorieren die Familienmitglieder ihn einfach in seiner Traurigkeit und Jasper fühlt sich so unsichtbar als trüge er eine Tarnkappe.

Viel Zeit verbringt er allein in seinem Zimmer und weint.

An einem Dienstag geht Jasper in der ersten, großen Pause von der Schule einfach nach Hause, ohne dass es jemand bemerkt.

Jasper schwänzt jetzt oft den Unterricht.

Auf dem Heimweg trödelt Jasper, in der Hand hält er einen Info-Brief an die Eltern, der detailliert Auskunft über eine mehrtägige Klassenreise gibt. Ernsthaft überlegt er, den Brief einfach verschwinden zu lassen. Das geht aber nicht, der Brief soll in drei Tagen von einem Elternteil unterschrieben, an Frau Rieck zurückgegeben werden. Diese Klassenreise empfindet Jasper als eine Katastrophe, er will unbedingt zu Hause bleiben und weiß nur nicht, wie er das anstellen soll. Er läuft immer langsamer.

„Na, du heulender Dichter? Freust du dich auch schon auf die Klassenfahrt?“ Tim, der beste Fußballspieler der Klasse, überholt ihn lachend auf dem Fahrrad. Ein kräftiger, schmerzhafter Tritt befördert Jasper vom Fußweg auf die Straße.

Die drei anderen Jungen, die Tim ständig begleiten, brüllen vor Lachen. Sie brennen schon darauf, Jasper Tag und Nacht schikanieren zu können.

Langsam schlurft Jasper zurück auf den Fußweg, Schmerzen zeigt er nicht, das macht alles nur schlimmer. Hektische rote Flecken breiten sich auf Gesicht und Hals aus.

Zu Hause legt er den Info-Brief einfach auf den Küchentisch und geht still nach oben in sein Zimmer. Zu melancholischer Musik legt er sich mit seinem liebsten Gedichtband aufs Bett.

Als Anne abgehetzt vom Einkaufen kommt, findet sie den Info-Brief. Sofort ruft sie nach oben: „Jasper? Kommst du mal runter?“ Minuten vergehen, während Anne die Lebensmittel verstaut. „Jasper! Wo bleibst du? Ich möchte mit dir reden.“ Endlich hört sie Schritte auf der Treppe. „Hallo, Jasper, ich hab' den Info-Brief gefunden. Ihr geht auf Klassenfahrt?“ Sie blickt flüchtig auf. „Du hast ja schon wieder geweint. Was ist denn los? Klassenfahrten sind doch toll.“

Jasper zögert, dann sagt er leise: „Ich möchte nicht mitfahren. Kann ich nicht solange in die Parallelklasse gehen? Ich helfe dir auch mehr im Haushalt.“

Irritiert sieht Anne ihren Sohn an. „Du gehst also freiwillig zum Unterricht, nur damit du nicht an der Klassenfahrt teilnehmen musst?“

Jasper nickt, Anne wird ärgerlich. „Weißt du eigentlich, dass deine Klassenlehrerin mich angerufen hat, weil du schwänzt?“

Jasper zuckt zusammen und sinkt auf den nächsten Küchenstuhl.

„Und deine schlechten Noten hast du uns auch nicht gezeigt. Warum? Willst du sitzen bleiben, oder was?“

Über Jaspers Gesicht beginnen wieder Tränen zu laufen. „Jasper, heul' nicht wieder. Davon wird's nicht besser. Du gehst ab jetzt wieder regelmäßig zur Schule, verstanden? Und reiß' dich zusammen.“

Jasper nickt kläglich.

„Brauchst du Nachhilfe oder schaffst du das alleine?“

Schniefend schüttelt er den Kopf.

„Dann sind wir uns ja einig. Ich besprech' das noch mit Papa. Die Klassenreise machst du mit, das ist klar. Auch wenn die ziemlich teuer ist.“ Sie ringt sich ein Lächeln ab und blickt auf die Uhr.

Während er langsam an seiner Mutter vorbeigeht, sagt Jasper: „Wenn ich auf Klassenfahrt gehen muss, bring ich mich um!“

Anne lacht: „Klar, Jasper! Erst die Parallelklasse und jetzt Selbstmord. Die anderen fahren doch auch alle mit, oder?“

Jetzt hat sie es eilig und muss noch schnell das Mittagessen vorbereiten. Immer dieses blödsinnige Gerede.

Heute Abend mit Thore kann sie bestimmt schon wieder darüber scherzen, ganz bestimmt.

Jasper geht die Treppe nach oben. Zum ersten Mal schließt er sich in seinem Zimmer ein.

Mai 2000

Es ist ein strahlend schöner Maimorgen, schwungvoll betritt Frau Rieck den Klassenraum.

In der letzten Woche hat sie mit ihrer Klasse vereinbart, dass heute die unterschriebenen Abschnitte der Infobriefe auf dem Pult für sie bereit liegen sollen.

Frau Rieck ist gespannt, ob die Jugendlichen sich an die Absprache gehalten haben.

Eltern haben sich nicht mit Rückfragen gemeldet, vielleicht passiert das ja auch erst an dem Elternabend, direkt vor der Klassenreise.

Nach der Begrüßung wartet sie kurz, bis sich das Stimmengewirr legt.

Alina, die ganz vorne sitzt, meldet sich mit einer umständlichen Erklärung, dass sie den unterschriebenen Zettel zu Hause vergessen hat.

Schnell zählt Frau Rieck den Stapel mit den Briefabschnitten durch, der tatsächlich auf dem Pult bereit liegt. Die Anzahl stimmt nicht, ein weiterer Abschnitt fehlt. Sie zählt noch einmal und kommt exakt zum gleichen Ergebnis.

Mittlerweile unterhält sich die Klasse leise.

Frau Rieck sieht auf und bevor sie etwas sagt, schaut sie noch einmal langsam durch die Reihen. Das fehlende Papier liegt mitten auf Jaspers Tisch. Die Lehrerin steht auf und geht zu ihm, freundlich fragt sie: „Warum hast du deinen Abschnitt nicht abgegeben, Jasper?“

Jasper sieht sie unendlich traurig an, sagt nichts.

Die ersten Mitschüler kichern.

Frau Rieck streckt die Hand nach dem Stück Papier aus, doch Jasper ist schneller.

Er knüllt den Briefabschnitt blitzartig zusammen, lässt ihn in seinem Mund verschwinden, kaut kurz und schluckt ruckartig.

Die Klasse tobt vor Lachen.

„Ruhe! Sofort!“, schreit Frau Rieck. Die Heiterkeit beruhigt sich nur langsam. Sehr leise fährt sie fort: „Jasper, ich möchte nach der Stunde mit dir sprechen, ja?“

Jasper nickt mit unbewegtem Gesicht, auf dem sich wieder hektische, rote Flecken ausbreiten.

Die Lehrerin dreht sich um und versucht, so routiniert wie möglich in die Deutschstunde zu starten.

Die Schulklingel ertönt zur Pause, gleichzeitig bricht ohrenbetäubender Lärm aus, dabei geht Frau Riecks Ansage der Hausaufgaben unter. Frustriert schüttelt sie den Kopf, jetzt konzentriert sie sich auf Wichtigeres. Während Bücher und Unterlagen geschickt und ordentlich in ihrer Aktentasche verschwinden, überlegt sie, wie sie das Gespräch mit Jasper möglichst einfühlsam beginnen kann. Als sie aufblickt, sitzt Jasper an seinem Platz und räumt seine Sachen betont langsam auf.

Zwischendurch blickt er unglücklich aus dem Fenster des Klassenzimmers, das im dritten Stock liegt. Sein Gesicht zieren immer noch einige rote Flecken.

Die ersten Jugendlichen verlassen das Klassenzimmer und zum wiederholten Mal beobachtet Frau Rieck, dass die Clique um Tim absichtlich Jasper schmerzhaft an der Schulter rammt. Das muss gleich auch zur Sprache kommen und Tim schnappe ich mir später auch, alleine, ohne seine Clique. Frau Rieck hat zusammengepackt und will auf Jasper zugehen, doch der ist verschwunden. Verdutzt sitzt Frau Rieck allein im Klassenzimmer.

Die wilde Panik vor seinen Mitschülern und der Klassenreise haben das Gespräch mit Frau Rieck komplett verdrängt. Jasper glaubt schon lange nicht mehr, dass sich jemand ernsthaft für ihn interessiert oder ihm helfen will. Alles erscheint so sinnlos, er fühlt nur noch Angst. Die bleischwere Tasche zerrt an seinem Arm. Wie in Trance bewegt sich Jasper zur Tür des Klassenzimmers.

Plötzlich steht er oben im Treppenhaus, stellt die Tasche ab, steigt ruhig und ohne zu zögern über das Geländer.

Jasper springt in die Tiefe.

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