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Einleitung

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Unser Körper ist Gegenstand eines Krieges. Es ist ein Krieg mit unerwarteten Kontrahent*innen und ungewissem Ausgang. Wie in jedem Krieg fallen Ressourcen mal dieser, mal jener Seite in die Hände. Wie in jedem Krieg hüllen die ins Feld geführten Ideologien die Gegner*innen und den Schauplatz in den Nebel des Ungefähren: Manchmal erkennen wir, dass etwas unseren Blick verstellt, ein andermal ist es Teil unseres Normalzustandes, wie die Schwerkraft, unsichtbar, aber unentrinnbar.

Das Terrain des Körpers verändert sich. Neue Entwicklungen und Erkenntnisse – #MeToo, Künstliche Intelligenz, Epigenetik, die Trans-Bewegung, das Einfrieren von Eizellen, Schönheits-OP-Apps für Sechsjährige, Selfies, Snapchat-Dysmorphie, die Kardashians, das Spiegelneuronensystem, Influencer*innen, Black Lives Matter, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Politik aus dem Bauch heraus, Leihmutterschaft, Implantate, Sexpuppen – erfordern neues Denken. Zwei Trends stoßen aufeinander: die Schwierigkeit, in unserem derzeitigen Körper mit seinen vielen Dilemmata zu leben, und die Verheißung einer problemlosen, nahezu körperlosen Existenz in einer Zukunft, die durch Algorithmen, KI-Chemie und synthetische Biologie bestimmt ist.[1] Und dann ist da noch die Dystopie, die die New York Times kürzlich in einem Editorial entworfen hat: die Wahrscheinlichkeit, dass ein konservativer Supreme Court die Rechte des Fötus über die der Mutter stellt. Jetzt, da einige Bundesstaaten mit ihrem Abtreibungsverbot diese Rechte umgewichtet haben, so argumentierte der Artikel, könnten womöglich auch Trinken und Rauchen während der Schwangerschaft strafrechtlich verfolgt werden. Eine Frau, die sich einer Brustkrebsoperation unterziehen musste, erfuhr beispielsweise, dass ihr, wäre sie schwanger, die Krebsbehandlung verweigert würde, da die Rechte des Fötus Vorrang hätten.[2]

Unseren Körper als einen biologischen Organismus mit entsprechenden Beschränkungen zu begreifen, ist nicht mehr hinreichend. Der Spätkapitalismus verändert Arbeitsbedingungen und Wesen der Arbeit, verändert Klima und Umwelt, die Konzepte von Regieren und Governance sowie die Definition derer, die dazugehören dürfen, und derer, die als »andere« gesehen werden und außen vor gehalten werden müssen. Soziale Medien bestimmen neu, was Interaktion heißt und was es bedeutet, gesehen und gehört zu werden. In solchen Zeiten wird auch der Körper zum Austragungsort von Kämpfen. Ihm werden ganz neue Formen der Selbstpräsentation und Identität abgerungen, während man uns gleichzeitig auf eine entmaterialisierte Existenz hin coacht, bei der fast alles, was wir unter Leben verstehen – Essen, Atmen, Bewegung, Fühlen, Beziehungen – im Geist stattfinden wird und nicht im physischen, irdischen Körper.

In Südkorea ist das Abtragen des Unterkieferknochens zur Erschaffung eines zierlichen Kinns eine so häufige Schönheitsoperation, dass bereits Kunstwerke ausgestellt werden, die aus dem entfernten Knochenmaterial bestehen. Noch beliebter sind Kontaktlinsen, die die Pupille so vergrößern, dass die Trägerin wie eine Puppe mit riesigen blauen, grauen, violetten, grünen, braunen, türkisen oder schwarzen Augen wirkt. YouTube-Star Anastasiya Shpagina aus Odessa, deren Make-up-Tutorial, wie sie sich als Miley Cyrus schminkt, 5 Millionen Mal aufgerufen wurde, und Kandee Johnson aus Los Angeles, deren Verwandlung in Barbie es auf 35 Millionen Aufrufe bringt, zeigen minutiös, wie man sich das Aussehen nahezu jeder prominenten Person zulegen kann, indem man Kosmetika, Filler und Hairstyling-Techniken so kompetent und raffiniert einsetzt wie die besten Maskenbildner*innen Hollywoods. Jede*r, so scheint es, kann wie jede*r aussehen. Auch wie Barbie oder Ken. Tatsächlich hat Justin Jedlica, ein Instagrammer, 125 Eingriffe auf sich genommen und 185000 Dollar ausgegeben, um wie Ken auszusehen; er ließ seinen Oberkörper, sein Gesicht, seine Oberarmmuskeln und seinen Haaransatz operieren. Sein Video haben über 16 Millionen Menschen gesehen. In China ist Beauty-Blogging ein Riesengeschäft. Eine spezielle Handy-App von Meitu ermöglicht sieben Stufen der Verschönerung von Selfies, und mindestens 3 Milliarden der 6 Milliarden Fotos, die jeden Monat hochgeladen werden, sind damit bearbeitet worden. Laut HoneyCC, einer geschäftstüchtigen Bloggerin und Influencerin, die es durch Werbung für Beauty- und Bodystyling-Produkte zu beträchtlichem Reichtum gebracht hat, sind bearbeitete Selfies inzwischen Teil der chinesischen Kultur. Der Begriff wang hong lian (Internet-Celebrity-Gesicht) bezeichnet den charakteristischen Look dieser Fotos. Hautton, Gesichtsform, Weißheit der Zähne und Styling sind mittlerweile Sache eines Tastendrucks.

Auch bei uns vermarkten Influencer*innen – d.h. Individuen, die auf Instagram und anderen Plattformen über ein Publikum von 30000 Followern aufwärts verfügen – sich selbst und ihre Schönheits- und Körpergestaltungspraktiken. Diese Art von Arbeit wird nicht als Schönheitsarbeit anerkannt, ist aber genau das. Unter dem Begriff der Schönheitsarbeit müssen wir nicht nur die Werbetätigkeit der Blogger*innen ansehen, sondern die Arbeit, die wir alle verrichten, wenn wir uns zurechtmachen. Meine dreijährige Enkelin war kürzlich auf eine Geburtstagsparty in einem Nagelstudio eingeladen, in dem die Kinder von zwei Müttern und zwei Nageltechnikerinnen betreut wurden. Heute habe ich einen Mann gesehen, der sich in einem Kaufhaus fast schon öffentlich die Augenbrauen mit dem Faden zupfen ließ. Schönheitsarbeit gilt zunehmend als unabdingbar für Mädchen, Frauen und Männer. Die Frage ist: warum? Und wie ist diese Arbeit, ob sie nun durch Chirurgie, Zahnmedizin oder Filter geleistet wird, zu etwas Erstrebenswertem geworden?

Dieses Buch vertritt die These, dass der Körper »gemacht« wird. Er gilt nicht mehr nur als etwas, das gewaschen, deodoriert, gekleidet und parfümiert werden muss, bevor wir unseren Tag beginnen. Der Körper ist heute unsere unendlich formbare Visitenkarte, er tilgt oder verkündet unsere Schichtzugehörigkeit, unsere geografische Herkunft, unseren ethnischen Hintergrund, unser Genderzugehörigkeitsgefühl. Aber das ist nicht immer ungefährlich. Die Körper Schwarzer Jungen und Männer sind, speziell in London, Angriffen ausgesetzt. Die Körper von Mädchen und Frauen waren immer schon Angriffsziele, und wir erfahren jeden Tag mehr darüber, was sie in Kriegsgebieten in aller Welt weiterhin erleiden müssen – man denke an die Jesidinnen, an den sogenannten Islamischen Staat, an weibliche Genitalverstümmelung. Wir sehen die schwerwiegenden Angriffe schon in frühen Jahren, wenn Flüchtlingskinder von ihren Eltern getrennt, wenn Mädchen der Genitalverstümmelung unterzogen, wenn Jungen und Mädchen Pädophilen preisgegeben werden. Gleichzeitig mehren sich auf den Straßen die Angriffe auf die, die nach Meinung anderer der falschen Schicht oder dem falschen Geschlecht angehören oder einfach schlechthin »falsch« sind.

Auf einer weiteren Ebene, parallel dazu, intensivieren sich Künstlichkeit und Konstruktion – eine Angriffsform, die so anders ist, dass sie vielleicht gar nicht als schädigend erkannt wird, zumal sie als etwas präsentiert wird, das Spaß macht (was sie auch tatsächlich sein kann), und manchmal sogar als etwas Notwendiges.

Sie möchten aussehen wie ein Filmstar? Eine Akademikerin mit genau dem richtigen Maß an Sex-Appeal, aber nicht zu viel? Ein Banker mit einer künstlerischen Ader? Sie möchten Smokey Eyes, Kulleraugen, Augen, die sexy sind, glamourös, aufreizend, lasziv etc.? Kein Problem. Diese Looks, online wie offline erhältlich, sind mittlerweile gefühlte – wenn nicht sogar tatsächliche – Voraussetzung für Jobs, die nichts mit Aussehen zu tun haben: Es kommt immer und überall aufs Aussehen an.

Das Äußere ist alles, wie Shoppingtempel für Mode und Make-up zeigen. Operative Eingriffe erschaffen Wadenmuskeln, prägnante Wangenknochen, schmalere oder aufgefüllte Lippen, runde oder flache Pos, vergrößerte oder verkleinerte Brüste, flache Bäuche, ewig jugendliche Kinnlinien. Rigide Geschlechterstereotype werden dadurch gesprengt, dass operative Brustentfernung sich ebenso mit einem Penis wie mit einer per Testosteronbehandlung vergrößerten Klitoris kombinieren lässt. Aussehen ist entscheidend, für die Ärztin wie für den Büroassistenten. Der einmal erreichte Look muss über Selfies und Sexting endlos geteilt und bestätigt werden. Die visuelle Dauerberieselung untergräbt, was einst privat oder intim war. Erleben – ob es darin besteht, dem eigenen Kind beim Purzelbaum schlagen zuzuschauen oder eine Mahlzeit zu sich zu nehmen – ist eine unsichere Sache, solange man es nicht postet, damit es gesehen wird. Wir ertappen uns dabei, wie wir unser Erleben dokumentieren, als wäre ohne die visuelle Dauerberieselung nichts gewesen.

Das Bedürfnis nach Bestätigung und danach, gesehen zu werden, ist so mächtig, dass es schon verwunderlich, ja, geradezu ein bisschen pervers wirkt, eine Zeitlang nicht in den Spiegel zu schauen. Aber vielleicht ist das ja nötig, um die zwanghafte Selbstbespiegelung zu durchbrechen, die wir betreiben, ohne zu merken, wie sehr wir sie brauchen. In Mirror, Mirror off the Wall beschreibt Kjerstin Gruys, Dozentin für Soziologie an der University of Nevada, ihren Selbstversuch, ein Jahr ohne Spiegel zu leben. Wohl die wenigsten würden das auch nur eine Woche ertragen, geschweige denn ein Jahr (in Gruys’ Fall das Jahr, in dem sie heiratete), schon gar nicht im Zeitalter der Selfies, in dem junge Mädchen ihr Äußeres wie ein Kunstwerk gestalten, um Likes und Anerkennung zu ernten, was leider nur selten klappt. Eine von der Kommunikations- und Marktforschungsagentur Edelman/StrategyOne für Dove durchgeführte und im Oktober 2015 beim Weltfrauengipfel präsentierte Untersuchung ergab, dass 124 Likes nötig sind, um den jungen Frauen das Gefühl zu geben, okay zu sein, die meisten es aber nicht mal auf ein Fünftel dieser Zahl bringen, was nicht an ihnen liegt, sondern daran, dass alle hinter Likes herjagen und die Zeit gegen sie arbeitet.[3] Ein Online-Dasein zu führen, online Anerkennung zu suchen, durch Identifikation zu leben und Celebritys wie Kim Kardashian imitieren zu wollen, ist heute unter Mädchen und jungen Frauen weit verbreitet, aber wieder gilt es zu fragen: warum?

Gleichzeitig ist da der Austausch von Bildern sexualisierter Körperteile im Sexting zwischen Jugendlichen – eine aktualisierte Version von »Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins«. Nur dass meins in diesem Fall nicht deins bleibt, sondern auf den Handys deiner Klassenkamerad*innen landet und von Kontinent zu Kontinent wandert, um schließlich vielleicht als Pornofutter für Pädophile zu enden und zur generellen Übersetzung von Sex in Sehen beizutragen – einer Erotik, die als allgemeine Fetischisierung kaum noch eine solche ist.

Wir sind verrückt geworden, was unser Verhältnis zum Körper angeht. Hochprofitable Industrien – darunter die Kosmetik-, Mode-, Ernährungs-, Diät-, Gesundheits-, Anti-Aging-, Wellness-, Schönheits-OP-, Pharma- und Fitnessindustrie – führen Krieg gegen uns, indem sie den idealen Körper propagieren. Das sind keine kleinen Industrien, es sind riesige Wirtschaftsbranchen, die weiterwachsen. Der Umsatz der Modeindustrie in Großbritannien im Jahr 2017 betrug 32 Milliarden Pfund (gegenüber 1,2 Milliarden Umsatz der Stahlindustrie). Schönheit und Mode dominieren unsere Kaufhäuser – die echten wie die digitalen. Der Preis, den wir dafür bezahlen, sind psychische Auswirkungen auf uns als Individuen und ökologische Auswirkungen auf unseren Planeten – beides bisweilen tödlich. Zwei der reichsten Männer Europas, Bernard Arnault von LVMH und Amancio Ortega von Zara, haben ihr Vermögen mit Mode gemacht. Die reichste Frau, Françoise Bettencourt-Meyers, ist Erbin des L’Oréal-Vermögens. Doch auch der gesellschaftliche Preis ist beträchtlich, da Äußerlichkeitsideale, wie ein 2014 für die britische Regierung erstellter Bericht zeigt, das Selbstwertgefühl von Mädchen und zunehmend auch Jungen untergraben, sie von dem, was ihnen guttut, ablenken und ihre schulischen Leistungen schmälern.[4] Hinzu kommen die medizinischen Kosten durch die Zunahme von Körperbild- und Essstörungen, sei es, dass sie sich als Magersucht, Fettleibigkeit oder Bulimie manifestieren, sei es, dass sie wie die meisten Essprobleme unsichtbar bleiben, da die Figur der betroffenen Person nicht anzeigt, welche Qualen sie leidet. Es gibt wenig spezialisierte Hilfseinrichtungen, wenig Wissen über die exponentielle Zunahme von Ess- und Körperproblemen und deren Ursachen. Solange die Gesundheitsbehörden auf Adipositas fixiert sind, entgeht ihnen die enorme Zahl von Menschen, die ihren Körper durch bizarres Ess- und Nichtessverhalten, durch Ritzen, ein Übermaß an Sport oder Fitnesstraining oder durch exzessives Markieren für sich selbst real und lebendig zu machen versuchen. Selten wird gefragt: Was ist das Problem, auf das dieses Verhalten (Essen, Nichtessen, Erbrechen, Ritzen, Fressanfälle, zwanghaftes Training) reagiert? Das Problem der Körperunsicherheit und Körperinstabilität, das epidemische Ausmaße erreicht hat und zunehmend auch Jungen und Männer betrifft, führt eine Lückenexistenz. Es wird allenfalls als mysteriös beklagt, obwohl seine Zunahme proportional zur Kommerzialisierung des Körpers mit all ihren tödlichen physischen, ökologischen und psychischen Folgen verläuft.

Der ganze Wahnsinn fordert seinen Preis, die Flut von gefährlichen Brust- oder Pectoralis-Implantaten, die eine Wiederentfernung notwendig machen, ebenso wie die wachsende Nachfrage nach riskanten Schamlippenkorrektur-OPs. Und zugleich bedeutet er enorme Profite für jene Industrien, die Spaß versprechen, in Wirklichkeit jedoch das Selbstgefühl von Menschen und den Körper, in dem diese sich sicher fühlen sollten, auf verheerende Weise attackieren.

Körpertransformation ist in einem Maß alltäglich geworden, wie wir es uns bis vor Kurzem nicht hätten vorstellen können. Als Kinderspielzeug gibt es heute Schönheits-OP-Apps, die für Mädchen ab sechs vermarktet werden. Dieses Spielzeug wirkt auf den ersten Blick recht harmlos und lustig, ist es aber nicht. Die Apps zerlegen den Körper und zeigen auf, was man alles verändern kann: nicht nur Nase, Mund, Stirn, Kinn, Wangenknochen, Augen und Haaransatz, sondern auch Brüste, Taille, Hüften, Po und die Form der Beine und Füße. Auffallend ist, dass diese chirurgische Markierung eines Körpers die Kleinen nicht schockiert, weil Körpertransformation Teil der Welt ist, in die sie hineinwachsen. Sie benutzen von klein auf iPads und Filter. Fotos von kleinen Mädchen, die glamourös-aufreizend in die Kamera blicken, sind nichts Außergewöhnliches. So wenig wie Fotos von kleinen Jungen, die für die Kamera tanzen oder akrobatische Kunststückchen vollführen. Da draußen gibt es ein Publikum, vor dem man sich darstellt. Das innere Auge wird die erste prüfende Instanz, wenn das kleine Mädchen oder der kleine Junge entscheidet, wie sie oder er sich optimal präsentiert. Wenn wir hören, dass jede dritte junge Frau nicht zur Abstrich-Untersuchung geht, weil sie den eigenen Körper so schrecklich findet, wird klar, wie die frühzeitige Prägung auf kritische Selbstbewertung zum durch und durch »abjekten Körper«[5] führt.

Die Kommerzialisierung beschränkt sich nicht auf die Kindheit. Bis eine Frau in die Fünfziger kommt, hat sie bereits gelernt, dass die Menopause ein lästiges Übel ist und mitnichten den Übergang von einem Lebensstadium in ein anderes markiert. Bioidentische Hormone oder eine Hormonersatztherapie mögen für einige Frauen hilfreich sein, vermarktet aber wird beides von großen wie kleinen Pharmaunternehmen mit der Botschaft, dass es das einzig Vernünftige und die optimale Art zu leben sei, diese hormonelle Umstellung zu bekämpfen. Natürlich ist es für manche Frauen physisch und/oder psychisch schwierig, wenn ihre Menstruation ausbleibt, aber die Botschaft, dass das Übel unbedingt bekämpft werden muss, wird mit der dringenden Warnung vor Gedächtnis- und Knochenschwund in die Welt hinausgepumpt. Wir dürfen nicht altern. Altern gilt als Schande, nicht als Ausdruck von Wissen und Weisheit und dann auch eines Abbauprozesses. Siebzig ist das neue Fünfzig. Nur dass das nicht stimmt. Zwanzig Jahre verändern einen Menschen biologisch und auf der Erfahrungsebene. Wünsche und Verlangen verlagern sich, neue Herausforderungen stellen sich, das Denken reflektiert eine längere persönliche Geschichte usw. Das alles liegt auf der Hand und wird dennoch ignoriert.

Frauen werden ermutigt, die Grenzen der Fortpflanzungsfähigkeit zu verschieben und deren lästige Begleiterscheinungen zu kontrollieren. Eine junge Frau mag heute durchgängig die Pille nehmen, um keine Periode mehr zu haben, und sich dann einer Behandlung mit follikelstimulierenden Hormonen unterziehen, um sich Eizellen entnehmen zu lassen. Altern gilt nicht mehr als absolute Fortpflanzungsgrenze. Das Scheinargument lautet, dass es nie eine Rolle gespielt hat, wie alt der Vater war, warum also Bedenken wegen des Alters der Mutter haben? Altern und Sterben werden heute als Gebrechen und als potenziell unnötig begriffen. Fast jede Woche findet sich in britischen oder US-amerikanischen Zeitungen eine Story über den jüngsten Durchbruch bei der Verhinderung des Alterns. Kryonik, Fasten und die Erforschung der Rolle von Genen wie dem MC1R-Gen gehören zum neuen Wissenschaftsgebiet der Alternsforschung. Senolytika genannte Wirkstoffe sollen alternde Zellen töten, und Krebsmedikamente wie Dasatinib oder der Radikalfänger Quercetin werden dazu eingesetzt, die Lebensspanne von Zellen zu verlängern.[6] Es wird nicht mehr lange dauern, bis Gentherapie-Kosmetika auf den Markt kommen, die die »Behinderung« aufzuheben versprechen, dass man so alt aussieht, wie man ist, während uns KI helfen wird, verloren gegangene Erinnerungen und Fähigkeiten wiederzuerlangen.

Zugleich verändern Umweltchemikalien den Körper. Penelope Jagessar Chaffer zeigt in ihrem Film Toxic Baby (2016), dass puertoricanische Mädchen, die in der Nähe von Produktionsstätten für Verhütungspillen wohnen, bereits menstruieren, bevor sie in die Schule kommen. Das ist ein schwerwiegender Befund. Eine 2010 in Pediatrics erschienene Studie ergab, dass mittlerweile 15 Prozent der US-amerikanischen Mädchen schon mit sieben in die Pubertät kommen.[7] Warum? Man nimmt an, dass die Chemikalie Bisphenol A und verschiedene in Kunststoffen und Dosenbeschichtungen vorkommende Phthalate im Verbund mit den Hormonmengen, die durch die industrielle Landwirtschaft in unsere Nahrungsmittel und unser Grundwasser gelangen, das endokrine System beeinflussen. Wir lernen immer mehr über die Auswirkungen der menschlichen Zivilisation auf das Wasser. Während ich dies schreibe, zeigt ein Bericht der New York Times auf, wie sich das Ökosystem des Pazifiks in Nordkalifornien dadurch verändert, dass die wärmere Wassertemperatur Purpur-Seeigel anzieht. Diese Seeigel-Art grast nämlich den Tang ab, der das Meer reinigt.[8] Nicht nur unser Körper, auch die Körper anderer Arten erfahren unerwartete Veränderungen. Ein schlagendes Beispiel sind Frösche, die Atrazin ausgesetzt sind, einem Herbizid, mit dem Mais, Salat und andere Anbaupflanzen gespritzt werden. Wenn dieses Herbizid in Frosch-Habitate einsickert, macht es Kaulquappen zu Zwittern. Dr. Tyrone Hayes von der University of California in Berkeley hat nachgewiesen, dass Atrazin den Testosteronspiegel nominell männlicher Frösche unter den weiblicher Frösche senkt.

Menschliches Gender-Bending stellt die engen und einengenden Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit infrage. Nicht ohne Grund erfahren in jüngerer Zeit Hyperfeminität und Hypermaskulinität eine Renaissance – es ist eine Reaktion auf die in den 1970er-Jahren eingeleitete Aufweichung der Geschlechternormen, die nicht nur ein breiteres Bewusstsein der Tatsache mit sich brachte, dass es Personen gibt, die trans sind, sondern es auch Individuen vermehrt ermöglichte, ihre sekundären Geschlechtsmerkmale zu ändern. Doch diese kulturelle Entwicklung, die viele Menschen sehr begrüßen, lässt sich nicht auf Frösche übertragen, da bei ihnen kein freier Wille vorliegt. Das Paradoxe ist: Die Kultur verändert sich schnell, aber die Natur verändert sich noch schneller, weil Chemikalien, Bohrungen und die Umleitung von Wasserressourcen unseren Planeten schädigen. Und diese Veränderungen könnten irreversibel sein.

Dieses Buch geht der Frage nach, wie und warum unser Körper ein so williges Objekt der Transformation geworden ist – warum er für Transformationen zu haben ist, die zunächst reizvoll sind, sich dann aber als außerstande erweisen, die Leiden und Schrecken einzudämmen, denen wir Individuen ebenso ausgesetzt sind wie unsere Umwelt. Es untersucht, was in unserer Zeit mit dem Körper geschieht und warum. Es stellt einige Extrembeispiele vor, fordert aber gleichzeitig dazu auf, die ganz alltäglichen Dinge, die wir heute tun, kritisch zu überdenken. Es präsentiert eine Entwicklungstheorie aus der Perspektive des Körpers, zeigt auf, wie die Ursprungsfamilie verschiedene Arten von Körperunsicherheit fördern kann, wie sie das Gefühl erzeugen kann, dass der Körper, den wir haben, irgendwie nicht unser wahrer Körper ist. Das Buch erörtert die visuelle Kultur und die Mechanismen, über die sie uns beeinflusst, uns eine Form der Zugehörigkeit in Aussicht stellt, wenn wir nur selbst den Bildern entsprechen, die wir sehen. Und es untersucht, wie die visuelle Repräsentation eines bestimmten verwestlichten Körpertypus junge Menschen in jenen Ländern, die qua Globalisierung in die Moderne eintreten, dazu treibt, sich einen Körper zulegen zu wollen, der möglicherweise mit dem Körper, den sie haben, im Widerstreit liegt. Die Versuche junger Menschen in Japan oder Fidschi, Saudi-Arabien oder Kenia, ihren Körper umzumodeln, stehen symptomatisch für das Problem des Unwohlseins im eigenen Körper rund um die Welt. Körperhass ist mittlerweile ein heimlicher westlicher Exportschlager.

Ein Streben nach Selbstannahme, das sich auf den eigenen Körper fixiert, ist kennzeichnend für unsere Zeit. Durch die nähere Betrachtung von Menschen mit Körperproblemen hoffe ich, Antwort auf diese Frage geben zu können: Warum ist Zufriedenheit mit dem eigenen Körper so schwer zu erlangen? Ich befasse mich mit Phantomgliedmaßen und als überzählig empfundenen Gliedmaßen, und ich beleuchte Formen der Körpertransformation vom Ritzen bis zur Schönheitsoperation, in dem Bemühen herauszufinden, warum solche Praktiken immer verbreiteter werden. Warum ist Sex ein Must-have, beherrscht von Normerfüllung und getränkt mit Fantasien, die Freud schwindelig gemacht hätten? Wie lässt sich das Versprechen, dass der Körper durch Perfektionierung erlöst werden könnte, verstehen? Was ist an unserem Körper, so wie er ist, verkehrt und warum?

Indem ich diesen Fragen nachgehe, hoffe ich, dahin zu kommen, eine Theorie des Körpers unserer Zeit zu entwickeln. Körper sind in keiner Weise naturgegeben, das schlichte Produkt unserer DNA. Gefangen zwischen einer Epoche, in der im Westen für viele Menschen der Körper nicht mehr dazu dient, Güter zu produzieren, und einer Ära, die uns Körperersatzteile aller Art verheißt – von KI und der mit ihr einhergehenden Entkörperlichung ganz zu schweigen –, sind wir verständlicherweise verwirrt. Was genau ist dieser Körper, in dem wir zu leben versuchen? Welchen Teil von uns stellt er dar? Welches Verhältnis haben wir zu ihm? Wie lange werden wir ihn haben? Dieses Buch möchte ein erweitertes Körperverständnis schaffen, unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber neuartigen Angriffen stärken und unserem Körper eine nachhaltige Stabilität geben, damit wir friedlicher mit ihm und durch ihn leben können.

Gegen Körperunterdrückung, Fat-Shaming und Körperhass zu kämpfen, mag trivial klingen, ist es aber nicht. Hinter diesen Phänomenen stecken einerseits scheinbar »weiche«, in Wahrheit aber äußerst eindringliche und hartnäckige Marketingpraktiken und anderseits brutale Produktionsprozesse, die Raubbau an der Umwelt betreiben und Arbeitskräfte in aller Welt ausbeuten, von den Nagelstudio-Arbeiterinnen in New York bis zu den Näherinnen in Bangladesch, Vietnam oder auch Sizilien.[9] Zusammengenommen ergibt das einen massiven Angriff auf die Körper von Frauen und Mädchen. Wenn wir dann noch die bekannteren Formen von Gewalt hinzunehmen, Vergewaltigung als Kriegswaffe, sexuelle Gewalt, sexuelle Belästigung, Genitalverstümmelung usw., wird klar, wie verletzlich Frauen gerade dort sind, wo sie am sichersten sein sollten: im eigenen Körper.

Die Protestwelle gegen Übergriffe und Gewalt ist wichtig, genau wie die Millionen Gespräche darüber und die Tausende von Blogs und Websites, die den Status quo herausfordern und sich für das Existenzrecht des Körpers in all seiner wunderbaren Vielfalt und mit all seinen Stärken und Verletzlichkeiten einsetzen.

Durch den Friedensnobelpreis 2018 für Denis Mukwege und Nadia Murad wurde die Bedeutung des Kampfs gegen sexuelle Gewalt anerkannt, und doch machen Wirtschaft und Warlords ungestraft weiter, bereiten ein Feld, auf dem Frauenkörper als eine Art erntereife Frucht zur beliebigen Verwendung gelten. #MeToo ist eine wichtige Form der Gegenwehr. Die Bewegung entspringt aus derselben Quelle wie die Argumentation dieses Buchs, dass und wie wir unser Verhältnis zu unserem Körper verändern müssen. Die Züchtung von Körperunsicherheit macht uns anfällig für Ausbeutung in vielerlei Form. Indem wir dieses Thema ernsthaft angehen, werden wir einen neuen Diskurs entwickeln, nicht nur, um unserer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, sondern auch, um individuelles Leid in Handeln zu überführen, das dieser Grausamkeit ein Ende bereitet.

London 2019

Bodies. Im Kampf mit dem Körper

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