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1 |Der Körper in unserer Zeit

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Können Sie sich vorstellen, Ihre beiden gesunden Beine loswerden zu wollen, weil sie Sie furchtbar stören – so sehr, dass Sie sich deformiert fühlen, gefangen in einem Körper, der sich falsch anfühlt, nicht so, wie Ihr Körper sein sollte? Und können Sie sich vorstellen, fünfzig Jahre – in denen Sie sechs Kinder in die Welt setzen – mit dem Gedanken zu leben, dass nur eine beidseitige Amputation oberhalb des Knies Ihnen das Gefühl geben kann, ganz und vollkommen zu sein?

Das war das Dilemma von Andrew,[10] der von der Vorstellung beherrscht war, sich zuerst von einem seiner Beine und dann vom anderen befreien zu müssen. Als er niemanden fand, der ihm dabei half, seine lästigen Beine loszuwerden, suchte er im Internet und fand eine Community von Menschen, die amputiert werden möchten.

Einen Mann, der seine Beine loswerden will, würden wohl die meisten Leute für verrückt halten. Dieser Wunsch scheint so bizarr und so außerhalb aller Normalität, dass es schwer ist, sich über diese spontane Bauchreaktion hinwegzusetzen. Doch genau das gelang dem Psychologen Dr. Bert Berger, als ihn Andrew im Milwaukee VA Medical Center konsultierte. Wie jeder vernünftige Arzt versuchte sich Dr. Berger in das Leiden seines Patienten hineinzuversetzen. Sein ärztlich-psychologisches Ethos hielt ihn davon ab, Andrew die Operation anzubieten, von der dieser glaubte, sie würde ihn heil und ganz machen. Also versuchte er die psychische Situation zu verstehen, die diesen paradoxen Wunsch hervorgebracht hatte.

In seinen frühen Schriften über Hysterie vertrat Freud die Ansicht, dass man sonderbare körperliche Symptome, wie etwa eine psychische Armlähmung oder das In-fremder-Sprache-Reden, nicht nur verstehen, sondern auch behandeln könne. Wo in der Volksmedizin Heiler*innen und Schaman*innen auf ihre Art das Unbewusste zu beeinflussen versucht hatten, schlug er eine Redekur vor, bei der durch eine spezielle Form des Zuhörens und Assoziierens Ärzt*in und Patient*in den unbewussten Ursachen für die nicht physiologisch begründeten Symptome auf die Spur kommen würden. Durch Reden würden sie die darin eingekapselten Konflikte aufdecken, und die Symptome würden verschwinden. Freuds Fallgeschichten aus dem Jahr 1895 waren revolutionär und überzeugend. Sie bewogen so viele Menschen, die neue Wissenschaft der Psychoanalyse zu studieren, dass es zu der Zeit, als Dr. Berger mit Andrew zusammentraf, für Psychotherapeut*innen jedweder Couleur längst selbstverständlich war, psychologische Methoden für die wirksamste und ethischste Herangehensweise an nichtorganische Körperprobleme zu halten. Wenn Andrew nur tiefgehend verstünde, woraus sich sein Wunsch speiste, so die Theorie, würde er auf eine Operation verzichten können. Oder genauer gesagt: Wenn er sein emotionales Leiden und das psychische Bild, das er von sich nach der Operation hatte, beschreiben könnte, würde ihm das wahrscheinlich neue Wege eröffnen, seinen Körper so, wie er faktisch war, zu akzeptieren.

Diese Art zu denken ist seit 120 Jahren etabliert. Sie hat Menschen mit Körperstörungen geholfen, anders und besser mit und in ihren Körpern leben zu können. Doch wenn es um den Wunsch nach Amputation oder Geschlechtsangleichung geht, reicht reden nicht immer aus. Bei Andrew genügte es jedenfalls nicht. Er wollte nicht nur reden, er wollte die Operation. Und er fand sich durch die Arbeit des Schotten Dr. Robert Smith ermutigt, der in zwei ähnlichen Fällen die Operation befürwortet hatte, nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass dies die humanste aller möglichen Behandlungsweisen sei.

Obwohl ich selbst jahrzehntelang mit Menschen mit Körperproblemen gearbeitet hatte, stellte mich Andrews Amputationswunsch vor Rätsel. Und er beunruhigte und schockierte mich auch und zwang mich, mein ganzes Einfühlungsvermögen zu mobilisieren, um irgendwie zu verstehen, welche Umstände einen solchen Wunsch so dringend und zwingend machen können.

Heute wissen wir eine ganze Menge über das umgekehrte Phänomen: Empfindungen und Beschwerden in einem Phantomglied – einem Körperteil, der gar nicht mehr da ist.[11] Es ist bekannt, dass Witwen oft noch lange, nachdem sie ihren Mann verloren haben, weiter zwei Kaffeetassen auf den Frühstückstisch stellen. Wie es dazu kommt, können wir verstehen. Unverständlicher ist uns auf den ersten Blick das irritierende Erleben eines Menschen, der versucht, mit einem Arm, den er gar nicht mehr hat, dem Kellner zu winken oder das Telefon abzunehmen. Von geisterhaften Sinnesempfindungen in einem nicht vorhandenen Körperteil geplagt, was ebenso demütigend wie verstörend sein kann, wird dieser Mensch vielleicht befürchten, verrückt zu werden.[12]

Die Witwe, das verstehen wir, macht einen Entwöhnungsprozess durch, löst sich nur langsam von einem langen Leben mit einem Ehemann und von der damit verbundenen Identität. Sie hat ihre neue Realität nicht immer parat. Verdrängung befördert das vorübergehende Einlullen in Vergesslichkeit. Der Mensch mit dem Phantomglied weiß, dass ihm das Körperglied fehlt, aber sein Körper scheint unabhängig zu agieren – so als wäre das Körperglied noch da. Das Bewusstsein dieses Menschen ist in gewisser Weise gespalten: in das kognitive Wissen um eine körperliche Realität und die fortdauernde sinnliche Wahrnehmung des nicht vorhandenen Körperglieds. In der Tat ein verrückt anmutender Zustand, insbesondere ehe die Erkenntnisse des Neurologen Dr. Vilayanur Ramachandran – auch der Sherlock Holmes des Phantomschmerzes genannt – einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden.

Ramachandran zeigte, dass die von ihm untersuchten Patient*innen keineswegs verrückt waren. Ihre Gehirne hatten sich auf eine kuriose Weise an das Fehlen des betreffenden Körperglieds angepasst: Die Neuralbahnen des jetzt nicht mehr vorhandenen Arms, Beins oder Fingers hatten stattdessen andere Körperregionen übernommen. Durch Stimulieren beispielsweise eines bestimmten Wangenbereichs seiner Patient*innen konnte Ramachandran die Empfindungen einer Phantomhand intensivieren. Empfindungspunkte auf der Wange waren jetzt mit Gehirnregionen verschaltet, die eigentlich für die Hand zuständig gewesen waren.

Ramachandrans Erkenntnisse brachten vielen Menschen Erleichterung. Seine bemerkenswerten Fallstudien erhellen die Fähigkeit des menschlichen Körpers, etwas, das gar nicht da ist, auf verblüffendste Art und Weise zu spüren. So schildert Ramachandran etwa den Fall eines Ingenieurs aus Arkansas, der nach einer Unterschenkelamputation ein enorm erweitertes sexuelles Empfinden verzeichnete, da sich sein Orgasmus vom Penis in den Bereich seines Phantombeins ausdehnte.[13] Ramachandrans Pionierarbeit hat uns dargelegt, wie phänomenal adaptionsfähig wir sind. Er zeigte, dass Phantomempfindungen keineswegs Einbildung oder Verrücktheit sind, sondern eine materielle Grundlage in der neuronalen Verschaltung des Gehirns haben.[14]

Andrews Wunsch, sich seiner beiden »überschüssigen« Beine zu entledigen, ist mysteriöser. Ramachandrans Arbeiten beschreiben, wie unser Gehirn unser Körperschema kartiert, und erklären, dass das Gehirn, wenn ein Areal wegen des Fehlens eines Körperglieds unterstimuliert ist, die Neuralbahnen auf eine Art und Weise umkartiert, die Sinnesempfindungen in dem fehlenden Körperglied erzeugen kann. Beruhte Andrews Problem auf dem umgekehrten Phänomen: der Unfähigkeit, seine Beine zu spüren? Blieben die elektrischen Impulse seines Gehirns aus, wenn seine Beine stimuliert wurden? Nein. Das wäre vielleicht einfacher gewesen. Andrews Problem war es, seine Beine übermäßig zu fühlen. Seine Lösung war die Amputation. Aber wenn das die Lösung war, woher rührte dann das Problem? Wie war es dazu gekommen, dass Beine, die doch so integraler Bestandteil des Menschen sind, als etwas Überschüssiges empfunden wurden?

Kinder, die sich nicht geliebt fühlen, glauben oft, dass an ihnen etwas falsch ist, so falsch, dass es sie inakzeptabel macht. Das Gefühl, nicht richtig zu sein, ist schmerzhaft und verwirrend, aber das Kind gibt den Wunsch, geliebt und akzeptiert zu werden, nicht auf. Es verzweifelt daran. Es sehnt sich nach der Erfüllung dieses Wunsches und fürchtet sie vielleicht auch. Doch das Streben danach, geliebt und akzeptiert zu werden, führt gleichzeitig zu dem Bemühen, sich selbst zu verändern, jemand zu werden, den das Kind selbst akzeptieren kann.

Weder als Kind noch als Erwachsener hatte Andrew das Gefühl, dass sein Körper akzeptabel war. Seine Beine waren für ihn so anstößig, dass er trotz seiner vielen Versuche, Hilfe zu finden – unter anderem bei Dr. Berger –, nicht mehr fähig war, sich selbst anzunehmen. Schließlich zwängte er beide Beine in einen Stützstrumpf und packte sie dann in Trockeneis, bis sie abstarben, sodass ein Chirurg die bereits atrophierenden Gliedmaßen amputieren musste.

Wir zucken bei dieser Vorstellung zusammen – wegen der Schmerzen der Amputation und wegen der inneren Qual, die einen Mann in den Fünfzigern zu der Überzeugung brachte, sich niemals selbst akzeptieren zu können, solange ihm nicht beide Beine abgetrennt würden. Ein derart extremes Verhalten scheint uns unverständlich. Wie und warum kommt ein körperlich gesunder Mann, der beim Militär war und dort eine harte körperliche Ausbildung durchlaufen hat, an den Punkt, sich nicht nur seiner Beine entledigen zu wollen, sondern es auch tatsächlich zu tun? Und wir fragen uns auch, wie die Geschichte ausgeht, ob die Amputation das Problem wirklich löst. Wird Andrew den Frieden mit sich selbst finden, den er sich vorgestellt hat? Wird er als Amputierter ein befriedigendes Leben führen können?

In den letzten vierzig Jahren haben wir uns daran gewöhnt, solche Fragen in Bezug auf Menschen zu stellen, die sich »im falschen Körper gefangen fühlen«, was ihr Geschlecht anbelangt, und zunehmend darüber sprechen, wie zwingend ihr Bedürfnis nach körperlicher Geschlechtsangleichung ist.[15] Mein erstes Praktikum als angehende Psychotherapeutin machte ich in einer Ambulanzklinik für verurteilte Straftäter, die als zu schwach galten, um die Brutalität eines New Yorker Gefängnisses zu überleben. Diese als Männer gelesenen Häftlinge, die sich als Frauen identifizierten und erwogen, sich ihres als überschüssig empfundenen Penis zu entledigen, stellten, so befand man, für Mitgefangene eine zu große Provokation dar. Also ließ man sie auf Bewährung frei und schickte sie in eine Therapie.

Als meine erste Patientin, Michaela, ihren Penis in eine Vulva umwandeln lassen wollte, war meine erste Reaktion, wenn auch weniger roh als die potenzieller Zellengenoss*innen, doch ziemlich abwehrend. Als junge Feministin, die verstehen wollte, durch welche gesellschaftlichen und psychischen Prozesse wir zu Männern und Frauen gemacht werden, fand ich diesen Wunsch interessant, aber mir war auch unwohl dabei. Der Feminismus vertrat, dass wir uns durch unser biologisches Geschlecht weder definieren noch einschränken zu lassen brauchten, und doch kam ich allmählich dahin zu verstehen, wie gravierend sich Michaela durch das ihre fehldefiniert und eingeschränkt fühlte. Und sie war nicht die Einzige. Andere Patient*innen, Ruby, Maria und George, erschienen zu ihren Terminen mit Kleidern und Schuhen, Handtaschen, Schmuck und Make-up, die eine einzige Zelebration von Weiblichkeit waren und mich schließlich zu der Überzeugung brachten, dass das, was diese Menschen von ihrem Gefühl her waren, nicht zu dem passte, was sie physisch waren.

In dem Maße, wie mein Mitgefühl mit ihrem quälenden Dilemma wuchs, verlor sich mein Unbehagen. Biologie und Psyche waren bei ihnen nicht erwartungsgemäß verschmolzen. Michaelas zwingendes Bedürfnis war die körperliche Angleichung. Sie konnte mit sich als Besitzerin eines Penis so wenig leben wie Andrew mit sich als Besitzer von Beinen. Ihr Penis war eine Unmöglichkeit, und obwohl weder sie noch ich damals, vor mehr als vierzig Jahren, die Worte fanden, die ihr hätten helfen können, erkannte ich sie später in einem 2006 erschienenen Interview mit der Schauspielerin Aleshia Brevard, die die männlichen Genitalien, mit denen sie geboren worden war, als einen »behindernden und oft lebensbedrohlichen Geburtsfehler« bezeichnete.

Dank ihrer Eloquenz vermag sie diese für viele sicher schockierende Aussage in eine so sachliche Form zu kleiden, dass wir das, was sie sagt, ohne Vorurteil oder emotionale Abwehr zur Kenntnis nehmen können. Wir halten erst einmal inne und hören zu. Das Wort »Geburtsfehler« macht uns »den inneren Tumult, … die Verwirrung«[16] vorstellbar, die ihr Leben prägten und es ihr verunmöglichten, ihr psychisches Selbstgefühl mit dem physischen übereinzubringen.

Für Aleshia Brevard war es, genau wie für Michaela, eine zwingende Notwendigkeit, ihren Körper zu anzugleichen. Für sie bestand nicht die Adaptationsmöglichkeit des Cross-Dressings, wie es etwa thailändische Ladyboys praktizieren, jene jungen Männer, die als Lustobjekte für Männer aus der westlichen Welt dienen, deren Homosexualität so mit Scham besetzt ist, dass sie sie Männerkörper suchen lässt, die als Frauenkörper verkleidet sind. Aleshia Brevard unterzog sich einer Geschlechtsangleichung und war Schauspielerin und Theaterregisseurin, ehe sie schließlich Schriftstellerin wurde. Die Operation wurde in den späten 1950er-Jahren vorgenommen, als Brevard in den Zwanzigern war, und bedeutete für sie eine ungeheure Erleichterung.

Auch Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, fordern heute die binäre Geschlechterordnung Mädchen/Junge, Frau/Mann, männlich/weiblich heraus. Weiblichkeit und Männlichkeit kulturell infrage zu stellen steht auf der Agenda, und das bringt für unumstößlich gehaltene Gewissheiten ins Wanken. Es ist schwierig, die Vermischung von biologischen, psychologischen und kulturellen Aspekten der Diskussion zu entwirren. Manchen geht es um Kritik an der binären Norm und darum, die rigiden Vorstellungen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit und Geschlechterrollen zurückzuweisen, die nach der massiven Frauen- und Schwulenbewegung und der beginnenden Trans-Bewegung der 1970er-Jahre in den letzten beiden Jahrzehnten in einer Weise reetabliert wurden, die schon an Barbie-und-Ken-Parodien grenzt. Andere, wie Aleshia Brevard, empfinden das Leben in einem feminisierten bzw. maskulinisierten Körper als ihre einzige Möglichkeit. Für uns alle, ganz unabhängig von unserer Geschlechts- und Geschlechtsrollenidentifikation und unseren sexuellen Praktiken, ist der Körper, sowohl materiell als auch imaginiert, ein Ort der Selbstdefinition, eine physische Gegebenheit von größter Bedeutung. Wir mögen behaupten, die ganze Sache mit dem Körper locker zu nehmen, aber diese Haltung ist nicht besonders realistisch. Wir sind vom ersten wachen Moment des Tages an mit unserem Körper befasst: beim Waschen, Urinieren, Essen etc. Wir können ihn nicht ignorieren.

Geschlechtsangleichungen rufen Kritik und Beunruhigung hervor. Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, warum sich jemand einer Brustentfernung oder einer Behandlung mit Pubertätsblockern unterzieht. Das erscheint befremdlich und irgendwie bedrohlich, sowohl den Angehörigen einer Generation, die darauf aus war, die Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit zu erweitern, restriktive Gendernormen aufzubrechen und perspektivisch die Auflösung der Geschlechterrollen zu erreichen, als auch jenen, die finden, dass »Jungs Jungs und Mädchen Mädchen bleiben sollen«. Wie so vieles sind trans Menschen ein weit geringeres Problem für jüngere Leute, die mit zunehmender Diversität aufgewachsen sind und deren Sexualpartnerwahl fluktuiert. Sie verstehen vielleicht nicht den Zusammenhang zwischen der generellen Körperunzufriedenheit so vieler Menschen und dem drastischeren Wunsch, sich wie das andere Geschlecht zu kleiden oder sich einer chirurgischen Angleichung zu unterziehen. Aber sie wissen, was cisgender Menschen alles tun, um ihre Körperunzufriedenheit zu bezähmen, und dass dazu ebenfalls chirurgische Eingriffe gehören können. Da mein Fokus auf den Problemen des Embodiment liegt, nähere ich mich der Trans-Thematik indirekt: unter dem Aspekt, was sie zur Erhellung der speziellen Mischung von Ephemerem und Materiellem beiträgt, die das Embodiment eines Individuums und einer Kultur ausmacht.

Es fällt uns schwer, Andrews Beine, mit denen er fünfzig Jahre wider Willen leben musste, als eine ähnliche Art von Geburtsfehler zu betrachten. Unsere Vorstellungskraft ist zu beschränkt. Die meisten von uns fürchten körperliche Behinderung. Wir assoziieren eingeschränkte Bewegungsfähigkeit mit dem Alter, nicht mit dem Beginn eines neuen Lebens. Und doch können wir – betrachten wir einmal Andrews Verhältnis zu seinen Beinen und den Wunsch von Transsexuellen nach Geschlechtsangleichung als psychologisch vergleichbar – an seinen Fall ähnlich herangehen. Woher, fragen wir, kommt dieser Wunsch? Wie sieht der familiäre Hintergrund aus? Wie kam es dazu, dass seine Beine eine ähnliche Bedeutung annahmen wie ein unerwünschter Penis?

Um uns einer Vorstellung anzunähern, die bei vielen von uns zunächst so wenig emotionalen Widerhall findet, können wir Fragen formulieren, die uns die Konstruktion eines Bildes erleichtern – eines Bildes, das in diesem Fall vielleicht das Woher und Wozu von Andrews Wünschen und Handlungen zu erhellen vermag.

Hatten sich Andrews Eltern, als er klein war, über seine ersten Gehversuche lustig gemacht? Wurde er immer getragen, sodass seine Beine für ihn ein Anhängsel darstellten, das er von seinem Gefühl her nicht brauchte? Wollte er unbedingt getragen werden, musste aber selbst laufen? Repräsentierten seine Beine für ihn eine Form von Selbstständigkeit, für die er sich nie bereit fühlte? War jemand in seiner Umgebung – Eltern, Verwandte, Lehrer – körperbehindert? Fühlte er sich innerlich »von den Beinen geholt«? Während ich mir diese Fragen stellte, versuchte ich, mich in seine Situation zu versetzen und meine eigenen Beine wegzudenken. Sofort fühlte ich mich extrem exponiert. Meine Sexualität fühlte sich zu bloß liegend an, mein Gesäß zu markant. Das Überraschende war, dass, zumindest in meiner kurzzeitigen Fantasie, weder Schwäche noch Hilflosigkeit das dominante Gefühl war. Aber diese Art der Exploration am eigenen Leib brachte mich nicht sehr weit: Die Situation war mir zu fremd, um in mir ein Echo zu finden. Also wandte ich mich wieder der Frage zu, was an seinem vollständigen Körper für Andrew zu einem solchen Affront geworden sein konnte. Ich ging ihr nach, indem ich reflektierte, was in den USA der 1950er-Jahre mit Körpern passierte und ob darunter etwas war, was eine Amputation erstrebenswert erscheinen lassen könnte.

Andrew wuchs in einem spannungsgeladenen Elternhaus auf. Er beschreibt seine Mutter, die Lehrerin war, als hart und streng, seinen Vater als gleichgültig und vernachlässigend. Als einsames, unglückliches Kind pflegte er aus dem Fenster zu starren und zu hoffen, dass irgendetwas passieren würde. Aber in den weißen vorstädtischen USA jener Zeit passierte nicht viel, was sein Interesse hätte auf sich ziehen können. In allen Häusern ging es, zumindest nach außen hin, mehr oder minder gleich zu.[17] Eine gefürchtete Ausnahme war die Kinderlähmung: Die Infektionsangst war allgegenwärtig. Immunisierung durch Impfung war das große Ziel der Gesundheitspolitik. Eine enge Freundin seiner Mutter, die nett zu ihm war, hinkte. Ein Kind in der Schule bewegte sich geschickt an Krücken fort. Eine fröhliche Bilderserie in Life – damals eine wichtige Wochenzeitschrift mit enormer Reichweite – zeigte Kinder mit Kinderlähmung beim Ballspielen. Diese Fotos fesselten ihn. Sie waren ein lebhafter Kontrast zur öden Gleichförmigkeit seiner Tage.

Im Kopf entwickelte Andrew eine Lösung für sein Problem, sich emotional auf dem Trockenen zu fühlen: Er würde aus seinem Körper einen Körper machen, der Mitgefühl weckte – bei anderen und bei ihm selbst. Er begann, sich nach einem Körper zu sehnen, der die seelischen Wunden des Kindes, das sich nicht liebenswert und akzeptabel fühlte, nach außen zeigte. Einem Körper, der seine emotionale Verletzung und Beschädigung widerspiegelte. Einem Körper, der vielleicht etwas Teilnahme auslösen würde. Als er in die Pubertät kam, experimentierte er heimlich damit, beide Beine in ein Hosenbein zu stecken und sich an Krücken fortzubewegen – ein Vorgefühl des Körpers, auf den er fast vierzig Jahre würde warten müssen.

Andrews Situation stellt eine Herausforderung dar. Wir haben wenig gelernt, wenn wir sie nur als Obsession einstufen, als hysterische Fehlinterpretation des faktisch Gegebenen, als bizarres Symptom. Wenn wir das tun, packen wir sie in eine Schublade, sperren unsere eigene Beunruhigung säuberlich weg, aber verstanden haben wir nichts. Auch wenn sich diese Situation zunächst unserem Verständnis entziehen mag – indem wir uns Zeit nehmen und neben dem Intellekt auch unsere eigenen aufgewühlten Gefühle, statt sie als Hindernis zu begreifen, als Werkzeug der Exploration benutzen, gelangen wir zu einer Reihe von Fragen, die den Körper in unserer Zeit generell betreffen und deren Relevanz weit über Andrews konkretes Dilemma hinausgeht.

Dr. Bert Berger berichtet, dass Andrew nach der selbst erzwungenen Amputation ein Leben fand, das für ihn stimmig war. Er erlangte eine Zufriedenheit mit seinem Körper, die vorher für ihn unerreichbar war. Vielleicht ist es in diesem Sinn gemeint, wenn Dr. Berger sagt, Andrew sei nicht psychisch krank. Er hat ja in der Amputation seiner Beine tatsächlich eine Lösung gefunden. Sie hat ihm das Gefühl gegeben, einen Körper zu haben, der für ihn richtig ist. Bei Aleshia Brevard spüren wir deutlich, dass ihr die physische Beseitigung ihres Problems eine ruhige Zufriedenheit mit sich selbst beschert hat. Da ihr »Geburtsfehler« schon früh korrigiert wurde, lebte sie viele Jahre als Frau, mit den üblichen Unzufriedenheiten, die das Frausein in unserer Zeit mit sich bringt.

Natürlich laufen Körper manchmal aus dem Ruder. Nicht auf der medizinisch-organischen Ebene – Körper weigern sich aus irgendeinem Grund, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten sollten. Sie funktionieren nicht mehr erwartungsgemäß. Ein Arm oder ein Bein ist plötzlich gelähmt, oder eine Frau bildet einen schwanger wirkenden Bauch aus, obwohl keine Befruchtung stattgefunden hat. Ein Mann entwickelt vielleicht eine zwanghafte sexuelle Fixierung auf Stöckelschuhe und kann nicht ejakulieren, ohne einen solchen Schuh zu sehen oder zu liebkosen. Solche Phänomene fielen Sigmund Freud im ausgehenden 19. Jahrhundert auf, und ihn faszinierte das Verhältnis zwischen Psyche und Körper, oder genauer gesagt, die psychischen Entstehungswege des körperlichen Symptoms. In Gesprächen mit seinen Patient*innen spürte er den Ursprüngen körperlicher Symptome nach, die nicht konstitutionell oder erblich bedingt waren. Er zog Verbindungen zwischen dem, was die Einzelnen erlebt hatten, ihrer Erinnerung und Konstruktion des Geschehenen und ihrer Einordnung dieses Erlebens im Licht ihrer unbewussten Wünsche und Konflikte. Freud wies überzeugend nach, dass die Psyche großen Einfluss auf den Körper üben konnte. Sein Werk hat, auch wenn es anfangs nur zögerlich aufgenommen wurde, unsere Sicht des Verhältnisses und der Interaktion zwischen Psyche und Körper revolutioniert.

Freuds Erkenntnisse leiten uns zu Recht seit über einem Jahrhundert. Sie sind nicht nur die Grundlage des psychoanalytischen Instrumentariums, sondern haben auch den gesamten medizinischen Bereich durchdrungen, sodass es heute Allgemeingut ist, die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem, das endokrine System und das Verdauungssystem oder auch auf das größte unserer Organe, die Haut, zu berücksichtigen. Wir zögern nicht, Ekzeme mit psychischem Stress in Verbindung zu bringen. Wir ignorieren zwar nicht die chemischen Reizstoffe, die Jucken und Rötung auslösen, belassen es aber kaum je dabei; wir gehen dem Verhältnis zwischen Emotionen, persönlicher Geschichte und den verschiedenen Körpersystemen nach.

Vor allem aber hat uns Freud gezeigt, dass die Annahme einer »natürlichen« menschlichen Sexualität eine irrige Vorstellung ist. Sexuelles Begehren ist durchtränkt von Konflikten, Wünschen und Fantasien. Es gibt gewaltsame Sexpraktiken wie Pädophilie oder Sex mit Tieren, aber auch auf Konsens basierende und dennoch in der Mehrheitsgesellschaft als deviant angesehene Praktiken wie Fetischismus, Klappensex und BDSM, um nur ein paar zu nennen. Im 21. Jahrhundert ist der Körper selbst ein ebenso kompliziertes Feld geworden, wie es zu Freuds Zeiten die Sexualität war. Auch er ist geformt und deformiert durch die früheste Interaktion mit unseren Bezugspersonen, Träger*innen der Normen und Imperative unserer Kultur, wie der Körper auszusehen und wie man mit ihm umzugehen hat. Deren Wahrnehmung eigener körperlicher Mängel und Stärken, ihr Körperideal und ihre Körperängste wirken sich auf das Kind aus. In meinem Sprechzimmer wird dieser Niederschlag im kindlichen Körpergefühl und in der Körperinstabilität des Erwachsenen deutlich. Neu und beunruhigend ist aus meiner Sicht die Häufigkeit, mit der elterliches Körperunbehagen im Körpererleben meiner erwachsenen Patient*innen zum Tragen kommt. Was sich da offenbart, ist die Weitergabe unsicherer Körperlichkeit von einer Generation an die nächste.

In meiner Anfangszeit als Psychotherapeutin hörte ich das ferne Grollen von Körperunsicherheit aus den Ess- und Körperbildstörungen der Menschen in meinem Sprechzimmer heraus. Ich schrieb darüber, wie in Vorstellungen von Dick- und Dünnsein komplexe gesellschaftliche und individuelle Ideen und Gefühle steckten, die sich nicht direkt zu äußern vermochten. Seit meinem Antidiätbuch und meinem Buch Hungerstreik (in England 1976 und 1986 erschienen) haben sich die Probleme, die ich damals zu beschreiben versuchte, massiv ausgebreitet: Essstörungen und Körperunbehagen sind heute für viele Menschen und viele Familien Teil des Alltagslebens. Da immer mehr Länder Anschluss an die globale Kultur erlangen, gelten die symbolischen Bedeutungen, die Dick- und Dünnsein beigemessen werden, inzwischen in den Köpfen vieler Menschen, deren Hauptsorge es noch vor kurzer Zeit war, genug zu essen zu bekommen. Heute zeigen »richtige« Ernährung und die »richtige« Figur die Zugehörigkeit zur modernen Welt an; »nicht richtige« Ernährung und eine »nicht richtige« Figur hingegen stehen für ein beschämendes Versagen oder für die Ablehnung der Werte, an denen wir uns zu orientieren haben. In diesem Kontext erweist sich Freuds Verständnis der symbolischen Bedeutungen im Leben des Individuums zwar nach wie vor als gültig, aber auch als begrenzt. Dass die Einzelnen wie auch das Kollektiv zunehmend Veränderungen des eigenen Körpers erstreben, deutet darauf hin, dass wir die Entwicklungstheorie – unser Verständnis des Übergangs von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenleben – mit den Auswirkungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Praktiken zusammenbringen müssen.

Die letzten vierzig Jahre haben unser Verständnis dessen, was psychische Konflikte mit dem Körper anstellen können, erweitert. Sie haben deutlich gemacht, dass wir es mittlerweile mit einer Krise des Körpers selbst zu tun haben. Das hat mich dazu gebracht, das gesamte Konzept des Körpers als eines Organismus, der sich von der Geburt an nach seinen genetischen Vorgaben entfaltet und nur in bestimmten Schlüsselstadien dieser Entwicklung von der Psyche (und der Ernährung) beeinflusst wird, infrage zu stellen. Wenn der Körper nicht mehr etwas im Grunde Stabiles ist, müssen wir neu über das primäre Terrain unserer menschlichen Körperlichkeit nachdenken. Wir brauchen eine körperliche Entwicklungstheorie, parallel zu existierenden Theorien der psychischen Entwicklung. Wir wissen, dass die Entwicklung des Kindes eine Beziehung zu einem oder mehreren »anderen« erfordert, und meine These lautet: So wie innerhalb dieser Beziehung das Seinsverständnis, das Wesen dieser Psyche-zu-Psyche-Beziehung enkodiert wird, so beruht auch die Entwicklung des körperlichen Selbstgefühls auf der Körper-zu-Körper-Beziehung des Kindes zu seinen Bezugspersonen. In dem Maß, wie wir von Psycho- und Körpertherapeut*innen, Neuropsychoanalytiker*innen und Neuropsycholog*innen lernen, werden wir zu einer psychosomatischen Theorie der menschlichen Entwicklung finden. Oder, wie der Neurowissenschaftler Daniel Glaser über die Jahre mir gegenüber in hilfreichen Privatgesprächen vorschlug, zu einer umfassenderen Theorie des Geistes, die den Körper einbezieht, was gegenwärtig nicht auf sinnvolle Weise geschieht. Außerhalb der Psychoanalyse wird derzeit das Gros der Theoriebildung von der Beschäftigung mit dem Gehirn und seiner Verschaltung dominiert. Die herausragendsten Vertreter*innen dieser Schulen begreifen das Bewusstsein als emergente Eigenschaft des Gehirns.[18]

Das Gehirn spielt die entscheidende Rolle bei der neuronalen Kartierung des Körperschemas, und Ramachandrans Arbeiten beispielsweise haben gezeigt, dass das Phänomen der Phantomgliedmaßen auf einer Umkartierung beruht. In Kapitel 2 werden wir uns außerdem mit der Bedeutung des prämotorischen Kortex und des Spiegelneuronensystems befassen und der Wichtigkeit von Berührung für die Ausschüttung von chemischen Substanzen im Gehirn nachgehen. Ich hätte großes Interesse daran, anhand von Bildgebungsstudien zu erfahren, wie Körper-zu-Körper-Beziehungen, von förderlichen bis hin zu schädlichen, unsere neuronalen Verschaltungen beeinflussen. Ein weiteres interessantes Forschungsprojekt wäre die Untersuchung der Mechanismen, über die sich unsere bildergesättigte Kultur auf den visuellen Kortex auswirkt.

Dies sind meine klinischen Ausgangspunkte und meine theoretischen Vorschläge. Auf der moralischen Ebene schmerzt und beunruhigt mich die homogene visuelle Kultur, mit der uns Industrien überziehen, deren Profite auf dem Schüren von Körperunsicherheit beruhen und deren Schönheitsterror so viele Menschen schädigt. Millionen kämpfen täglich mit negativen Gefühlen und Scham wegen ihrer körperlichen Erscheinung. Das ist für viele Menschen ein großes Problem und kann sich in vielerlei Form manifestieren.[19] Dass es ein privater Kampf ist, der sich als Eitelkeit äußern oder fälschlich dafür gehalten werden mag, macht es in keiner Weise trivial. Nur weil es heute so normal ist, sich mit dem eigenen Körper oder Teilen desselben unwohl zu fühlen, spielen wir herunter, wie schwerwiegend solche Körperprobleme sind: Sie sind eine versteckte Gesundheitskatastrophe, die sich nur ansatzweise in den Statistiken über selbstverletzendes Verhalten, Übergewicht und Anorexie zeigt – den sichtbarsten Symptomen einer viel umfassenderen Körperunsicherheit.

Obwohl Menschen wie Andrew Extremfälle des Leidens am eigenen Körper darstellen, sind sie doch in gewisser Weise emblematisch für den heutigen Fokus auf das, was an unserem Körper nicht »stimmt«, und das Gefühl, diesen Körper als ein persönliches Arbeitsprojekt begreifen zu können und zu müssen. Die Unzufriedenheit mit dem Körper zu überwinden, ist heute ein weitverbreitetes Thema. Es ist Gegenstand quälender innerer Auseinandersetzung, individueller Verantwortung und politischer Bestrebungen, insbesondere, wenn es um den »maßlosen« Körper geht. Wenn das britische Gesundheitsministerium und das Ministerium für Jugend, Bildung und Familie, ohne sich lächerlich zu machen, die »Geißel« Adipositas (Fettleibigkeit) mit den Gefahren des Klimawandels auf eine Ebene stellen können, zeigt dies die gegenwärtige Verwirrung und Panik in Bezug auf den Körper, die Ignoranz und Leichtgläubigkeit – in diesem Fall dem Mythos »Adipositas« gegenüber – hervortreibt. Diese Grundeinstellung zum Körper ist kennzeichnend für unsere Zeit. Der Körper gilt als etwas, das außer Kontrolle ist und der Disziplinierung bedarf. Essen ist eine Ebene davon, Sexualität, Alkohol und Drogen sind weitere. Die Kehrseite dieser Einstellung ist der Glaube, dass so gut wie alles am Körper vom Individuum verändert werden kann. Biologische Gegebenheiten waren einmal – Pigmentierung, Nasenform, Lippenform und Alterungszeichen gelten allesamt als korrigierbar. Motor des Strebens nach körperlicher Umgestaltung ist die Kategorisierung von Körpern nach Merkmalen von race – Weiß, Schwarz etc. – und dann nach Klassenmerkmalen – die Körper der Arbeiter*innenschicht,[20] Mittelschicht und oberen Mittelschicht unterschieden sich einst in Aussehen, Bewegung, Kleidung und Art zu sprechen –, woraufhin schließlich der einzelne Körper je nach Alter, Statur und Übereinstimmung mit Schönheitsnormen eine spezifische Akzeptanz und Behandlung erfährt. Wenn Körper- oder Gesichtsmerkmale das Individuum einer benachteiligten Gruppe zuordnen, rufen diese Merkmale Stigmatisierung und Geringschätzung hervor.[21] An diesem Punkt entsteht dann eine Industrie, die die Umwandlung dieser körperlichen Marker als Ausweg aus der gesellschaftlichen Festlegung anbietet.

Nur noch wenige Körper stellen heute Dinge her. In der westlichen Welt haben Automatisierung, mechanisierte Landwirtschaft, vorgefertigte Produkte von Nahrungsmitteln bis zu Häusern, motorisierter Transport, Hightech-Kriegsführung etc. einen Großteil der schweren körperlichen Arbeit ersetzt. Wir reparieren auch kaum noch Dinge, weil Massenproduktion heißt, dass es billiger ist, den Toaster zu ersetzen, als das zur Reparatur nötige Teil zu bekommen. Unser Verhältnis zur Physis verändert sich. Wo einst arbeitende Körper durch muskelbildende körperliche Schwerarbeit geformt wurden, hinterlassen heute schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungsbereich und computerbasierte Jobs quer durch die Schichten keine solchen physischen Indikatoren mehr. Ja, viele von uns müssen sich schon gezielt bemühen, sich bei der Arbeit oder während ihres gesamten Tagesablaufs überhaupt noch zu bewegen. Früher war es ein Privileg der begüterten Schichten, die keine körperliche Arbeit leisteten, sich zum Zeitvertreib und als soziale Kennzeichnung zu schmücken und zu verschönern. Im Zuge einer Modernisierung und Demokratisierung dieser Sitte sind wir heute alle dazu angehalten. Daher beobachten wir etwas Neues. Der Körper ist zu einer Form von Arbeit geworden. Er verwandelt sich vom Produktionsmittel in das zu Produzierende.

Den Fallout dieser Veränderung sehen wir in den Sprechzimmern von Psychotherapeut*innen, Psycholog*innen, Psychoanalytiker*innen und Ärzt*innen. Hier finden wir immer häufiger das, was ich Körperinstabilität und Körperscham nenne. Es wird immer offensichtlicher, dass unser Körperverständnis auf neue Erklärungen und Theorien angewiesen ist. Ob es um die Bereitschaft und den Wunsch so vieler Menschen geht, die Größe oder Form ihres Penis, ihrer Brüste, ihres Gesäßes oder Bauchs zu verändern, ob wir uns bemühen, das Erleben eines Mannes mit einem Phantomglied zu verstehen, quälende psychosomatische Symptome zu decodieren, mit Anorexie, Bulimie oder einer der sonstigen Körperdysmorphien umzugehen – das kartesianische und freudianische Konzept des Körpers erscheint heute unzulänglich. Das Psyche-Körper-Verhältnis verändert sich. Orthodoxe psychoanalytische Theorie über die Fähigkeit der Psyche, den Körper zu beeinflussen, reicht nicht mehr aus. In dieser Zeit der Körperinstabilität wird immer klarer, dass der natürliche Körper eine Fiktion ist.

Wenn man sich in der Welt umschaut und die vielen verschiedenen Arten von Körpersprache und Körperschmuck sieht,[22] wird klar, dass Körper immer Ausdruck einer zeitlichen, geografischen, geschlechtsspezifischen, religiösen und kulturellen Einbindung sind. Halsringe, Gesichtsbemalung, Verschleierung, entblößte Fußgelenke, Businessanzüge, gefärbte Haare, Tätowierungen, absichtlich deformierte Füße, Goldzähne, Kopfbedeckungen, Beschneidung, lackierte Fingernägel sind allesamt Formen der Kennzeichnung oder Selbstkennzeichnung von Individuen als Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Unsere Körper charakterisieren sich durch die Kleidung, den Gang und/oder sonstige Zeichen, die der Gruppe entsprechen, aus der wir kommen, zu der wir gehören oder mit der wir uns identifizieren wollen. Unsere Körpercodes und unser Körperverhalten konstituieren, wer wir sind. Ob wir die jeweiligen Codes für sinnvoll halten oder nicht, zeigen sie doch in jedem Fall, dass unser Körper weder naturgegeben noch unverfälscht ist, sondern geformt und geprägt durch das Zusammenspiel von Myriaden kleiner kultureller Praktiken. Es gab nie so etwas wie einen simplen, »natürlichen« Körper, sondern immer schon nur einen Körper, der sozial und kulturell geformt ist. Doch der derzeitige kulturelle Diskurs über den Körper verweist auf eine neue Epoche der Destabilisierung des Körpers und eine neue obsessive Beschäftigung mit ihm, beides induziert durch gesellschaftliche Kräfte und vermittelt in der Familie – dort, wo wir unser Körpergefühl erwerben.

Das heißt nicht, dass wir unsere Körperpraktiken als fremd erleben. Wenn wir Sport machen, uns frisieren und kleiden, unterstreichen wir, wie wir gesehen werden wollen und wie wir uns selbst sehen. Wir machen uns mit Vergnügen zurecht. Unsere Körperpraktiken werden uns nicht von oben vorgegeben wie eine Art Katechismus, den es zu befolgen gilt. Kulturelle Identität wird in der ganz alltäglichen, elementaren Interaktion zwischen Babys und Eltern vermittelt. Sie ist das Eltern-Kind-Verhältnis. Die Art, wie Babys getragen, gehätschelt, gefüttert werden, wie man mit ihnen spricht und schmust, sich mit ihnen beschäftigt, ist nicht nur die Summe jener kulturellen Praktiken, die Mütter, Väter, Kinderfrauen und Großeltern selbst als Kinder absorbiert haben und jetzt weitergeben, sie ist auch entscheidend dafür, wie das Kind seinen eigenen Körper erlebt. Körper werden im Säuglingsalter geformt, je nach den gesellschaftlichen und individuellen Gebräuchen der Familie, in die sie hineingeboren werden, sodass sie zu der Sorte Körper werden, die das vor ihnen liegende Leben erfordert.

Das war immer schon so und lief weitgehend unreflektiert ab. Jungen, die zu Kriegern erzogen wurden, entwickelten die dazu nötigen physischen und psychischen Eigenschaften, während Mädchen dazu erzogen wurden, brav und sittsam zu sein, still und nett mit übereinandergeschlagenen Beinen dazusitzen. Die Körper nahmen automatisch den entsprechenden Ausdruck an. Ein englischer Schuljunge der 1960er-Jahre war auf den ersten Blick zu erkennen und von seinem deutschen oder chinesischen Gegenstück zu unterscheiden: durch seine Haltung, seine Kleidung und das räumliche Feld, das sein Körper einnahm. Der Verkörperungsprozess eines jeden Jungen war konstitutiv für sein Selbstgefühl. Schichtzugehörigkeitsmarker wiesen ihn als Angehörigen der Ober-, Mittel-, der Arbeiterschicht aus. Kleidung war in Großbritannien einst in dieser Hinsicht ein ebenso schnell zu deutendes Signal wie die Sprechweise. Heute jedoch ändert sich das, da der globale Körper uns alle auf neue Weise zu erfassen scheint. Wir sehen einen rapiden Rückgang der reichen Vielfalt an Körperexpressionen. Einige wenige idealisierte Körpertypen, auf die hinzuarbeiten sich alle aufgefordert fühlen, treten an die Stelle verschiedener Verkörperungsformen in den verschiedenen Ländern. So wie wir derzeit etwa alle drei Monate eine Sprache verlieren, weil 9,2 Prozent der Sprachen der Welt nur noch von weniger als zehn Menschen gesprochen werden,[23] geht uns, fürchte ich, auch die Vielfalt der Körper verloren.

Bodies. Im Kampf mit dem Körper

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