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Jede Nacht eine Flasche Whisky für Churchill Oder: Wie man sich einen Literaturnobelpreis auch erschreiben kann
ОглавлениеSuzanne Speich
Kochen, Essen und Trinken waren schon immer absolut zentral für mich. Während meiner Jahre als Chefredaktor der annabelle betreute ich diese Themen auch selbst, begann über die damals aufkommende nouvelle cuisine zu schreiben, verfasste Restaurant-Kritiken und erfand Rezepte. Als Verleger Max Frey auch noch den Bau der annabelle-Cuisine bewilligte, eine Kochschule der gehobenen Art, und deren Betreuung seiner persönlichen Köchin Irène Dörig anvertraute, war unsere Zeitschrift definitiv die Nummer Eins für alles, was sich um Ess-Kunst drehte. Wer etwas auf sich hielt, besuchte einen Kochkurs in unserer annabelle-Cuisine, reiste mit unserem annabelle Gastro-Führer und kochte nach unseren Rezepten.
So war ich auch schon früh Stammgast im vielleicht berühmtesten Restaurant der Schweiz, der Kronenhalle am Zürcher Bellevue, und lernte deren Bar-Chef Paul Nüesch in seinen letzten Berufs- und Lebensjahren näher kennen. Nüesch kannte einfach jeden und jede, die berühmtesten Künstler ihrer Zeit von James Joyce über Chagall und Mirò bis zu Persönlichkeiten der Weltgeschichte wie Feldmarschall Montgomery und Winston Churchill. Er wollte seine Erinnerungen an diese Gäste in einem Buch festhalten und wir beschlossen, dass ich seine Memoiren schreiben sollte. Diese erschienen 1981*.
Nüesch erzählte mir in vielen spannenden Stunden sein aufregendes Leben. Doch schon ganz zu Beginn unserer Zusammenarbeit musste ich ihm versprechen, das Spannendste nicht zu schreiben, weil er noch immer der Eidgenossenschaft gegenüber zur Geheimhaltung verpflichtet sei. Es betraf seine Berufsjahre im Hotel Bellevue Palace in Bern während des Zweiten Weltkrieges, wo er über tausend Diensttage an der Hotel-Bar absolvierte und dabei keinen einzigen Tag Uniform getragen hatte, sondern stets sein weisses Kellner-Jackett: Der junge Paul Nüesch war während des Krieges nichts weniger als ein Spion in nationalen Diensten, angestellt im legendären Büro Ha, das als eigenständige Organisation dem militärischen Nachrichtendienst der Eidgenossenschaft angegliedert war.
Doch heute gibt es das Büro Ha nur noch in Geschichtsbüchern und dessen Gründer Hans Hausamann ist lange tot, ebenso wie Paul Nüesch. Und nun darf ich wohl alles schreiben, ohne Geheimnisverrat zu begehen. Immerhin weiss seit John Le Carrés Spionagethriller «Agent in eigener Sache» die ganze Welt, dass die Bar des Bellevue Palace schon immer ein Treffpunkt der Spione gewesen war. Das hatte bereits im Ersten Weltkrieg begonnen und war so legendär, dass zum 100. Geburtstag des Hotels 2013 in der Bar eine «Spy Edition» in limitierter Edition aufgelegt wurde. 1981 wurde übrigens Le Carrés Thriller mit Alec Guiness in der Hauptrolle auch zu Teilen in der Bellevue-Bar gedreht!
Die Lage des Bellevue Palace war zum Spionieren ideal, ja perfekt: Direkt neben dem Bundeshaus gelegen, im Herzen der Bundesstadt, die wiederum im Herzen des einzigen nicht besetzten Landes von Europa lag. Bern war von 1939 bis 1945 der Tummelplatz für offizielle und geheime Funktionäre schlechthin und entwickelte sich mit Madrid und London zum Angelpunkt internationaler Spionage. Die Hotelbar des Bellevue Palace wurde zum Informationszentrum und weltberühmt. Ob von den Achsenmächten oder von den Alliierten entsandt, alle sassen sie im Bellevue Palace, der einzigen neutralen Plattform mitten in Europa.
Und kein Plätzchen im Hotel war besser geeignet, geheime Informationen auszutauschen, als die schummrige Bar, hinter deren Theke Paul Nüesch Dienst tat. Niemand kam auf die Idee, dass der kleine Barmann, fast noch ein Bub, alles mithörte und nach Dienstschluss im Büro Ha rapportierte! Renommierte Geheimagenten wie die Britin Elizabeth Meta Whiskemann und der Deutsche Bernd Gisevius gehörten zu Nüeschs Stammgästen. Ab 1939 leitete der amerikanische Militärattaché Barnwell Rhett Legge von Bern aus gar den ganzen amerikanischen Geheimdienst gegen Nazideutschland – bis es deutschen Spionen gelang, die kryptischen Botschaften der Amerikaner zu entziffern.
Paul Nüesch erlebte während seiner klandestinen Dienstzeit manche gefährliche Situation, denn immer wieder wurde er mit Segen oder gar auf Geheiss des Büro Ha vom Bellevue Palace auch für Kellner-Dienste an Botschaften und Botschaftsresidenzen ausgeliehen, wo das Spionieren noch lukrativer war. Und auch der Bund selbst vertraute auf Nüesch, wenn besonders hoher Besuch kam: So durfte er Kriegslegenden wie Feldmarschall Montgomery, den Sieger von El Alamein 1943, bedienen, als dieser im Von-Wattenwyl-Haus Gast der Landesregierung war.
Nüesch hatte erfahren dass «Monty», der Mann, der die Deutschen zur Kapitulation gezwungen hatte, grundsätzlich keinen Alkohol trank und servierte ihm sein Wasser diskret in einer Weinflasche, deren Etikette er mit der Hand abdeckte. «Vous faites ça avec beaucoup de discrétion» lobte der hohe Gast Paul Nüesch und fragte ihn, ob er auch Soldat sei. «Ja, aber mit ganz speziellen Aufgaben», erwiderte dieser. Montgomery verstand sofort: «Da müssen Sie viel Mut haben.»
1946 waren die Gefahren vorbei, Europa befreit, und der Mann dem dies wesentlich zu verdanken war, Winston Churchill, auf Triumphzug durch die Schweiz. In Zürich herrschte Churchill-Mania, nie zuvor in der Geschichte der Eidgenossenschaft war ein Politiker vom Schweizer Volk so frenetisch gefeiert worden. Churchills Rede an die Jugend der Welt, «Let Europe arise», die er in der Aula der Uni Zürich am 19. September 1946 hielt, ging in die Geschichte ein.
Bei der Fahrt durch die Limmat-Stadt hatte Churchill ein Publikum, wie man es nur von strahlend sonnigen Sechseläuten-Tagen kennt. Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern waren gekommen, um den Mann zu feiern, den sie – zu Recht – als den Retter von Europa in den dunkelsten Stunden des Jahres 1940 sahen. Die Zürcher Schulkinder hatten frei bekommen, damit sie Churchill zujubeln konnten. Viele hatten Fähnchen dabei, während die erwachsenen Zuschauer dem Kriegspremier die offene Limousine mit Rosen füllten. Noch nie in seiner Geschichte war der Münsterhof so randvoll jubelnder Menschen gewesen wie an jenem Nachmittag, als sich Churchill aus dem Fenster des Meisen-Zunfthauses beugte und der Menge mit seinem eleganten Homburger-Hut zuwinkte und sie mit seinem legendären Victory-Zeichen grüsste.
Nur einer wusste in dem Moment, was Churchill in den vergangenen Tagen bereits alles getan, geschrieben und getrunken hatte, wenn sich die Hoteltüren jeweils hinter ihm geschlossen hatten: Paul Nüesch, der während des Schweiz-Besuchs von Churchill als dessen persönlicher Diener abbestellt worden war. Die Schweiz-Reise des Kriegs-Premiers dauerte ja mehr als einen Monat. Im Landgut Choisi in Bursinel am Genfersee residierte er erst während mehrerer Wochen und malte die Schönheiten der Schweiz.
Dann hatte ihm in Bern der Bundesrat einen feierlichen offiziellen Empfang bereitet. In der Bundesstadt residierte der Staatsgast im Bellevue Palace und Paul Nüesch betreute ihn rund um die Uhr: «Jeden Abend brachte ich ihm eine Flasche Whisky in seine Suite und an jedem nächsten Morgen war diese leer.» Churchills Alkohol-Konsum war bereits lange bevor König Georg VI. die Kriegsgeschicke Englands in seine Hände gelegt hatte, legendär gewesen, doch während der Kriegsjahre hatte sich dieser noch verstärkt, was seinem Schaffensdrang und Durchsetzungswillen jedoch keinen Abbruch tat.
«Er lag in seinem Bett, rauchte und trank und schrieb und schrieb und schrieb», erinnerte sich Nüesch.
Sieben Jahre später, als Churchill 1953 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, wusste die Welt, dass man auch mit konstant hohem Alkoholpegel Einzigartiges leisten kann. Churchill war Soldat, Kriegsreporter, Buchautor, Politiker, Familienvater, Nobelpreisträger und Staatsmann in Übergrösse gewesen und hatte während dieser Zeit jeden Monat so viel getrunken wie die meisten Menschen in einem ganzen Leben nicht.
Den ersten Whisky trank Churchill, wie Nüesch mit eigenen Augen sah und wie es von seiner jüngsten Tochter Marc Spencer-Churchill Jahrzehnte später bestätigt wurde, also bereits morgens im Bett. Dann folgte das, was Mary den Daddy-Cocktail nannte, weil er sich am Vormittag mit den Kindern unterhielt, wenn er einen Johnny Walker mit Soda trank. Dann ging es weiter: Champagner (Lieblingsmarke Pol Roger) zum Mittag- und Nachtessen, dazwischen Brandy, Sherry und immer wieder Whisky. Die Abendmahlzeit beendete die Jahrhundertfigur mit Portwein ehe er sein Tagwerk nach einer späten Arbeitsstunde mit einem alten Brandy beschloss.
Soviel Alkoholkonsum konnte nicht unentdeckt bleiben. Winston Churchill zählte als Sohn des 7. Herzogs von Marlborough zur englischen Hocharistokratie und führte mit Ehefrau Clementine ein grosses Haus. «Ich hatte mehr vom Alkohol als er von mir», lautet eines seiner unzähligen Bonmots zum Thema. Adolf Hitler beschimpfte den Kriegspremier als «Trunkenbold». Dass er genau dies nicht gewesen war, konnte Paul Nüesch jedoch nach vielen Tagen in nächster Nähe Sir Winstons bezeugen: «Er wirkte nie, nie auch nur einen Hauch angetrunken, geschweige denn betrunken.»
Gleichwohl versuchten seine politischen Gegner, aus seinem exzessiven Alkoholkonsum natürlich Kapital zu schlagen, doch Churchill, der grosse Meister des Worts, war um eine schlagfertige Antwort nie verlegen. Einmal rief ihm die Labour-Abgeordnete Bessie Braddock im Unterhaus zu: «Winston, Sie sind betrunken!» Worauf Churchill erwiderte: «Bessie, Sie sind hässlich. Morgen werde ich wieder nüchtern sein und Sie immer noch hässlich.»
Suzanne Speich: Zu Gast bei Paul Nüesch in der Kronenhalle Bar
*Suzanne Speich: Zu Gast bei Paul Nüesch in der Kronenhalle-Bar, Hallwag Verlag, Bern.