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Kapitel 5 – Elliot

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»Fertig. Gehen wir?«

»Mhm.« Ohne nennenswert von meinem Handy aufzusehen, folgte ich Jay aus der Mansion und die breite Treppe hinab. Unsere Schritte knirschten leise auf der mit hellen Kieselsteinen aufgeschütteten Zufahrt. Das Geräusch schluckte mein leises Schnaufen, das mir beim Blick in meinen WhatsApp-Verlauf mit Devin entwich. Er hatte sich noch immer nicht auf meine Nachricht vom Morgen gemeldet, hatte sie laut der beiden grauen Häkchen noch nicht einmal gelesen. Außer natürlich, er hatte die Lesebestätigung ausgestellt. Das änderte dann aber auch nichts daran, dass er mir nicht antwortete. Zugegeben, ich hatte auch nichts Konkretes gefragt, aber im Normalfall schrieb Devin auf jede Nachricht zurück – wenn er nicht gerade beim Dreh war oder in einem Erdbebenepizentrum feststeckte.

Mit einem weiteren Laut in der Kehle aktivierte ich die Displaysperre und schob mein Smartphone in meine Hosentasche. Vermutlich waren Devin und sein Ex mit irgendwelchem Papierkram bezüglich des Hausverkaufes beschäftigt. Eine plausible Erklärung dafür, dass er sich nicht meldete. Was mich an dem Gedanken jedoch störte, war sein Ex.

Verdammt, Devin und ich hatten uns nie explizit gegenseitig versichert, exklusiv miteinander zu sein. Wir waren kein Paar. Sein Ex hingegen war sein Ex und nach allem, was der Devin anscheinend angetan hatte, schien die Sache zwischen den beiden auch endgültig durch zu sein. Ich hatte keinen Grund, mir einen Kopf zu machen, und außerdem nicht mal wirklich das Recht dazu.

Energisch straffte ich die Schultern und sah Jay dabei zu, wie er den Code für das große Tor eintippte, welches sich gleich darauf mit einem leisen Knirschen öffnete. Über zwei Meter hohe Mauern schirmten die CC Cocks-Mansion vor zu neugierigen Blicken ab. Wir huschten durch das halb offen stehende Tor, welches sich hinter uns wieder schloss und mit einem deutlich vernehmbaren Klicken verriegelte.

Ein wenig kam ich mir schon wie eine Klette vor, weil ich Jay schon wieder zu einer Verabredung mit Dale begleitete. Aber Jay hatte mich gefragt, ob ich mitkommen wollte und da mir der Magen knurrte, weil ich nach dem Sport direkt zur Mansion gefahren war und nicht daran gedacht hatte, mir unterwegs ein Sandwich zu kaufen, kam ich gern mit. Außerdem waren Jay und Dale in diesem schnuckeligen Restaurant nahe der Subwaystation verabredet, in dem es an jedem zweiten Donnerstag im Monat ein grandioses mongolisches All-you-can-eat-Buffet gab. Eine Einladung dorthin konnte ich mir also unmöglich entgehen lassen – auch wenn ich selbstverständlich selbst bezahlen würde.

Spontane Einsätze als Aushilfslichttechniker vergütete Dave mir stets in bar, was vielleicht nicht ganz legal war, aber sowohl für ihn als auch für mich gewisse Vorteile bot. Einer davon war, dass ich mir neben dem Buffet auch einen zweiten großen Monatseinkauf locker würde leisten können, und ich könnte Cathy und den anderen aus meinem Studiengang schreiben, ob wir demnächst mal wieder zusammen durch ein paar Pubs ziehen wollten.

In Gedanken erstellte ich bereits eine Kneipentour-WhatsApp-Gruppe und schrieb eine Einkaufsliste, zu der ich unter anderem auch die Zutaten für einen echten New York Cheesecake hinzufügte. Die Hälfte davon würde ich Mabel bringen, meiner Vermieterin. Allerdings musste ich bedenken, für diesen Besuch ausreichend Zeit einzuplanen, denn wenn ihr Untermieter vorbeikam, kochte sie immer eine riesige Kanne Tee und bestand darauf, dass ich blieb und ihr von meinem Architekturstudium erzählte, bis die Kanne leer war. Sie selbst trank lediglich eine Tasse davon. Wenn ich Mabel besuchte, brauchte ich also neben Zeit auch stets eine Toilette in Reichweite.

»Dale ist schon drin«, sagte Jay, steckte sein Handy zurück in seine Hosentasche und machte mir erst dadurch, dass ich seine Stimme neben mir vernahm, klar, dass wir den gesamten Fußweg von der Mansion bis zum Restaurant kein Wort gesprochen hatten. Ich wegen meiner Gedanken an ungeplante Zusatzverdienste und die Einkaufsliste und Jay, weil …?

»Alles klar bei dir?«

»Ja.« Er öffnete die Restauranttür und ich tauchte unter seinem Arm hindurch in den mit üppigen Grünpflanzen bestückten Eingangsbereich.

»Sicher?«

»Fang du nicht auch noch an.«

»Hä? Womit?«

»Mich tausend Mal zu fragen, ob es mir gutgeht.«

»Ähm … okay.« Irritiert blinzelnd sah ich Jay nach, der an mir vorbeirauschte, dann jedoch nach drei Schritten stehenblieb und sich noch einmal zu mir umwandte.

»Sorry. Bin mit Mason aneinandergeraten.«

»Echt? Wann?«

»Gerade eben. Nach dem Dreh.«

»Und was war?«

»Ich erzähl’s gleich. Dale wird sicher auch fragen.«

Als Jays Freund würde er das ganz bestimmt. Also begnügte ich mich damit, abzuwarten, und folgte Jay zwischen Tischen mit schwatzenden Gästen hindurch in den hinteren Teil des Restaurants, in welchem nachher das Buffet aufgebaut sein würde. Im vorderen Teil speiste man à la carte.

Mir gingen ein Dutzend Gründe durch den Kopf, weshalb Jay und Mason wohl aneinandergeraten sein könnten, doch mir fiel keiner ein, der spontan einen Sinn ergab. Beim Dreh hatte es so gewirkt, als hätten die beiden eine ganz gute Chemie miteinander, zumal es eigentlich wirklich schwer war, mit Jay keine gute Chemie zu haben. Zugegeben, mit seiner direkten, teilweise provozierenden Art kamen nicht alle klar, aber gerade bei neuen Drehpartnern war Jay eigentlich sehr unkompliziert und darum bemüht, es seinem Co-Star leicht zu machen. Mason wiederum hatte zwar ein wenig angespannt, aber keinesfalls von Jay abgeneigt gewirkt. Eher im Gegenteil.

Ein vages Kribbeln kroch über meinen Nacken und puckerte ganz leicht in meinem Unterleib, wenn ich daran dachte, mit welcher Intensität Mason Jay gefickt hatte. Davon, wie heiß er ausgesehen hatte, als er es sich selbst gemacht und schließlich auf Jay abgespritzt hatte, mal ganz zu schweigen.

Vertieft in meine Gedanken lief ich beinahe in Jay hinein, als dieser an unserem Tisch stehen blieb. Dale rutschte von der Eckbank herunter, stand auf und zog Jay zu einem langen, festen Kuss an sich, ehe er sich mir zuwandte.

»Hi! Du schon wieder?« Sein Lächeln nahm seinen Worten jedweden potenziell beklagenden Unterton, sodass ich die Geste breit erwiderte.

»Jepp, Jay meinte, ihr schafft das All-you-can-eat unmöglich allein.«

Nach einem Küsschen rechts und links sah Dale sich mit betont prüfender Miene in dem nahezu vollbesetzten Gastraum um und verkündete: »Eventuell wären noch die einen oder anderen Personen da, um sich über das Buffet herzumachen, aber ja, wir brauchen deine Hilfe definitiv.«

»Stets zu Diensten.« Ich überließ es Jay, sich einen Platz auszusuchen, und setzte mich schließlich auf einen der Stühle, da Jay schräg gegenüber von Dale auf die Eckbank rutschte.

»Wo hat Jay dich aufgegabelt?«, wandte Dale sich erneut an mich, während Jay sich in die Getränkekarte vertiefte. Ich selbst trank hier immer die hausgemachte Limonade, von der bereits ein Glas vor Dale auf dem Tisch stand. »Warst du in der Mansion?«

»Ja, bin spontan für die Lichttechnik eingesprungen.«

»Ah, dann warst du beim Dreh dabei.«

Es war nicht wirklich eine Frage, dennoch nickte ich. Von rechts schob sich eine Kellnerin mit auffallend pinkfarbenen Haargummis in den dunklen Zöpfen an uns heran.

»Hi, Jungs, was darf ich euch bringen?«

»Für mich die hausgemachte Limo bitte.«

»Gern. Und bei dir?«

Noch immer unschlüssig, wie es schien, plusterte Jay die Backen auf, entließ die angestaute Luft und entschied schließlich: »Eine Maracuja-Schorle. Groß, bitte.«

Ich verbot mir selbst den Gedanken, dass Devin auch immer Maracujasaft bestellte. Ich hatte schlichtweg keine Lust – und eigentlich auch gar keinen Grund –, mir jetzt über ihn den Kopf zu zerbrechen.

»Immer gern. Ihr nehmt alle drei das All-you-can-eat?«

Während Dale bejahte, verdrehte ich mir bereits den Hals, um zu den Buffettischen hinüberzuspähen, auf denen bereits die ersten Warmhaltewannen aufgestellt wurden. Mein Magen krampfte sehnsüchtig. Noch dringender als Hunger brannte jedoch die Neugier in mir.

»Wie war der Dreh?«, fragte Dale just in diesem Moment, sodass ich mich rasch wieder ihm und Jay zuwandte.

»Anstrengend.«

Prompt traf Jay ein prüfender Blick seines Freundes. »Inwiefern?« Als ehemaliger Darsteller wusste Dale wohl selbst nur zu genau, dass Pornos zu drehen neben Spaß und Sex in erster Linie einfach Arbeit war. Wir alle wussten das. Aber zugegeben, auch ich wäre bei Jays Antwort hellhörig geworden, denn wenn einer das Business liebte und es mit Leichtigkeit nahm, dann er.

»Mason«, stieß er hervor, »es war schon heiß mit ihm, aber irgendwie … Ich weiß nicht. Ich werd nicht schlau aus diesem Kerl. Einerseits hatte ich zu Anfang fast das Gefühl, ich müsste ihm eine schriftliche Genehmigung ausstellen, um mich anzufassen und dann wiederum … Ich weiß nicht. Es schien irgendwie, als würde er die ganze Zeit um Kontrolle ringen und dann … als wir uns irgendwann eingegroovt hatten und ich das Gefühl hatte, er lässt endlich los, da … Keine Ahnung. Da steht er nach dem Dreh vor mir und knallt mir an den Kopf, er müsse ja auf mich aufpassen, weil ich selbst nicht in der Lage dazu bin.«

Scharf saugte ich bei Jays Worten die Luft ein. Das war definitiv keine der Dutzend Möglichkeiten, die ich als Auslöser für einen Streit zwischen den beiden in Betracht gezogen hatte.

»Das hat er gesagt?«, hakte Dale nach.

»Nicht so direkt und ich fürchte, ich habe in dem Gespräch auch ziemlich überreagiert. Aber ihr kennt mich. Ich reagiere echt allergisch auf Typen, die so tun, als bestünde dein Job als Bottom nur darin, deinen Arsch hinzuhalten und alles mit dir machen zu lassen.«

»Hat er das denn?«, fragte ich überrascht, ehe Dale etwas dazu sagen konnte. »Beim Dreh, meine ich, dir das Gefühl gegeben, als könnte er alles mit dir machen?« Ich hatte die beiden beobachtet – Mason und Jay. In erster Linie Mason. Weil es mein Job als Lichttechniker war und auch, weil es mich angemacht hatte, ihm zuzusehen. Hatte ich dabei etwas übersehen?

»Nein«, entgegnete Jay, »Jesus, und selbst wenn, ich hätte ihm in seine scheiß Eier getreten.«

Unisono lachten Dale und ich auf. Er vermutlich einfach aus Belustigung und weil er genau wusste, dass sein Freund das tatsächlich tun würde, und ich auch ein wenig aus … Erleichterung?

»Ernsthaft mal«, fuhr Jay fort, »er meinte, es läge in seiner Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es mir gutgeht.«

»Was ja grundsätzlich kein schlechter Ansatz ist.«

Das fand ich allerdings auch und ich stieg in diesem Moment wirklich nicht dahinter, weshalb Jay auf diesen Gedanken so ablehnend reagierte. Immerhin war Dale in etwa genau das, was man einen umsichtigen Top hätte nennen können – soweit ich das beurteilen konnte, schließlich hatte ich nie mit Jays Freund gevögelt. Doch es reichte aus, die beiden eine Weile miteinander zu erleben, um sagen zu können, dass ihre Beziehung in erster Linie auf gegenseitigem Respekt fußte. Dass sie aufeinander Acht gaben. Immer und zu jeder Zeit. Und ganz egal, wer wen fickte. Aus eigener Erfahrung konnte ich zumindest sagen, dass auch Jay als Top immer auf seinen Gegenpart achtete.

»Nein, natürlich nicht«, pflichtete Jay Dale bei und lenkte meine Gedanken damit zurück auf die Unterhaltung. »Aber es gehören ja wohl immer zwei dazu. Natürlich bist du als Bottom darauf angewiesen, dass dein Top keinen Scheiß mit dir macht, aber umgekehrt bis du doch auch selbst in der Verantwortung dir gegenüber, deine Grenzen zu kennen und notfalls aufzuzeigen. Auch der umsichtigste Top kann nicht zu einhundert Prozent sicher sein, was du empfindest. Wie es sich für dich anfühlt. Und es macht mich einfach echt wütend, wenn Leute die eigene Verantwortung auf andere abwälzen.«

Eine nachdenkliche Stille trat ein. Durchbrochen von den Gesprächen der anderen Restaurantbesucher, die gedämpft zu uns herüber hallten, und von der Kellnerin, die meine Limo und Jays Saftschorle brachte.

Ich nahm zwei nippende Schlucke von der Limo – Ingwer-Mango dieses Mal, wie ich vermutete, man wusste vorher nie, was man bekam, weil der Barkeeper täglich aufs Neue nach Lust und Laune mixte –, ehe ich mich an Jay wandte.

»Denkst du wirklich, dass es Mason darum ging? Dir zu signalisieren, dass du deine Verantwortung abgegeben hättest, indem du dich ficken lässt?«

»Keine Ahnung. Nein. Wahrscheinlich nicht. Ich sag ja, ich hab überreagiert. Trotzdem … der Dreh war einfach irgendwie … geil, aber merkwürdig.«

Ich brummte lediglich eine vage Zustimmung, rührte mit dem Strohhalm nachdenklich in meiner Limo. Es irritierte mich, dass ich nichts von dem, was Jay beschrieb, beim Dreh zwischen den beiden wahrgenommen hatte.

»Was ist mit dir?«, hakte Dale an mich gewandt nach. »Du warst doch beim Dreh dabei. Was meinst du zu Mason?«

In einer unentschlossenen Geste hob ich die Schultern. »Keine Ahnung. Ich kann nur sagen: Ich fand ihn scheiße heiß.«

»Wen jetzt?« Dale grinste mich über den Rand seines Limoglases hinweg an. »Den Dreh oder Mason?«

»Beides«, gab ich unumwunden zu. »Mason. Ich würde mich definitiv von ihm vögeln lassen, auch ohne Kamera neben uns.« ›Und wenn es Devin nicht gäbe … Scheiße, Mann!‹

»War klar.« Grinsend stieß Jay sein Glas gegen meines, ehe er einen großen Schluck nahm.

»Warum war das klar?«

»Weil Mason genau der Typ Mann ist, auf den du abfährst. Nicht unbedingt optisch, meine ich jetzt …«

Wobei ich ihn optisch offensichtlich beeindruckend genug fand, um ihn sekundenlang anzustarren. Ihn. Und seinen Schwanz.

»… sondern von seiner Art, zu ficken.«

Zwar gab ich ein empörtes Schnauben von mir, wusste aber selbst, dass Widerworte zwecklos waren. Zum einen, weil Jay einfach recht hatte, und zum anderen, weil er das auch wusste. Er und ich waren nicht unbedingt supereng miteinander – enger als mit Jay war ich mit Rizzo befreundet –, aber er kannte mich gut genug, um sich zurechtlegen zu können, was mich an Mason reizte. Vielleicht ahnte er sogar, dass ich seine zwiegespaltene Meinung bezüglich Mason wohl schon allein deshalb nicht teilte, weil ich es durchaus genießen würde, mich für ein paar Minuten oder Stunden hingebungsvoll in seine Arme zu begeben.

Nicht, dass ich mich grundsätzlich irgendwelchen Typen anbot und diese mit mir machen konnten, was sie wollten. Weiß Gott nicht. Aber Fakt war, dass ich es durchaus mochte, wenn sich ein anderer Mann an mir bediente. Es reizte mich, beim Sex das Gefühl zu haben, benutzt zu werden. Aber eben auch nur beim Sex. Und selbst dort mochte ich es nur bis zu einem gewissen Grad. Nur auf eine gewisse Art, die jedoch die meisten Männer, mit denen ich bislang geschlafen hatte, mir nicht hatten bieten können.

Benutzt zu werden, fühlte sich allzu oft einfach nur schäbig an und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Dabei gaukelten mir meine Fantasien nur allzu oft vor, dass es auch anders gehen könnte. Dass benutzt zu werden mit so etwas wie Bewunderung einherging.

Ich träumte davon, benutzt zu werden, weil derjenige mich so sehr wollte und die Kontrolle verlor. Davon, dass derjenige seine Lust an mir auslebte, weil ich ihn dazu brachte, sich in mir zu verlieren. Nicht davon, benutzt zu werden, weil der andere in mir nicht mehr sah als einen willigen Arsch.

Wenn ich Jays Worten über Mason Glauben schenken konnte, war allerdings fraglich, ob Mason ein solcher Mann sein könnte. Ob ich überhaupt jemals so einen finden würde.

Devin jedenfalls war keiner von ihnen. Der Sex mit ihm war gut, sehr gut, und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, war Devin mir alles andere als egal. Aber genau das, wovon ich heimlich träumte, gab auch er mir nicht.

»Wie auch immer«, murmelte ich und schielte zum wiederholten Mal zum Buffet hinüber. Mittlerweile zog der köstliche Duft mongolischer Spezialitäten von dort zu uns herüber. »Lasst uns nicht über Mason debattieren, sondern lieber das Buffet stürmen.«

Geschlagene zwei Stunden lang futterten wir uns durch sämtliche Angebote des Buffets. Zwischendurch legten wir immer wieder kleine Erholungspausen ein, nur um dann festzustellen, dass vielleicht doch noch ein kleiner Happen in unsere Mägen passen würde. So lange, bis Jay voller Begeisterung in eine der mit Lammfleisch gefüllten Teigtaschen biss, zweimal kaute und dann plötzlich mit angeekelter Miene innehielt. Der Rest der Teigtasche landete auf seinem Teller.

»Baaah, neee«, nuschelte er mit vollem Mund und kniff die Augen zusammen, »Ende, echt. Ich krieg nichts mehr runter, ohne zu kotzen.« Er griff bereits nach einer der Servietten, doch ich zog das Holzkästchen, in welchem sie steckten, aus seiner Reichweite.

»Schluck!«

»Mmmh …«

»Komm schon, du hast schon Ekligeres geschluckt, ohne zu kotzen.«

Von gegenüber traf mich ein bitterböser Blick, aus dem Augenwinkel fing ich neben mir Dales Grinsen ein. Jay kaute mit verkniffener Miene, ehe er den Bissen hinunterwürgte.

»Braver Junge«, raunte Dale ihm zu, seine Stimme dunkel, obwohl ein unterdrücktes Lachen in ihr mitschwang, »Daddy ist stolz auf dich.«

»Arschloch! Alle beide.«

Lachend neigte Dale sich zu Jay und drückte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel. Ich selbst grinste nur still in mein Limoglas. Beschloss dann allerdings, auch meine letzte gefüllte Teigtasche liegen zu lassen. Sehr schade drum, aber ich befürchtete tatsächlich, zu platzen, wenn ich noch irgendetwas zu mir nahm. Selbst die letzten Schlucke Limo schienen zu viel für meinen Bauch, der protestierend gluckerte.

»Ich würde dann auch gleich bezahlen«, erklärte ich an die beiden gewandt. »Ich sollte nach Hause. Muss noch ein Modell für die Uni fertigmachen.« Und ich würde beim Rausgehen nicht direkt wieder auf mein Handy schauen, um zu sehen, ob ein gewisser Kerl sich gemeldet hatte.

»Mhm, wir packen’s auch direkt.«

»Tun wir?« Jay blinzelte fragend zu Dale. »Ich schaffe unmöglich die paar Schritte bis zur Subway, so vollgefressen wie ich bin.«

»Dann rolle ich dich eben. Glaub mir, du kannst gleich laufen, wenn ich dir sage, dass zu Hause eine Überraschung auf dich wartet. Oder eher: auf uns.«

»Ach ja?« Prompt wurde Jay hellhörig und auch ich spitzte die Ohren, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob mich besagte Überraschung irgendetwas anging. Andererseits würde Dale es wohl kaum in meinem Beisein ansprechen, wenn es irgendein Geheimnis war.

»Was denn?«, hakte Jay nach und klang dabei so ein bisschen wie ein kleiner Junge, der versuchte, seinen Eltern einen Hinweis auf sein Weihnachtsgeschenk zu entlocken. »Heißes Bad? Rückenmassage?«

»Ich sagte: Überraschung für uns. Was hab ich davon, dir ein Bad einzulassen und dich zu massieren?«

Jay schnaubte empört, während Dale aus dem Grinsen gar nicht mehr herauszukommen schien.

»Na ja, vielleicht blase ich dir zum Dank anschließend einen?«

Typisch Jay! Ich stellte sicher, dass er mein Augenverdrehen sah, ehe ich mich abwandte, um nach der Kellnerin Ausschau zu halten.

»Hmm … wäre eine Überlegung wert, aber nein.«

»Jetzt sag schon.«

»Mail-Post.«

»Wie, Mail-Post?«

Ich gab der Kellnerin ein Handzeichen, nachdem ich Blickkontakt zu ihr aufgenommen hatte, und wandte mich dann wieder Jay und Dale zu. Gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie Dale mit verschwörerischem Lächeln erklärte: »Keith hat mir die ersten Wohnungsexposés geschickt.«

Jay ließ einen begeisterten Laut vernehmen. Ich indessen unterdrückte das leicht enttäuschte Seufzen. Ich gönnte es den beiden von Herzen, dass sie den Schritt wagen und zusammenziehen würden. In Los Angeles. Dort, wo auch Rizzo und Liam und gewissermaßen auch Keith wohnten. Ich selbst liebte New York, den Umstand, dass ich für meine Drehs bei CC Cocks nicht erst in den Flieger steigen musste, und außerdem ging ich hier zur Uni. Oder vielmehr: in das schweineteure Privatinstitut. Wäre das nicht gewesen, hätte ich mir auch allen Ernstes überlegt, nach L.A. zu ziehen. Einfach, weil gefühlt mein halber Freundeskreis dort lebte. Die andere Hälfte nach wie vor in meiner ursprünglichen Heimat Santa Fe. Ich war weiß Gott nicht einsam in New York, traf mich auch regelmäßig mit einigen Leuten aus dem Institut. Aber die Freundschaften zu ihnen waren eher lose und manchmal wünschte ich mir schon, wenigstens irgendeinen guten Freund nur einige Querstraßen weiter zu wissen.

Die Kellnerin, die an unseren Tisch trat, unterbrach meine Gedanken.

~*~*~*~*~*~

Am nächsten Morgen erwachte ich, weil Wasser auf meine Stirn tropfte. Und nicht nur auf meine Stirn. Ganz sicher war da eben auch ein Tropfen auf meiner Nase gelandet.

Wasser.

In meinem Gesicht.

Wenn ich im Bett lag.

Warum?

Ich lag doch in meinem Bett, oder?

Blinzelnd schlug ich die Augen auf, sah mich um und stellte fest, dass es tatsächlich eindeutig mein Bett war. Das war gut. Der Umstand jedoch, dass immer mehr Wassertropfen auf mich fielen, war alles andere als gut.

Das war Scheiße!

Abrupt schoss ich hoch und sprang regelrecht aus dem Bett. Verhedderte mich dabei in der Decke und hätte mich beinahe auf dem Dielenboden langgelegt. Ich schaffte es gerade noch, mich auf der Matratze abzustützen. Fluchend zerrte ich mir die Decke vom Leib, richtete mich auf, sah hoch zur Decke – und fluchte erst richtig los.

»Jesus! Fuck! Was ist das für eine Scheiße?«

Die eigentlich weiß gestrichene Decke hatte sich direkt über meinem Bett großflächig dunkel verfärbt. Ein verdammter, riesiger Wasserfleck, der sich vor meinen Augen sogar noch auszudehnen schien. An manchen Stellen tropfte es von der Decke, an der Wand am Kopfende des Bettes lief ein Rinnsal entlang. Ein dünnes nur, aber eben doch ein verficktes Rinnsal.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße, FUCK!«

Hastig tappte ich quer durch den Raum, der neben meinem Schlaf- auch mein Wohn- und Arbeitszimmer war, riss meine Klamotten vom Vortag von der Stuhllehne und eilte, während ich noch in mein Shirt schlüpfte, zur Tür. Rannte barfuß durchs Treppenhaus und die Stufen zu Mabels Wohnung hinauf. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es genau war, aber da ich gestern noch bis tief in die Nacht an meinem Modell gearbeitet hatte, vermutlich schon nach neun oder zehn. Mabel sollte auf jeden Fall wach sein, und auch wenn sie dank ihres Alters von bewundernswerten dreiundachtzig Jahren manchmal nicht mehr die Fitteste war, sollte sie doch wohl merken, dass es hier im Haus einen verdammten Wasserrohrbruch gegeben hatte. Oder betraf der Mist irgendwelche Rohre, die unter ihrer Wohnung, aber über meiner verliefen?

Scheiße noch eins!

Am Ende war der alten Dame auch irgendetwas passiert und sie hatte deshalb nichts mitbekommen?

Energisch hämmerte ich gegen ihre Wohnungstür, in meiner Brust raste mein Herz doppelt so schnell als üblich.

»Mabel, hörst du mich? Mach bitte auf!«

Stille.

Noch einmal trommelte ich mit einer Faust gegen die Tür, betätigte parallel dazu die Klingel.

»Mabel, hallo? Ich bin’s, Elliot, mach auf, bitte!«

›Bitte sei nicht gestürzt oder so was!‹

Ich überlegte bereits fieberhaft, wo ich den Ersatzschlüssel hingeräumt hatte, den Mabel mir schon vor Monaten anvertraut hatte, doch dann vernahm ich ein leises, schabendes Geräusch hinter der Tür.

»Mabel?« Noch einmal hob ich die Hand, doch ich kam nicht mehr dazu, gegen die Tür zu hämmern, da diese just in diesem Moment entriegelt und aufgezogen wurde. Mir gegenüber stand eine ziemlich verwirrt dreinschauende, aber augenscheinlich wohlbehaltene Mabel.

»Elliot … ist alles in Ordnung?«

»Ja. Nein. Nein, gar nicht! Darf ich?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schob ich mich an ihr vorbei in ihre Wohnung. Wo genau lag mein Wohnraum von hier oben aus betrachtet? Theoretisch links von mir. Eilig huschte ich den Flur entlang.

»Elliot, was ist denn nur los?«

»Erkläre ich dir glei…« Die Worte blieben mir regelrecht im Hals stecken, als ich um die Ecke trat – und nasse Füße bekam. Unter der geschlossenen Tür am Ende des Flures quoll Wasser hindurch.

»Oh, fuck!« Unter weiteren gemurmelten Flüchen tappte ich vorwärts. Ich traute mich kaum, die Tür zu öffnen. Befürchtete schon, mir würde gleich eine wahre Springflut entgegenströmen, sodass ich mich vorsichtshalber mit einer Hand an der Wand abstützte.

Die Tür schwang auf. Die Flut blieb aus. Der Fliesenboden des Raumes jedoch war pitschnass. An welchen Stellen genau das Wasser bis in meine Wohnung nach unten durchdrang, vermochte ich nicht zu sagen. Was ich allerdings sehr wohl auszumachen vermochte, war, woher das ganze Unheil rührte: Die Badewanne war übergelaufen. Und zwar nicht so ein bisschen übergelaufen, wie es passieren konnte, wenn man es zu heftig in der Wanne trieb, sondern so richtig übergelaufen. Und das Wasser floss munter weiter aus dem voll aufgedrehten Hahn. Jesus, hatten Badewannen nicht normalerweise einen Überlaufschutz?

Dieses Modell von anno dazumal offenbar nicht.

»Fuck!« Schien mein Lieblingswort an diesem Morgen zu sein.

Ich watete weiter und drehte den Hahn mit bebenden Fingern so schnell zu, wie ich konnte. Doch auch das änderte nichts daran, dass das ganze verdammte Badezimmer voller Wasser stand. Zentimeterhoch. Und dieses Wasser fröhlich meine Wohnungsdecke durchweichte.

»Elliot, was ist denn …? Ach, du meine Güte, was für ein Malheur.«

Ja, so konnte man es natürlich auch ausdrücken. Ich persönlich hätte es zwar eher als gottverdammte Scheiße bezeichnet, aber da sprach wohl der Generationsunterschied aus uns.

Ich zwang mich, einmal tief durchzuatmen, um nicht meine arme Vermieterin aus Versehen anzumaulen, ehe ich mich umwandte und aus dem Badezimmer zurück in den Flur watete. Mabel stand am Ende des Ganges und blickte aus großen Augen auf die feuchte Bescherung zu ihren Füßen.

»Vorsicht, nicht dass du ausrutschst.« Mit wenigen Schritten war ich bei ihr und ergriff sie am Arm, um sie fort von dem Unglück und in ihr Wohnzimmer zu führen.

»Wie konnte das denn passieren?« Unschlüssig sah sie zu mir auf, nachdem ich sie sacht in ihren großen Ohrensessel bugsiert hatte.

Ja, das hätte ich allerdings auch gern gewusst.

»Wolltest du ein Bad nehmen?« Um wie viel Uhr auch immer am Morgen …

»Ich? Nein. Es ist doch erst neun.«

Mein Blick schweifte zu der großen Wanduhr über der Essecke. Beinahe zehn, aber okay, zumindest schien die gute Frau nicht vollkommen desorientiert zu sein.

»Meine Fische!«

»Was?«

Mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht deutete Mabel zu dem Aquarium hinüber, das neben dem Sofa stand und in dem fröhlich einige grün-blau schimmernde Exemplare herum huschten.

»Ich wollte das Aquarium mal wieder reinigen. Deswegen habe ich den Hahn aufgedreht, um die Fische in die Wanne zu setzen. Und weil es ja so lange dauert, bis das Wasser eingelaufen ist, habe ich mir noch einen Tee gekocht. Den wollte ich in Ruhe trinken und dann muss ich im Sessel eingeschlafen sein.«

Das ergab Sinn. Vor allem, wenn man bedachte, dass auf dem furchtbar hässlichen Buntglastischchen neben dem Sessel eine Tasse stand, deren Inhalt zumindest nicht mehr dampfte.

»So was Dummes aber auch. Ist denn viel nass geworden?«

›Nee, nur meine fucking Wohnung!‹

Nur mit Mühe unterdrückte ich den frustrierten Aufschrei. Stattdessen nahm ich Mabels Hand in meine und streichelte beruhigend mit dem Daumen über ihren schrumpeligen Handrücken. Blieb nur fraglich, wen genau ich gerade zu beruhigen versuchte.

~*~*~*~*~*~

Nicht nur die Decke, eine Wand und mein Bettzeug hatten gelitten. Das Schlimmste offenbarte sich mir erst, als ich rund zwei Stunden später wieder in meine Wohnung kam: Das Modell, an dem ich am vergangenen Abend stundenlang gebastelt hatte, war dahin. Gut, nicht vollständig dahin, es war durchaus noch als Modell einer modernen Mehrfamilienhaussiedlung mit parkähnlicher Grünanlage und einem Kinderspielplatz erkennbar. Aber das von der Decke tropfende Wasser hatte die Farbe verwaschen und fleckig werden lassen und stellenweise sogar ganz abgelöst, sodass an einigen Stellen wieder das Styropor durchschien. Außerdem waren einige Ecken an den kleinen Modellhäusern aufgeweicht und eingedrückt, an einem Häuschen war sogar das Dach so sehr aufgeweicht, dass es in sich zusammengesunken war. Kurzum: Auch wenn noch erkennbar war, worum es sich handelte, das Modell war am Arsch. Und das bedeutete nicht nur, dass Dutzende Stunden Arbeit der letzten Wochen umsonst gewesen waren, sondern vor allem auch, dass ich ein verdammtes Problem hatte. Morgen war Abgabe und ich würde es niemals schaffen, das Modell bis dahin zu retten, geschweige denn, ein neues anzufertigen.

Warum, zur Hölle, hatte ich es dort neben dem Bett auf dem Boden stehen lassen? Ich hatte gewusst, ich hätte das verfluchte Modell in der Nacht noch ordentlich beiseite räumen sollen. Warum nur war ich manchmal so ein verdammter, fauler Schlamper? Diese Kann-ich-morgen-noch-machen-Mentalität würde mich irgendwann den Kopf kosten. Oder eben ein Modell. Und damit die notwendige Abschlussqualifikation für das Praxisseminar, ohne die ich im kommenden Semester nicht für die Folgeveranstaltung zugelassen werden würde. Was in letzter Konsequenz hieß, dass ich das Seminar wiederholen und dadurch im schlimmsten Fall ein Semester würde dranhängen müssen, was auf lange Sicht nicht nur einen Zeitverlust bedeutete, sondern vor allem immense Kosten nach sich ziehen würde.

Was bitte war das heute eigentlich für ein Scheißtag?

Mit einem rauen Laut in der Kehle ließ ich die Stirn auf meine angezogenen Knie sinken und versteckte mein Gesicht zwischen den verschränkten Armen. Verdammt, ich würde jetzt sicher nicht heulen! Nicht wegen einer übergelaufenen Badewanne.

Ich konnte Mabel ja nicht mal richtig böse sein. Sie war über achtzig und manchmal einfach ein wenig vergesslich und ein wenig müde. Viel eher wollte ich stinkwütend auf diese gottverdammte, alte Badewanne sein. Oder auf denjenigen, der sie in Mabels Wohnung montiert hatte. Eine Badewanne ohne Überlaufschutz – wer erfand so eine Scheiße? Wie konnte es denn sein, dass eine Badewanne eine Decke, einen Kissenbezug, ein Architekturmodell und einen ganzen Tag versaute?

Okay, vielleicht würde ich doch wegen einer Badewanne heulen. Ein kleines bisschen nur.

Irgendwo rechts neben mir vibrierte mein Handy. Schniefend hob ich den Kopf, wischte mir über die Augen und entdeckte das Gerät auf meinem Schreibtisch, wo es noch einmal über die Tischplatte summte und dann still liegenblieb. Wer auch immer mir schrieb, würde an diesem bekackten Tag vermutlich nichts ändern können, aber Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt. Also kämpfte ich mich auf die Füße hoch und tappte – noch immer barfuß und deswegen mit inzwischen echt kalten Zehen – hinüber zum Schreibtisch.

Aus dem Treppenhaus drangen gedämpfte Stimmen bis in meine Wohnung. Ich hatte die Wohnungstür extra nur angelehnt, weil Mabel mir versprochen hatte, mir als Entschuldigung »für das feuchte Malheur« und als Dankeschön, weil ich ihr Bad und ihren Flur weitgehend trockengelegt hatte, zwei Stück Kuchen herunterzubringen, sobald dieser aus dem Ofen kam. Okay, und um ehrlich zu sein, wollte ich sichergehen, mitzubekommen, falls in der Wohnung über mir auch gleich noch ein Elektrobrand ausbrach. An Tagen wie diesen wusste man ja nie …

Im ersten Moment wollte mein Herz einen kleinen, erfreuten Hüpfer tun, als ich sah, dass die eingegangenen WhatsApp-Nachrichten von Devin waren. Im zweiten Moment allerdings entschied sich mein Herz zu einem enttäuschten Pochen, als ich mich in den Chatverlauf geklickt hatte.

Hi Eli, sorry, dass ich mich gestern nicht mehr gemeldet hab.

Wir waren bei meinen Schwiegereltern zum Essen eingeladen.

Was treibst du so?

Ich wusste nicht, was mich mehr traf: Dass Devin von sich und seinem Ex wie selbstverständlich als ›wir‹ schrieb – denn dass er von sich und seinem Ex redete, war wohl offensichtlich – oder dass die beiden gemeinsam zum Essen bei der Familie eingeladen wurden. Und diese Einladung auch annahmen. So, als seien sie immer noch ein Paar.

Waren sie nicht, verdammt! Devin hatte sich vor mehreren Wochen von seinem langjährigen Partner getrennt, nachdem der ihn betrogen hatte. Und das anscheinend mehrfach. Über Monate hinweg. Und dann auch noch die Dreistigkeit besessen hatte, als er von Devin zur Rede gestellt wurde, so zu tun, als seien seine Seitensprünge vollkommen in Ordnung, da Devin es vor der Kamera ja auch mit anderen Männern trieb. Als ob seinem Ex jetzt erst aufgefallen war, dass er seit Jahren mit einem Pornodarsteller liiert war und ihm dieser Umstand eigentlich missfiel.

Zur Hölle, warum tanzte Devin mit diesem Arschloch bei einer Familienfeier an, als sei nichts geschehen?

Und warum, zum Teufel noch mal, machte es mich überhaupt so wütend, dass er das tat?

›Weil es dich verletzt. Weil du in ihn verkna…‹

»Bin ich nicht!«, schnauzte ich meine innere Stimme an und zuckte gleich darauf heftig zusammen, als es von der Tür her tönte: »Ist das nicht die Wohnung mit dem Wasserschaden?«

Abrupt wandte ich den Kopf, um in den Flur blicken zu können. Im Türrahmen zu meiner Wohnung stand ein Mann mittleren Alters im Blaumann und linste fragend herein.

»Was? Doch, ja. Also, in der Wohnung oben drüber ist die Badewa…«

»Das habe ich mir schon angesehen.«

›Danke fürs Ausreden lassen.‹

»Aber du hast den Wasserschaden an der Decke?«

Nicht nur an der Decke.

»Ja, hier im Wohnraum. Willst …?«

Schon stapfte der Kerl durch den Flur auf mich zu und hinein in den Raum. Mit seinen Dreckschuhen an den Füßen.

›Ja, komm doch rein, fühl dich wie zu Hause, darf’s vielleicht noch ein Tee sein?‹

Ich verkniff mir jedweden Kommentar. Immerhin war ich ja froh, dass Mabel augenscheinlich so schnell jemanden herbekommen hatte, der sich das ganze Desaster mal ansah.

»Aha, na das ist ein ordentlicher Schaden.«

Das hatte ich befürchtet.

Während der Kerl den riesigen Fleck an der Decke mit akribischem Blick inspizierte und dabei ungeachtet der Fußspuren, die er auf dem Boden hinterließ, um mein Bett herumging, nahm ich kurzerhand dieses Exemplar von Mann in Augenschein. Wenn heute schon alles schieflief, konnte ich mir ja wenigstens ein bisschen Augenschmaus gönnen. Denn auch wenn der Kerl nicht unbedingt durch dezent-höflichen Charme glänzte, so war doch zumindest sein Äußeres recht ansprechend: etwa gleich groß, aber deutlich breiter gebaut als ich selbst, mit erahnbaren Muskeln unter dem Blaumann, kantigem Gesicht mit leichtem Bartschatten und dunklen, kurzgeschorenen Haaren. Zugegeben, ein bisschen längeres Haar hätte mir besser gefallen, aber man konnte nicht alles haben. Außerdem wollte ich ihn ja nicht direkt in mein Bett zerren, sondern einfach nur ein bisschen anschauen.

Er selbst hatte anscheinend noch nicht genug geschaut. Noch einmal ging er um mein Bett herum, trat näher an die Wand und direkt auf das ruinierte Modell zu. Ich öffnete schon den Mund, sein Blick glitt nach unten. Ein Zögern und dann …

Geräuschvoll schnappte ich nach Luft.

… schob er das Modell einfach mit seinem Dreckschuh beiseite, um näher an die Wand herantreten zu können.

›Ja, flipp ich gleich aus, oder was?‹

»Hör mal …«

»Hier müssen Trockner rein.«

Ich verschluckte mich an meinen eigenen Worten. Hustete. Der Kerl drehte sich zu mir um.

»Am besten jetzt gleich. Ich hab welche im Wagen.«

»Ähm … okay.« Eigentlich hatte ich ihn anschnauzen wollen, andererseits war das Modell wahrscheinlich nicht mehr zu retten. Und wenn doch, dann kam es auf das bisschen Dreck nun auch nicht an. Außerdem hoffte ich, dass der Typ meine Decke retten würde, also war es wohl angebracht, ihm ein Vorbild in Sachen Höflichkeit zu sein.

»Was für Trockner?«

»Na, solche, die die Raumluft und die Wände und Decken trocknen. Sobald die eine Weile gelaufen sind, kann man sehen, ob das ausreicht oder ob man die Decke neu machen muss.«

Na hoffentlich hatte Mabel genug auf der Seite, um so etwas zu bezahlen. Ich jedenfalls hatte es nicht. Und so lieb ich meine Vermieterin auch hatte, das hier war allein auf ihrem Mist gewachsen.

»Okay und wie lang dauert das?«

»Die Trockner müssen mindestens zehn Tage laufen und dann …«

»Zehn Tage?« So viel zum Thema, ich würde mich ganz vorbildlich benehmen und ihm nicht ins Wort fallen.

»Ja. Und ich sag dir: Die Dinger sind scheiße laut. Also wenn das hier dein einziges Bett ist …«

›Nee, du, klar, ich hab noch je eines in all den anderen zehn luxuriösen Zimmern stehen …‹

»… würde ich an deiner Stelle für die nächsten zwei Wochen woanders hinziehen.«

Sein Ernst jetzt?

Mit einem zutiefst frustrierten Laut griff ich mir in die Haare. Ich war kurz davor, den Kerl anzuflehen, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gab, die ganze Sache zu beschleunigen, notfalls, indem ich ihm jetzt und hier einen blies. Aber vermutlich würden sich die Trockner auch nicht von meinem Mund um seinen Schwanz beeindrucken lassen.

»Irgendwo kannst du doch bestimmt unterkommen, oder?«

Kraftlos sanken meine Arme herab. »Ja«, entgegnete ich dumpf, »bestimmt.«

Wie konnte ein einzelner Tag eigentlich so beschissen sein?

~*~*~*~*~*~

Erschöpft und mit den Nerven völlig am Ende ließ ich mich auf meine auf der Sitzbank ausgebreitete Decke fallen. Der Handwerker hatte recht gehabt: Diese verdammten Trockner waren scheiße laut. So laut, dass ich nach nur einer Stunde mit ihnen im selben Raum aus meiner Wohnung und in den High-Line-Park geflüchtet war. Dieser Park auf der alten Eisenbahntrasse über der Stadt war einer meiner absoluten happy places in New York. Allein schon durch seine Nähe zum Chelsea Market und weil man von hier oben einen ausgedehnten Blick auf Manhattan und den Hudson River hatte.

Die strahlende Augustsonne hob meine Laune wenigstens um ein winziges bisschen und hey, immerhin würde es wohl auch in den nächsten Nächten warm genug sein, um notfalls auf einer verdammten Parkbank zu schlafen.

›Witzig, Elliot, als ob du dich das trauen würdest …‹

Ehe ich das tat, würde ich doch Mabels Angebot annehmen und auf ihrer Couch übernachten. Aber nein, auch wenn meine Vermieterin wirklich ein herzensguter Mensch war, darauf hatte ich keine Lust. Immerhin blieben mir neben diversen kostenpflichtigen Varianten noch zwei weitere Möglichkeiten.

Aus meiner Hosentasche zog ich mein Handy hervor und klickte mich in die Telefonliste zum Buchstaben D – Dale oder Dave? Ich entschied mich spontan zunächst für Letzteren. Auch wenn ich mir sicher war, dass Dale mir Unterschlupf gewährt hätte, wollte ich ihm nicht schon wieder auf die Nerven gehen.

Nach nur wenigen Freizeichentönen hob jemand ab – allerdings nicht Dave, obwohl ich seine Bürodurchwahl benutzt hatte.

»Tracy, hi, hier ist Elliot. Ich, ähm, wollte eigentlich Dave sprechen. Ist er da?«

»Ja, aber er ist gerade mit Mason im Gespräch. Kann ich ihm etwas ausrichten? Oder soll er dich anrufen?«

Mason war noch in der Mansion? Für wie lange?

»Hmm, nein, eigentlich kann ich auch dich fragen.« Ich zögerte einen Moment. Konnte ich wirklich so mit der Tür ins Haus fallen? Für die Zeit der Drehs oder anderer Veranstaltungen, standen uns CC Cocks-Jungs immer Zimmer in der Mansion frei. Aber Dave und Tracy waren primär meine Arbeitgeber und nicht meine Sozialarbeiter.

»Um was geht’s denn?«, fragte Tracy, nachdem mein zögerliches Schweigen wohl zu lange gedauert hatte.

Schnaufend atmete ich aus. »In meiner Wohnung gab’s einen Wasserschaden und die Trockner, die nun drinstehen, sind irre laut. Da dachte ich … na ja … könnte ich vielleicht ein paar Tage in der Mansion übernachten? Ich bezahle euch das natürlich oder Dave soll es von meinem nächsten Honorar abziehen oder …«

»Natürlich kannst du hier übernachten.«

»Ehrlich?«

»Klar. Auch für eine Woche oder zwei oder … Wie lange es eben dauert. Ich hatte auch mal diese Geräte in der Wohnung über mir und selbst das hat mich beinahe wahnsinnig gemacht. Also komm her, wann auch immer du willst.«

»Danke, Tracy, ehrlich, vielen Dank!« Mit einem tiefen Seufzen ließ ich mich vollends rücklings auf die Decke sinken, die ich auf einer der hölzernen Liegebänke ausgebreitet hatte. »Ich bin noch unterwegs, aber dann packe ich nachher ein paar Sachen zusammen und komm gegen Abend rüber. Ist das okay?«

»Natürlich. Einer von uns wird sicher ohnehin noch in der Mansion sein. Und wenn nicht, weißt du ja, wo du klingeln musst.«

Tracys und Daves privater Bungalow lag auf demselben Gelände wie die Mansion selbst, allerdings abgeschirmt hinter blickdichten Gabionen.

»Okay, mach ich.«

»Ich gebe dir dann später eine Chipkarte mit dem aktuellen Einlasscode, damit du jederzeit rein kannst.«

»Danke noch mal, ehrlich, du rettest mir gerade quasi das Leben.«

Ihr Lachen hallte herzlich durch die Verbindung und ließ mich beinahe glauben, dass der Tag doch nicht ganz so furchtbar war. Allerdings nur fast …

»Ich rette doch gern unsere Jungs. Dann bis später, Elliot.«

»Ja, bis dann.« Ich hätte ihr am liebsten noch einmal gedankt, aber vermutlich war es besser und glaubwürdiger, ihr einfach später von Angesicht zu Angesicht um den Hals zu fallen. Und vielleicht sollte ich ihr einen Blumenstrauß oder eine Schachtel Pralinen oder so etwas kaufen. Wobei ich eigentlich bezweifelte, dass Tracy auf eines von beidem stand. In meinen Augen war sie eher der Typ Frau, den man mit einem Rumpsteak oder einem neuen Sextoy glücklich machte. Wobei es von Letzterem in der Mansion nun wirklich mehr als genug gab.

Beyond price

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