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Belgische Schokolade

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Er ging an den Lastwagen vorbei, die Kabinen verlassen und dunkel. Namensschilder waren hinter die Frontscheiben geklemmt: Manni, Herbert, Hansi. Der Sprinter stand auf dem letzten Parkplatz. Im Seitenspiegel tauchte ein Gesicht auf. Durchschnittlich, aber da war auch Finsternis. Er blieb stehen und betrachtete das Gesicht einen Moment lang. Dann klopfte er gegen die Tür.

„Du bis’ der Neue?“

Er nickte.

„Issen dein Name?“

„Gary“, sagte er, er sprach es Gerri aus, mit hartem r, das am Rand des Rachens vibrierte. Nein, es war nicht sein echter Name. Er hatte in diesem Moment einfach an Gary Cooper denken müssen. Vor langer Zeit hatte er einmal einen Film mit ihm gesehen, aber eigentlich wusste er nicht, wie er ausgerechnet auf diesen Schauspieler gekommen war. Vielleicht hatte er den Film nicht einmal gut gefunden, er konnte sich nicht mehr erinnern. Sein Vater hatte immer was für Filme übrig gehabt, sie waren oft gemeinsam ins Kino gegangen, danach auf ein Kölsch ins Golden Kees. Gary. Gerri.

„Ich bin Bodo“, sagte der Mann und sah ihn abwartend an; er war jetzt Gerri. Gerri nickte und dachte: Gerri. Dann saßen sie beide nebeneinander in der Fahrerkabine. Hier roch alles neu, und Gerri kam das falsch vor. Eine alte Ausgabe des Express lag auf dem Boden, der Sportteil war aufgeschlagen. Daneben eine zerdrückte Schachtel Marlboro und ein Kaffeebecher von Gilgens – ein Stillleben des Alltäglichen.

„Zigarette?“, fragte Bodo und hielt ihm eine neue Schachtel hin. „Woher kennste Costa?“

Gerri kaute auf dem Filter.

„Von ganz früher“, sagte er und zündete sich die Zigarette an.

„Ich kenn’ ihn aus’m Knast“, sagte Bodo.

Gerri nickte und sagte: „Ja.“

„Dann kann ich mich auf dich verlassen“, sagte Bodo. Es war eine Feststellung, da war sich Gerri sicher. Costa. Bodo. Gerri. Ihm gingen diese Namen durch den Kopf. Hinter diesen Namen standen Geschichten, lange Geschichten, und oft schmutzige. Er schloss die Augen. Da war etwas Schweres in ihm, er spürte, wie es auf seinen ganzen Leib drückte.

„Auch ’n Schluck?“, fragte Bodo und hielt ihm einen Flachmann hin, aber Gerri schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte er, nein – brauchte er einen Schluck. Er hatte lange nichts mehr getrunken, ein paar Monate jetzt schon, und er hatte nicht vor, wieder damit anzufangen. Doch wenn der Geschmack erst einmal an den Lippen klebte, konnte er für nichts mehr garantieren, dessen war er sich bewusst.

„Wir ham’ noch Zeit“, sagte Bodo und nahm einen tiefen Schluck, „die laufen uns nich’ weg.“

Gerri sah ihn an. „Wie viele sind es?“

Bodo schraubte den Flachmann zu und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. „Nie mehr als zehn“, sagte er, „was hat Costa dir sonst noch gesagt?“

„Nicht viel“, sagte Gerri, „wirklich nicht viel.“

Bodo nickte. „Brauchst auch nich’ viel zu wissen, das Wichtigste is’ sowieso die Schokolade.“

„Die Schokolade?“

Bodo lächelte. „Haste Frau und Kind?“

Gerri schwieg.

„Bring denen Schokolade mit“, sagte Bodo und schnippte die Zigarette aus dem geöffneten Seitenfenster, „belgische Schokolade is’ die beste, ich sag’s dir.“

Gerri sah ihn an: „Belgische Schokolade.“

„Ganz genau“, sagte Bodo, und dann startete er den Motor.

Sie fuhren stadtauswärts. Die Straßen füllten sich langsam mit Leben. Die Ampeln waren durchgehend grün, sie mussten nicht einmal anhalten. Gerri sah aus dem Fenster. Er kannte die Gegend. Er hatte eine Weile in einem ramponierten Altbau an der Mülheimer Freiheit gewohnt – damals noch die Gegend der Künstler, der Boheme. Eine gute Zeit. Man lebte in den Tag hinein, ein paar Geschäfte hier und da, nichts Großes, nichts Gefährliches. Da waren noch ein paar Erinnerungen übrig: Jiri Kubitza, der verrückte Maler, Zero Kraus mit seinen traurigen Liedern, die blaue Lola. Als sie die Zoobrücke hinter sich gelassen hatten, fragte er ihn.

„Wo kommen die her, weißte das?“

Bodo zuckte mit den Schultern und behielt den Blick auf der Straße. „Mal so, mal so“, sagte er, „Curryfresser, Nigger, Schlitzaugen – da kannste alles bei haben.“

Dann sah er ihn an. „’ne bunte Mischung eben.“

Gerri nickte.

Bodo lachte. „Is’ doch auch scheißegal, oder? Hast’ sowieso nix mit denen zu tun, die holste ab, schmeißt die in der Süd raus, und jut is’.“

Gerri wartete darauf, aber Bodo sagte es nicht. Bodo sagte nichts mehr. Ganz einfach. Das waren Costas Worte gewesen: Ganz einfach. Nur zwei Worte, und sie klangen ehrlich: Es war einfach, da gab es nichts.

„Na, kannste dich noch erinnern?“, fragte Bodo und zeigte auf das Ausfahrtsschild. Gerri las den Namen der Stadt, er weckte keine Erinnerungen. Bodo formte zwei Finger zu einer Pistole und steckte sie sich in den Mund.

„Ich scheiß’ auf mein Leben“, sagte er und lachte.

„Ach ja“, sagte Gerri, und dann schwiegen sie wieder. Ihm kam das entgegen, das Schweigen; er mochte Bodo nicht. Er konnte nicht einmal sagen, warum. Vielleicht, weil er ihn so leicht durchschaut hatte: die Frau, das Kind – konnte man ihm das alles ansehen? Bodo konnte. Kein gutes Zeichen, das wusste er. Not macht einen Mann leichtsinnig. Dann dachte er an sein kleines Mädchen – sie war ihm immer noch fremd, und sie hatte etwas Hinterhältiges an sich, etwas Verschlagenes. Es fiel ihm auf, wenn er sie so ansah, wie es ein Vater tun sollte.

„Wo hasten gesessen?“, fragte Bodo. Gerri sah ihn an. Bodo wirkte müde, abgekämpft, seine Finger krampften sich um das Lenkrad, die Knöchel waren schon weiß geworden.

„In Siegburg.“

Gerri räusperte sich, ihm gingen viele Dinge durch den Kopf: Kinder ab sechs Jahre zählen aus Platzgründen als Erwachsene.

„Und? Boxerbude?“

„Geht“, sagte Gerri, „aber nur Wikingerrisotto da.“

Bodo lachte. „Kenn’ ich“, sagte er, „gehste als Knochen raus.“

Gerri erinnerte sich eigentlich nur noch an den letzten Tag so richtig: Abends noch mal Umschluss, auf der Zelle mit Khaled, dem Gitterrambo. Khaled hatte er nie wieder gesehen – man hatte es sich natürlich anders versprochen. Khaled. Ein Blöff vor dem Herren. Redete ständig darüber, wie er es den geilen Hasen besorgt, wenn er erst mal wieder draußen ist. Die ersten Nächte hatte er heimlich im Bett geweint.

„Was haste an Para rausgekriegt?“, fragte Bodo.

„Um die achthundert“, sagte Gerri, „ham’ mir was abgezogen, hatte ’nen Spiegel kaputtgemacht, ganz am Anfang.“

Bodo nickte. „Die Schweine … ’n Kackspiegel.“

Gerri zuckte mit den Achseln.

„Weswegen bisse’ einjefahren?“

Gerri antwortet nicht sofort. „’n geklauter Apfel schmeckt immer besser als ’n gekaufter, oder?“, sagte er schließlich und nahm sich noch eine Zigarette. Sie schwiegen wieder, irgendwann stellte Bodo das Radio an – Popmusik und Nachrichten – und einmal, während die Fußballergebnisse durchgesagt wurden, drehte er kurz lauter. Landschaft war vorhanden, aber Gerri nahm sie nicht wahr. Die Zeit verflog. Sie hielten an einer Autobahnraststätte.

„Muss mal pissen“, sagte Bodo. Gerri stieg aus. Die Luft war kalt, er atmete tief durch.

„Noch ’ne Tass’ Kaffee? Wat meinste?“

Gerri nickte. „Ich geh’ schon mal vor“, sagte er.

Drinnen nur Lastwagenfahrer und Familien, dazwischen Männer in Anzügen, sie wirkten verloren. Es roch nach Essen, Kaffee, menschlichen Ausdünstungen, und überall gleißendes Licht. Einer der Orte, die Tag und Nacht identisch aussehen, in denen es keine Zeitrechnung gibt. Gerri suchte sich einen Platz am Fenster. Man sah aus der Panoramascheibe direkt auf die Autobahn, auf einer Anhöhe dahinter befand sich eine Ruine, die vielleicht mal eine richtige Burg gewesen sein mochte. Bodo tauchte auf, und der Moment verstrich.

„Willste jetzt ’n Kaffee?“

Gerri nickte.

„Du zahlst“, sagte Bodo und verschwand. Gerri sah ihm kurz nach. In den paar Minuten, in denen er wartete, dachte er an nichts. Er schaute aus dem Fenster, betrachtete die Ruine, die Autos. Bodo kehrte mit zwei Tassen auf einem Tablett zurück. Sie tranken und saßen sich schweigend gegenüber.

Dann war es wieder nur die Straße, das Fortkommen. Sie rauchten Zigaretten, und irgendwann später sagte Bodo: „Mach mal’s Handschuhfach auf.“

Er hatte lange keine Pistole mehr in der Hand gehabt. Sie war schwer, schwer und kalt.

Bodo nickte ihm zu. „Kannste damit umgehen?“

Gerri antwortete nicht.

„Brauchste nich’, also – normal nich’, aber kann ja immer sein … dann hauste dem Curryfresser damit eine rein. Was anderes verstehn die sowieso nich’.“ Bodo lachte. „Die stinken wie die Tiere, ich sach’s dir, da wird einem schlecht von, e-kel-haft, nach Pisse und Scheiße stinken die, is’ nich’ zum Aushalten.“ Er machte eine kurze Pause und suchte den Flachmann. „Die haben alles in Tüten, das musste dir mal reintun – den ganzen Scheiß in ’ner Plastiktüte“, sagte er und nahm einen Schluck, „und dann kommen die hier in die neue Welt, was willste dazu sagen? Die Gören, und geile Gören!, lassen ihre Muschis miauen, aber alle, da kannste für, al-le!“

Gerri nickte.

„Is’ nix mit großem Traum hier, Freiheit und so, die werden schön gefickt, die Fotzen, schön ins enge Loch, und die Kerle dürfen Teller waschen in ’nem Imbiss, für dreifuffzich die Stunde oder so, un’ nich’ mal schwarzfahren können die, die Affen“, sagte Bodo und sah ihn an, aber Gerri schwieg. Er fühlte das Metall der Waffe, glatt gerieben von der Zeit und noch von etwas anderem. Da draußen, vor ihnen, da lag das Leben, oder: Was man Leben nennt. Da waren Lichter, und die Lichter bewegten sich – auf etwas zu, von etwas weg. Und da waren Menschen. Manche von ihnen kamen an, irgendwo. Manche brachen auf. Manche waren mittendrin, so wie er. Er wusste das. Kein Vor, und kein Zurück. Mittendrin, und vielleicht eine Chance, aber das konnte man nie wissen. Das konnte einem niemand verraten. Er dachte an die belgische Schokolade. Er hatte noch nie welche gegessen. Er saß nur da mit der Pistole in der Hand und versuchte sich vorzustellen, wie belgische Schokolade wohl schmeckt. Das war schon alles.

Asche

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