Читать книгу Asche - Sven Heuchert - Страница 8
Sonnenscheinkind
ОглавлениеIch wachte auf, und da lag sie neben mir. Es war also tatsächlich kein Traum. Sie hatte die Augen offen und sah mich an.
„Du siehst traurig aus“, sagte sie, und dann spürte ich ihre Fingernägel an meinem Schwanz.
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Oh doch“, sagte ich, „klar, und das weißt du auch.“
Sie ließ meinen Schwanz los und drehte sich wieder auf die Seite. „Er wird nichts mitbekommen – falls es das ist.“
„Ja“, sagte ich, „ich weiß, dass er nichts mitbekommen wird, es ist auch alles okay.“
Dann stand ich auf und ließ sie so liegen.
Sie nannte mich Sonnenscheinkind, weil ich eben das für sie war – ein gottverdammter Sonnenschein. Ich konnte das verstehen. Anton hatte wieder mit dem Trinken angefangen, und das Einzige, was sie noch zusammenhielt, war die Arbeit in der Fabrik. Das bisschen Geld. Von Liebe und so war da keine Rede mehr. Ich wollte das nicht, anfangs. Anton war ein guter Freund. Aber sie hatte diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck. Kniff ihre Augen zusammen und spitzte die Lippen, und in dieser einen Sommernacht, als ich mit Anton draußen im Hof gesessen und Dosenbier getrunken habe, da hat sie mich ganz flüchtig auf den Mund geküsst und geflüstert: „Nicht hier.“ So, als sei ich da etwas Schuld. Natürlich war Anton gerade pissen – also, er hat es nicht mitbekommen, und ich habe auch nichts gesagt und mir meinen Teil gedacht. Dann kam Karneval. Es passierte gleich nach dem Rosenmontagszug. Anton war noch im Kapellchen, die Happy Hour ausnutzen. Wir trieben es direkt auf dem Parkplatz hinter der Remise. Klebten ineinander zwischen Parkscheinautomaten und meinem alten Ford. Es dauerte nur ein paar Minuten, aber wie das eben so ist – man denkt, man ist da einem neuen Geheimnis auf der Spur, dabei ist es doch wieder nur das alte Rein-Raus-Spiel. Manchmal braucht man halt seine Zeit, um dahinter zu kommen.
Ich setzte Kaffeewasser auf und suchte meine Zigaretten. Das Schlafzimmer lag nebenan und die Tür stand weit offen, und dann sprach sie wieder mit sich selbst, immer in Polnisch, so, dass ich kein Wort verstand. Mir war es gleichgültig. Die Küche war unaufgeräumt, und ich fand keine Zigaretten, obwohl ich mir sicher war, dass da noch irgendwo eine Schachtel sein musste. Ich sah aus dem Fenster. Es wurde dunkel, und ich dachte darüber nach, mir einfach neue zu besorgen. Ich hatte es nicht so mit Entscheidungen, aber ich wollte rauchen, also nahm ich das letzte Kleingeld, zog mir eine Hose an und machte mich auf zum Kiosk.
Auf der Straße roch es nach Pansensuppe und gegrilltem Fleisch, und ich blieb für einen Moment stehen und schloss die Augen. Das war etwas Gutes, dieser Geruch. Als ich meine Augen wieder öffnete, stand mein Vermieter vor mir, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
„Ja“, sagte ich, „ich weiß.“
„Sie sind fällig.“
„Ich weiß“, wiederholte ich, und er schüttelte den Kopf.
„Seit drei Monaten.“
„Sie kriegen ihr Geld.“
„Das haben Sie letzten Monat auch schon gesagt, und den Monat davor auch.“
„Was soll ich tun?“
Er atmete geräuschvoll aus. „Das ist nicht meine Sache.“
Für einen langen Moment sahen wir uns in die Augen, aber da war keine Gnade zu erwarten. Ich konnte das verstehen. „Bis Freitag“, sagte er, „sonst sind Sie nächste Woche draußen, ist das klar?“
Ich nickte.
„Ist das angekommen?“, fragte er, und ich antwortete: „Ist angekommen, ja.“
Dann verschwand er wieder in der Dunkelheit.
Der Kiosk lag gleich an der Straßenecke – es war einer dieser neuen, die rund um die Uhr geöffnet haben. So etwas gab es damals noch nicht so oft, vor allen Dingen nicht in Kleinstädten, und ich lebte sozusagen von dem Kram, den sie da verkauften. Billigem Wein, Zigaretten, Süßigkeiten. Der Typ, dem der Kiosk gehörte, war ein junger Aserbaidschaner, der unter schweren Depressionen litt und deswegen Psychopharmaka nehmen musste. Manchmal stand auch sein Vater hinter dem Verkaufstresen. Ein Greis, aber er war mir lieber, denn er versuchte nie, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Außerdem war mir der Sohn unheimlich. Dieses aufgedunsene, kalkweiße Gesicht. Die abrasierten Haare. Und dann die herausstehenden Augen. Ich wusste, das kam von den Medikamenten, doch da war noch etwas anderes an ihm, etwas Unberechenbares. Schlussendlich war er der Einzige, der mir Kredit gab.
Der junge Aserbaidschaner saß auf einer Holzkiste vor der Tür, auf einem umgedrehten Pappkarton ein Glas mit Essiggurken und eine Flasche Wodka. Er trank den Wodka aus einem Plastikbecher.
„Kommt der Verbrecher“, sagte er und grinste. Ich ging einfach an ihm vorbei in den Laden.
„Wie hast du das gemacht? So richtig mit Pistole, peng peng und alle Hände hoch?“, sagte er und kam mir hinterher. Ich sah auf die Kühltruhe mit dem Bier. Ich hatte schon lange kein Bier mehr gehabt.
„Eine Schachtel Marlboro“, sagte ich.
Er griff in das Regal hinter sich und legte die Schachtel auf den Tresen.
„Peng peng, Hände hoch!“, sagte er und grinste wieder. Er hatte seine Finger zu einer Pistole geformt und hielt sie mir unter die Nase. Ich sah auf seine Finger, aber antwortete nicht. Natürlich redeten die Leute, und sie kannten auch mein Gesicht. So war es eben, es ließ sich nicht ändern. Kurz, ganz kurz nur, dachte ich darüber nach, es diesem Hurensohn lang und dreckig zu besorgen, ihm die Flasche Wodka durch die Fresse zu ziehen und ihn dann das Gurkenwasser saufen zu lassen – aber, wie bereits gesagt, wirklich nur für einen kurzen Augenblick. Irgendwie erinnerte er mich an diesen behinderten Jungen, der bei uns im Viertel aufgewachsen ist, und den wir nur in Ruhe gelassen haben, weil seine Mutter uns ab und an mal ranließ. Natürlich haben wir sie nicht gefickt. Wir waren elf, vielleicht zwölf, aber im Sommer, immer wenn sie sich auf die kühlen Betonbänke hinter den Wäscheleinen legte, durften wir ihr den Finger reinschieben.
Nein, das stimmt nicht, das mit dem behinderten Jungen. Den haben wir natürlich auch verdroschen. Gefingert haben wir seine Mutter ja so oder so.
„Das Bier“, sagte ich, „was kostet das?“
„Erzähl mir“, antwortete er, „dann kriegst du so.“
„Was soll ich dir erzählen?“
„Peng peng“, er formte wieder die Pistole mit seinen Fingern.
„Vergiss das Bier“, sagte ich, und er sah mich ganz enttäuscht an.
„Wo hast du da im Knast gesessen?“
„Weit weg.“ Ich legte das Kleingeld in die Schale.
„Hast du dich nicht gewaschen da, konntest dich nich’ nach Seife bücken, was?“, sagte er und lachte. Ich dachte an den behinderten Jungen und die Möse seiner Mutter. Damals war das noch ein Geheimnis: Man steckte seinen Finger da rein und hoffte, dass irgendetwas passieren würde. Später dann steckte man seinen Schwanz rein und hoffte auf so etwas wie Erlösung.
„Gib mir doch ’ne Flasche Bier“, sagte ich, und er grinste. Ich wusste, er will Arschfickerstorys und irgendetwas mit Rasierklingen hören, diesen Knaststandard, aber damit konnte ich nicht dienen.
„Ich hab’ einem das Auge rausgeschlagen“, log ich, „is’ auf ’nem Hofgang passiert. Der wollte mich dumm anwichsen, also hab’ ich mir den ausgeguckt und ihm paar draufgegeben. Is’ sofort runter, und ich den gestiefelt, und da war’s Auge draußen.“
Er sah mich an. „Was hat der gewollt?“
Ich formte meine Finger zu einer Pistole. „Peng peng.“
Diesmal grinste er nicht.
„Das Bier“, sagte ich, und er kniff seine Augen zusammen und holte eine Flasche aus der Kühltruhe.
„Was war mit dem Auge?“
„Nächstes Mal“, sagte ich und ging raus. Ich hatte das Bier und ich hatte eine Schachtel Zigaretten.
Sie saß in der Küche mit einer Tasse Kaffee. Sie rauchte. Ich fragte nicht nach.
„Fängst du wieder’s Saufen an, ja?“
„Nein“, sagte ich, „nur dieses eine Bier.“
„Hat Anton auch gesagt.“
„Ich bin aber nicht Anton.“
Dann öffnete ich das Bier mit einem Löffelstiel und zündete mir auch eine Zigarette an. Sie sah gut aus, da konnte man nichts sagen. Bis auf diese alberne Tätowierung vielleicht, ansonsten … . Das Ding war, dass sie keine Eigenschaften hatte, nichts, was sie ausmachte. Wenn sie die Beine um einen schlang, dann fühlte sich das gut an, aber das war auch schon alles. Vielleicht lag es daran, dass sie ein paar Jahre jünger war, ich weiß es nicht. Man konnte mit ihr nicht reden, also – reden im eigentlichen Sinn, und ich denke, Anton hat das ganz genauso empfunden. Er hat nur etwas länger dafür gebraucht. Es blieb nur schweigen oder vögeln.
Das Bier schmeckte gut. Ich spürte die Wirkung sofort, dieses kühle Kribbeln hinter den Augen und im Mund, sensationell. Sie sah mich abschätzig an, als ich die Flasche absetzte, und das konnte ich gut verstehen, denn Anton hatte sie oft genug nicht wegen einer anderen Möse, sondern wegen einer Flasche versetzt. Mir war es egal. Sie war eine von den Sachen, die man beginnt, und von denen man schon weiß, dass sie ungut enden werden. Man macht es trotzdem, man riskiert sein Glück immer wieder. Und wenn es nur für ein paar schöne Stunden ist.
„Was ist mit Arbeit“, fragte sie dann.
„Geht dich das was an?“
„Ich glaub’, ich gehe“, sagte sie und klang ein klein wenig beleidigt. Ich sagte nichts. Sie drückte ihre Zigarette aus, ging ins Bad und machte sich frisch. Ihre Schicht begann in einer Stunde.
Am nächsten Morgen hatte ich ein Vorstellungsgespräch in einem Baumarkt. Der Baumarkt lag direkt im Industriegebiet die Straße runter, es ging um einen Job an der Säge. Ich rasierte mich, duschte, putzte mir die Zähne, rasierte mich noch einmal, trank eine Tasse Kaffee und zog meine besten Klamotten an. Ich hatte noch nie an einer Säge gearbeitet, und ehrlich gesagt, machte mir der Gedanke daran Angst. Es gab allerdings auch sonst nicht viel, was ich wirklich gut konnte. Ich dachte für eine Zeit lang, ich sei gut darin, Banken zu überfallen. Dreimal hat es vorzüglich geklappt, das machte mich euphorisch. Immer in Provinznestern, wo sich die Kassierer direkt in die Hose scheißen, weil sie in ihrem Leben noch nie eine scharfe Waffe gesehen haben. Die sind dann gar nicht fähig, etwas zu sagen oder zu widersprechen, die stopfen einfach brav die Scheine in die Tüte. Die können nur so reagieren. Beim letzten Mal war’s wieder so ein Nest, und ich hatte auch alles gut ausgeguckt, Fluchtroute, ein Platz, wo ich Klamotten und Fahrzeug wechseln konnte – nur wusste ich nicht, dass diese Bank in den letzten fünf Jahren bereits dreimal überfallen worden war. Das ging total an mir vorbei. Dementsprechend waren die also ziemlich abgewichst. Beim Rausgehen sehe ich noch diesen kleinen schwarzen Strich an der Tür, der die einsachtzig markiert, und denke, wer braucht das hier?, und dann hatten mich die Bullen schneller, als ich gucken konnte.
Ich ging also die Straße entlang und an diesem Altenheim vorbei. Das Altenheim lag direkt hinter einer Bushaltestelle. In dem kleinen Vorgarten des Heims standen eine Menge Bänke, jede gespendet von einer anderen Partei, den Roten, den Schwarzen, den Grünen, und auf den Bänken saßen die alten Menschen und glotzten. Manche saßen auch in ihren Rollstühlen da, trugen Kappen und Sonnenbrillen. Glotzen taten sie natürlich trotzdem. Einer war mir ganz besonders aufgefallen – er saß auch in einem Rollstuhl, allerdings ganz weit vorne, direkt an der Auffahrt. Er trug keine Sonnenbrille, dafür rauchte er Kette. Er rauchte meine Marke. Außerdem hatte er keine Beine mehr. Er sah mich schon von weitem kommen. Ich denke immer noch, dass er mich sofort erkannt hat, aber er ließ sich wenigstens nichts anmerken. Stattdessen spuckte er mir vor die Füße und sagte: „Siehst aus, als würdste Arbeit suchen.“
Zuerst beachtete ich ihn nicht und ging einfach weiter. Ein Mann ohne Beine. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals einen Mann ohne Beine gesehen zu haben, also in der Wirklichkeit. Es fühlte sich aber dann doch seltsam an – dass er, dieser Mann ohne Beine, es mir so direkt angesehen hatte, das mit der Arbeit. Die geschmeidigen Zeiten sind vorbei, wenn man es dir ansieht – Löcher in den Taschen und so, da passt auch jeder der altbekannten Sprüche wie die Faust aufs Auge. Ohne Geld is’ alles nix. Da hat man gleich wieder seinen eigenen Vater im Ohr, das Geplärre aus dem Wohnzimmer spät nachts wenn man besoffen nach Hause kam, und Vatter auf dem Sofa mit Pantoffeln an, predigte einem ehrliche Lohnarbeit, ein Auskommen. Der Traum von der eigenen Drei-Zimmer-Wohnung, also Küche, Diele, Bad, und alles irgendwo im Grünen, schön ruhig, in Lohmar am besten, oder in Sankt Augustin, in einem dieser Betonbungalows mit Blick auf massa oder Kaufland. Man muss was aus seinem Leben machen. Ja, und zwar schnellstmöglich, würd’ ich sagen, und dabei hilft auch die CZ 75, die man dem Kassierer in die Schnauze wuchtet.
Ich überquerte die Straße, und dann begann das Industriegebiet. Eins ist wie das andere, schlussendlich der Baumarkt. Da war diese Vorstellung in meinem Kopf, dieser kleine Film, denn ich wusste einfach genau, wie es laufen würde. Einer der Personalchefs, das war in einer Großküche, bei der ich mich als Aushilfe beworben hatte, der hat mich sage und schreibe eine geschlagene Stunde über den Knast ausgequetscht, wie es da so sei und überhaupt, wie es sich so lebe, als Verbrecher. Zuerst dachte ich, der interessiere sich tatsächlich für meine Biografie, der habe so etwas wie Verständnis aufgebracht, aber eigentlich wollte der auch nur ein paar gute Geschichten hören. Arschfickerstorys, oder was mit Rasierklingen. Eingestellt hat er mich natürlich nicht. Und so zieht sich das wie ein roter Faden durch mein Leben n. d. K., nach dem Knast. Das ist eine neue Zeitrechnung, nichts ist mehr wie früher. Ob sich das gelohnt habe, mit den Überfällen, wollte dieser Typ im Anzug wissen. Saß da hinter seinem Schreibtisch aus poliertem Eichenholz und grinste feist. Hat sich gelohnt, habe ich geantwortet, weil es stimmt. Das ist doch auch ganz einfach, wenn man mal drüber nachdenkt – ich meine, nicht so im Vorbeigehen, sondern wenn man sich richtig auf den Arsch setzt und dann, in aller Ruhe sozusagen, nachdenkt. Das ganze Gequatsche von wegen Lohnarbeit und ehrlich sein, da muss ich immer drüber lachen. Eine Bank überfällst du in weniger als fünf Minuten, und wenn du gut bist, nimmst du ein paar Zehntausend mit. Was machst du mit dem Zaster? Du mietest keine 3ZKDB, sondern eine Suite in einem noblen Hotel an der Riviera. Kaufst dir einen Bock mit mächtig Pferdestärken drin, siehst was von der Welt, leistest dir eine warme Brise für deine Nasenscheidewände oder die Hure mit den blonden Haaren, die sich Escort nennt und für eine Stunde zweihundertfünfzig Schleifen verlangt – so was. Man erkauft sich eine gute Zeit, denn irgendwann sind es nur noch Erinnerungen, die du übrig hast, wenn du mal auf der Bahre liegst. Deine 3ZKDB wird es da nicht mehr geben – oder aber es gibt sie doch noch, nur hängt dann jemand anders seine Fotos an die Wand. Jemand, der deinen Namen nie gehört hat und ihn auch nie hören wird. Das ist alles eine Frage der Perspektive.
Ich bin dann nie hingegangen, in diesen Baumarkt, und zu diesem Job an der Säge. Das ist nichts für dich, dachte ich, und vielleicht legst du dein Glück noch mal in die Waagschale, hoffst auf was Besseres.
Der Mann ohne Beine war immer noch da. Er wartete in seinem Rollstuhl, ganz am Rande der Auffahrt, als sei da eine natürliche Grenze. Vielleicht war sie tatsächlich da, diese Grenze, und nur er konnte sie sehen.
„War nix, wa?“
Ich blieb stehen und sah ihn an. An seinem Gesicht konnte man es ablesen, mit Sicherheit, da hatte das Schicksal sich nichts nehmen lassen. Trotzdem war da etwas in seinen Augen, sie waren nicht tot wie bei den meisten.
„Hasse ’nen Lappen?“, fragte er.
„Geht dich das was an?“
Er lächelte. „In der Kaschemme dahinten“, sagte er und sah in Richtung Industriegebiet, „da stellen sie wieder ein.“
Ich nickte. „Hab’ ich von gehört.“
„Is’ aber nix für dich, wa?“
„Nein“, sagte ich.
„Hasse jetzt ’nen Lappen?“
„Warum willst du das wissen, alter Mann?“
„Ich bin nich’ alt“, sagte er, „ich hab’ nur keine Beine mehr.“
Ich grinste, und er grinste auch.
„Vielleicht bräuchte ich da wen, der mich fährt.“
„Fährt?“, fragte ich.
„Bisse’ taub?“
Ich schüttelte den Kopf. „Hab’ keine Kiste.“
„Macht nichts“, sagte er, „ich hab’ eine, ’nen richtig heißen Schlitten.“
Er sah mich dabei so seltsam an, als er das mit dem Auto sagte, und ich bekam eine Ahnung, wie das mit den Beinen gewesen sein könnte.
Ich nickte in Richtung Altenheim. „Was is’ mit den Zivis und den anderen da – die wollen deine Kohle nich’ oder was?“
„Ach“, sagte er, „die gehen mir alle auf den Sack – kleine Pisser, die nur rumnölen.“ Dann beugte er sich nach vorne. „Die fahren mich auch nich’ dahin, wo ich hin will.“
Ich besaß Anstand und fragte nicht nach.
„Was zahlste denn?“
„Für so einen wie dich jenuch.“
„Ich bräuchte aber zwei Blaue sofort, das is’ die Sache.“
„Zwei Blaue? Meine Fresse!“, sagte er und sah mich an, „hätteste die in der Kaschemme da auch als Vorschuss jekriecht?“
„Zahlen oder rollen“, sagte ich.
„Arschloch“, lachte er und zündete sich eine Zigarette an. „Ab wann haste Zeit?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Sofort.“
Er spuckte wieder auf den Boden, und für einen Moment sah ich seine Zunge, es war eine lange, schwarze Zunge.
„Ich hab’ die Schlüssel hier“, sagte er und klopfte auf das leere Stück der Sitzfläche, wo sonst seine Beine gewesen wären. Es war ein seltsamer Augenblick, da hinzugreifen. Zuerst dachte ich, man spüre etwas, aber natürlich spürt man gar nichts. Das war nur kaltes Metall, mehr nicht.
„Wir müssen zur Garage“, sagte er, „ist dahinten.“
Dann sah er die Straße runter, und ich sah auch die Straße runter, und wir beide wussten, da wartete etwas, vielleicht eine Zukunft.
„Die zwei Blauen“, sagte ich, „das war kein Witz oder so.“
Er lächelte. „Davonlaufen kann ich ja nich’“, sagte er, „du kriegst die Kohle schon, piss dir mal nich’ ins Hemd.“
„Rettest mir den Arsch damit.“
„Musst mich schieben“, sagte er dann, und das tat ich auch. Ich schob den Rollstuhl vor mir her, und in dem Rollstuhl der Mann ohne Beine, der aber ein Auto besaß.
Er hatte eine Garage in einer Seitenstraße des Industriegebiets angemietet, da wo früher das Lager von Siepmann war, und die Garage war nicht mehr als ein Verhau, es war wirklich traurig anzusehen. Ich war lange nicht mehr Auto gefahren, und mit den Gedanken bei Schaltknüppel und Gaspedal schloss ich die Garage auf.
„123er“, sagte er, „Coupé, und noch der Originallack, richtig schniekes Ding.“
Und er hatte Recht. Es war ein schönes Auto.
„Mit ’nem Benz hätt’ ich nich’ gerechnet.“
„Eher mit ’nem Opel Admiral oder was?“
Wir lachten.
„Is’ von 77“, sagte er dann, „als ich das Teil gekauft habe, hatte ich noch Beine.“
„Scheiße“, sagte ich, es rutschte mir so raus, und er pfiff leise und sagte: „Das kannste laut sagen.“
„Wie machen wir das jetzt?“ Ich hatte keine Ahnung.
„Rolli passt hinten rein“, sagte er, dann öffnete er die Beifahrertür und zog sich selbst auf den Sitz.
„Was is’?“, fragte er, „was glotzt du so?“
„Schon gut.“
Ich packte den Rollstuhl zusammen und verstaute ihn im Kofferraum.
Das Lenkrad war kalt, trotzdem fühlte es sich gut an. Wir saßen einen Augenblick lang einfach so da und sahen auf die Armaturen. Dann richtete ich den Sitz und die Spiegel. Es war wirklich ein altes Auto, alles funktionierte noch mechanisch, man musste Kraft aufwenden.
„Wohin?“, fragte ich, und er zuckte mit den Achseln. „Fahr einfach los.“
Ich startete den Motor – er sprang problemlos an. Nachdem ich mich in den städtischen Verkehr eingefädelt hatte, sagte er: „Ich hab’ Hunger.“
„Auf was?“
„Fleisch“, sagte er, „die Wichser in dem Heim da, die servieren dir nur verkochtes Zeug, beschissenes Irrenhaus.“
„Ich kenn’ ’nen Laden, da machen sie gute Burger, wirklich, die besten.“
„Ja?“, sagte er, „was is’ das für ’n Laden?“
„Morabitos“, sagte ich. Es waren die besten Burger.
„Is’ das nich’ der Laden von den Kanaken?“
„Es sind die besten Burger.“
„Jaja, schon gut“, sagte er und zündete sich eine neue Zigarette an. „Piss dir nich’ ins Hemd“
„Tu ich schon nich’.“
„Wie heißt du überhaupt?“
Ich sah ihn an. „Warum willst du das wissen?“
„Stell dich mal nich’ so an. Außerdem weiß ich, wie du heißt.“
„Gibt fast keinen, der das nicht weiß. Zumindest nich’ hier.“
„Hätteste nich’ nach Bora Bora gehen können?“
„Wo soll das sein?“
„Du kennst Bora Bora nich’?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ach“, sagte er, „scheißegal.“
Dann schwiegen wir. Der Wagen ließ sich verdammt gut fahren. Es war nur wenig Verkehr, wir waren schnell da. Ich fand einen Parkplatz direkt vor dem Laden, und als ich den Motor abstellte, kam die Sonne raus und brachte den Lack auf der Haube zum Gleißen. Es war nur Licht, das von einem Stück Blech reflektierte, aber wir starrten darauf, als sei es eine verdammte Erscheinung.
Wir starrten lange darauf.
Dann sagte er: „Ich hoffe, es sind gute Burger.“
Das Morabitos war zu dieser Zeit noch leer. Hinter dem Tresen ein Junge, dessen Bart wie ans Kinn geklebtes Schamhaar aussah. Er sah uns kommen, und er hatte diesen Blick. Ich kannte diese Sorte von Blick, und der Mann ohne Beine kannte ihn auch.
„Was kannst du empfehlen?“
Ich studierte den Aushang.
„Morabitos Royal.“
Er nickte. „Nehm’ ich auch.“
Der Junge fragte uns, was wir trinken möchten, aber er konnte seinen Blick nicht von dem Rollstuhl nehmen.
„Gibt es Bier?“
Der Junge schüttelte den Kopf, und dann murmelte der Mann ohne Beine etwas, das zum Glück niemand so richtig verstand.
„Bitte?“, fragte der Junge, sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und ich sagte schnell: „Zwei Wasser.“
Dann setzten wir uns an das hintere Ende des Ladens.
„Bist du oft hier?“
„Es geht“, sagte ich.
Er lächelte. „Hasse’ noch was von der Patte?“ Man sah ihm an, dass er genau Bescheid wusste.
„Ach was.“
„Alles verpulvert?“
Ich nickte.
„Guter Junge.“
„Geht so“, sagte ich, „wär ich so gut, wär ich nicht hier.“
„Manchmal“, sagte er und grinste, „fasst man eben in die Scheiße.“
Der Junge kam und brachte das Wasser.
„Wie lange haste abgerissen?“
Ich nahm einen Schluck, hob meine Hand und spreizte die Finger.
„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“
„Kann man so sehen“, sagte ich, „hat mich aber nie interessiert. Politik und so, sollen mal die anderen machen. Mir geht es nur um meinen eigenen Arsch.“
„Mehr interessiert dich nicht?“
Ich schüttelte den Kopf, dann kam der Junge und brachte die Burger. Es waren gute Burger – Fleisch, Käse, Tomaten, alles sah frisch aus. Er nahm einen Bissen und schloss die Augen.
„Du hattest Recht“, sagte er und tunkte eine Fritte in die Sauce. Wir aßen langsam. Manchmal braucht ein Mann nicht mehr als eine Portion Fleisch.
Er wollte zu keiner Nutte oder sonst was. Darauf war er nicht aus. Er war ein seltsamer Mann.
„Hast du Familie?“
„Nein“, sagte ich, „nicht hier.“
„Wo dann?“
„Hab noch einen Bruder in Miami.“
„Da läuft das mit den Banken besser?“
„Er verkauft Gebrauchtwagen.“
„Ja, das ist auch gut“, sagte er und stopfte sich den Rest des Burgers in den Mund.
„Und du sitzt hier in diesem Kaff.“
„Ich sitze in diesem Kaff und warte.“
„Auf was genau?“, fragte er und schob den Teller von sich.
„Was hast du sonst noch vor?“
Er lächelte, und hinter diesem Lächeln lag etwas. Ich wusste, er würde mich nie fragen. Er wollte keine Storys hören. Darum ging es ihm nicht. Er wusste, dass auch ich ihn nie fragen würde. Er hatte seine Geschichte zu oft erzählt. Das mit den Beinen und alles. Er vertraute darauf, dass darüber geschwiegen wurde, und dieses Vertrauen machte ihn frei. Er wollte kein Mitleid und keine Heuchler. Das hatte ich begriffen. Danach fuhren wir den ganzen Nachmittag durch die Gegend, und am Ende parkte ich den Wagen in der Garage und er gab mir die Zweihundert. Er hatte das Geld in seiner Hemdtasche, es war ein richtiges Bündel Scheine. Ich versuchte, es nicht zu sehr anzustarren. Er verlor kein Wort darüber. Er verabschiedete sich auch nicht oder sonst irgendetwas. Er rollte einfach davon und verschwand. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Die Zweihundert gab ich dem Vermieter, aber er schmiss mich natürlich trotzdem raus, den Rest blieb ich ihm schuldig. Das mit dem Mädchen war auch bald vorbei – Anton und sie zogen weiter, in eine andere Stadt. Jeder blieb für sich.
Ich war neulich noch mal da, der Kiosk ist jetzt ein Blumengeschäft, die Bushaltestelle verlegt worden. Manchmal denke ich noch an den Mann ohne Beine, aber dann ist es, als sei es gar nicht wirklich passiert. Als sei das etwas, das mir jemand anders erzählt hat, und das ich dann jemand anderem erzähle. Es ist seltsam, aber so ist es.