Читать книгу Formen und Funktionen des ciceronianischen Prosarhythmus - Sven Komenda - Страница 7
Оглавление1 Allgemeine Einführung
1.1 Die Untersuchung des „Prosarhythmus“
Da Arbeiten zum Prosarhythmus wohl doch noch immer eine relative Randerscheinung im Feld der Klassischen Philologie darstellen (vor allem dann, wenn sie den hier gewählten Ansatz verfolgen), möchten wir zunächst umreißen, was man – in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der bisherigen Forschung – als den lateinischen Prosarhythmus bezeichnen könnte. Gemeint ist eine bewusste und planmäßige prosodische Ausgestaltung (etwa einer Rede) vermittels regelmäßig wiederkehrender Ketten phonetischer Merkmale mit einer ästhetischen Dimension. Es stellt sich allerdings die Frage, ob in einem Definitionsversuch zur ästhetischen nicht auch eine inhaltliche Dimension sogar zwingend hinzugefügt werden muss.
Um diese Frage zu klären, versuchen wir, eine zusammenhängende Betrachtung derjenigen Faktoren durchzuführen, dank welcher ein Text nach unserer Interpretation der Anweisungen Ciceros als rhythmisiert oder „numerosus“ gelten kann:5 des Prosarhythmus im engeren Sinne (des „numerus“, dessen eigentliche Form ebenso Gegenstand dieser Arbeit sein wird), sowie der „concinnitas“ und der „compositio“; all das auf Basis einer sogenannten „kolometrischen“ Gliederung, auf deren Beschaffenheit wir gleichfalls noch eingehen werden. Es ist zu prüfen, ob auf dieser Grundlage Anhaltspunkte für eine Interpretation gewonnen werden können.
Diese Zielsetzung rührt von Wilhelm BLÜMERS Arbeiten zum konkreten Gebrauch des Prosarhythmus bei Leo dem Großen her und ist damit recht untypisch für die bisherigen Forschungsarbeiten zum Prosarhythmus. Mit „untypisch“ meinen wir das Folgende: In unserem Fach bildet die Erforschung des Prosarhythmus, wie bereits gesagt, ein randständiges Betätigungsfeld. Neben allgemeineren Erklärungsmustern, welche etwa mit einem starken Schwerpunkt zumindest der Klassischen Philologie des deutschsprachigen Raumes auf dezidiert literaturwissenschaftlichen Feldern und damit einem gewissen Desinteresse an den hier diskutierten, teils in die Linguistik hineinreichenden Fragen zusammenhängen, muss allerdings auch konstatiert werden, dass die Ergebnisse der bisherigen Forschung nicht völlig, aber doch wohl viel zu oft rein technisch-statistischer Natur gewesen sind und über eine Dokumentation von relevanten Lautmustern, welche im Falle Ciceros häufig sogar auf bloße Quantitätenmuster beschränkt waren, nicht hinauskamen; obwohl bereits dies keine geringe Leistung darstellt, wird man zurecht danach fragen dürfen, wo hier die praktische Relevanz liegt.6 Interpretierende Forschungsansätze, welche für sich den Anspruch erhoben haben, einen wie auch immer gearteten Prosarhythmus gewissermaßen nicht nur zählen, sondern seinen Gebrauch hinterfragen und, wenn möglich, an Ort und Stelle erklären zu wollen, sind leider noch die Ausnahme. Daher rührt unser Versuch, seine Benutzung im Verlauf eines close reading zu interpretieren.
Das setzt die Klärung einiger wichtiger Teilfragen voraus; allein, welche lautliche Beschaffenheit oder welche Folge phonetischer Merkmale nun als „Prosarhythmus“ zu bezeichnen ist, wird man in vielen Punkten als strittig bezeichnen und weitergehend konstatieren müssen, dass im Falle Ciceros bisher keine im vollen Umfang zufriedenstellende Heuristik durchgeführt worden ist. Unser System der Notation, welches auf den Erfahrungen mit späteren Sprachstufen des Lateinischen beruht und das wir unserer Messung zugrunde legen wollen, werden wir im Einzelnen in Kapitel 2.1 besprechen. Ein Unterschied zu den meisten bisherigen Ansätzen zur Untersuchung des Prosarhythmus Ciceros liegt nämlich in der noch zu prüfenden Vorannahme, dass man bereits in seinem Fall von einer Koinzidenzrhythmik7 ausgehen muss, d. h. dass neben den Vokalquantitäten der Wortakzent ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Konstitution des Prosarhythmus gewesen ist. Dementsprechend haben wir uns auch der Aufgabe angenommen, zu überprüfen, ob ein solches Klauselnotationssystem, welches das Akzentmuster als vorrangiges Merkmal zu Kategorisierung und Abgrenzung von Klauseln begreift (in Form einer Art Symbiose von Akzenten und Quantitäten)8 mit einem Erkenntnisgewinn auf Cicero angewendet werden kann.9
In diesem Zusammenhang werden auch etwaige durch eine prosarhythmische Analyse nahegelegte Organisationsmuster besprochen werden, welche wir in Anlehnung an ZIELINSKI und STRÄTERHOFF auch hier im Kontext des Prosarhythmus als „Responsionen“10 bezeichnen. Diese sind unserem Anliegen entsprechend ebenfalls daraufhin zu untersuchen, ob ein inhaltsgetragener und/oder strukturgebender Gebrauch vorliegt.
Einen großen Stellenwert muss man ggf. auch allen Erscheinungsformen der sogenannten Konzinnität oder „concinnitas“ zugestehen, auf deren Form und Funktion wir ebenso zu sprechen kommen werden. Ihr Bezug zu den sogenannten „Kola“ und zum Prosarhythmus ist bisher unseres Erachtens noch nicht deutlich genug gesehen worden. Darüber hinaus muss ebenso einiges zum Verhältnis der Klausel und ihrer Organisationsformen zur Konzinnität gesagt werden, da hier eine gewisse Verwandtschaft zu bestehen scheint.
Ferner ist der Begriff des „Kolons“, welches, wie wir noch besprechen werden, eine grundlegende Einheit bei der prosodischen Gliederung ciceronianischer Prosa ist, trotz eingehender Untersuchungen von Seiten der lateinischen und griechischen Sprachwissenschaft in neueren Arbeiten zum Prosarhythmus stellenweise ohne jede theoretische Reflexion benutzt worden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese grosso modo versartigen, ggf. entsprechend rezitierten Kleinsteinheiten mit einer möglichst großen Genauigkeit bestimmt werden müssen, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, wenn man bedenkt, dass die sog. „Klauseln“ gerade am Kolonschluss zu finden sind. Bloße am Inhalt orientierte Sprachintuition, welche uns aufgrund des Vorkommens der gleichen Erscheinungen in den modernen Sprachen11 bis zu einem gewissen Grad bei der Abgrenzung dieser Einheiten tatsächlich unterstützt, kann und darf nicht das einzige Kriterium dieses Arbeitsschrittes, d. h. der „kolometrischen“ Textgliederung, bleiben.
Neben die Besprechung dieses Problems reihen sich weitere spezifische Fragestellungen, welche die Phänomene der Elision und Aphärese betreffen, der Pro- und Enklise oder das etwaige Vorkommen von Nebenakzenten. Diese zuletzt genannten Punkte haben Einfluss auf die Erfassung der für uns relevanten Lautmuster und lassen sich leider nicht immer zweifelsfrei klären. Dennoch macht ihre hohe Frequenz in unserem Korpus eine Entscheidung in diesem Punkt unabdinglich. Wie im Falle von BLÜMER lässt sich hier aber ein Argument aus den Klauseln selbst ableiten,12 wenngleich es sich in unserem Fall auf ihre etwaigen Organisationsformen stützen wird.
Um diese einleitenden Erwägungen zusammenzufassen: Den etwaigen Gebrauch der sogenannten Klauseln des Koinzidenzrhythmus werden wir anhand einer korpusbasierten Analyse durch ein close reading untersuchen. Wir besprechen dabei das ggf. planmäßige Auftreten von Klauseln vor allem auf Wortgruppen- und Periodenebene und stellenweise darüber hinaus. Auch stellen wir die Frage, ob in der ciceronianischen Periode bevorzugte Kollokationen bestimmter Klauseln gegeben sind, welche ihrerseits einem konkreten Zweck dienen, was für uns vor allem bedeutet, dass sie inhaltsgetragen sind.13 Davor sind wie angedeutet einige theoretische Fragen zu erörtern.
Besprochen werden (nach einer Voruntersuchung, welche sich auf die ersten Perioden der 4. Catilinarie bezieht) in Auszügen von je etwas mehr als 300 sogenannter Kola, im Sinne eines chronologisch und inhaltlich repräsentativen Querschnittes die Rede Pro Quinctio (81 v. Chr.), die zweite Rede De lege agraria (63 v. Chr.) und die vierzehnte und damit letzte Philippische Rede (43 v. Chr.).14
1.2 Prosarhythmus und Textinterpretation
Da aber nun einmal die primär statistische Herangehensweise die bisherige Prosarhythmusforschung eindeutig dominiert, scheint nach der Ankündigung unseres Vorgehens eine eingehendere Begründung geboten; auch möchten wir uns zu einigen der besagten Verfahren positionieren. Eine überblicksartige Aufbereitung der relevanten Forschungsarbeiten wurde bis dato allerdings schon mehrfach unternommen,15 sodass wir davon nicht gänzlich abrücken, aber gewisse Schwerpunkte setzen möchten.
Es ist zunächst keine neuartige Feststellung, dass im bisherigen Forschungsverlauf selbstverständlich Analysekriterien im Sinne statistischer Argumente erarbeitet wurden, welche über präferierte Formen der prosarhythmischen Ausgestaltung Auskunft geben sollten. Es zeigt sich dennoch, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, die Vielzahl der in solchen Arbeiten diskutierten „rhythmischen“ Schlüsse für einen qualitativ-interpretierenden Ansatz zu adaptieren. Die folgenden Beispiele der Arbeiten FRAENKELS, KOSTERS und STRÄTERHOFFS stehen auf halbem Wege zwischen den bezeichneten Ansätzen und einem wirklich qualitativ-interpretierenden Vorgehen und begehen unserer Meinung nach den Fehler, keine wirklich überprüfbare und leider sogar keine von reiner Willkür freie Form der Klauselnotation zu verwenden.
STRÄTERHOFF hat den zumindest ähnlichen Anspruch eines den Prosarhythmus Kolon für Kolon interpretierenden Vorgehens an ihre Dissertation gestellt.16 Da ihr Ansatz (nach demjenigen BLÜMERS) unserer Arbeit wohl am nächsten kommt, möchten wir nun zuerst auf sie zu sprechen kommen. STRÄTERHOFFS Vorgehen besteht darin, den lateinischen Text nach einer an FRAENKELS Prinzipien (mit welchen wir uns in Kapitel 2.4 auseinandersetzen werden) orientierten Segmentierung prosarhythmisch zu analysieren und zu kommentieren. Prinzipiell ist damit bereits der Weg für einen sehr vielversprechenden Untersuchungsmodus vorgezeichnet. Vor allem auch aufgrund ihrer Entscheidung, inhaltlich enger zusammengehörige Kola/Textsegmente in ihrer Textdarstellung zu kennzeichnen.17 Leider krankt ihr Ansatz an dem bereits angedeuteten Kernproblem: Die Anzahl ihrer „Klauseln“ (es handelt sich nach unserer Zählung um 22, wenn man von den Variationen der Grundformen – eine Länge kann unter Variation der Silbenzahl durch zwei Kürzen ersetzt werden – absieht),18 die darauf angelegt ist, eine große Bandbreite von Quantitätenfolgen festzuhalten und mit einem Kürzel zu „etikettieren“, ist nicht nur äußerst umfangreich, sondern hält die Position der Wortakzente überdies nicht gesondert fest.19 Während also ihrem Vorgehen einer textnahen Betrachtung auf Basis einer reflektierten kolometrischen Gliederung prinzipiell nur zugestimmt werden kann, dürfte es sich als beinahe unmöglich erweisen, mit einem derartig umfangreichen, rein auf Quantitäten beruhenden Notationssystem eine vielleicht nur annähernde, aber doch ggf. intendierte und insbesondere vielleicht auch auf Akzentmustern beruhende Gleichheit bestimmter Textsegmente nachzuweisen. Vor allem aber können mit diesem System Akzente als eigene Größe gar nicht erst losgelöst von etwaigen anderen Faktoren diskutiert werden.
Zu diesem Problem, welches also darin liegt, dass eine intendierte Gleichheit erkannt und wiedererkannt werden muss, kommt das damit einhergehende einer gewissen Willkür bei der Erfassung des Prosarhythmus: hier sind auch FRAENKEL und KOSTER zu nennen, wobei die Leistungen des erstgenannten auf dem Gebiet der Kolometrie dennoch unangefochten sind und wahrscheinlich das wichtigste Standbein unserer eigenen Forschung darstellen. Den Prosarhythmus gerade auf diese Einheiten zu beziehen, ist absolut notwendig. Jedoch wurde das auf FRAENKEL zurückgehende systematische Vorgehen bei der Kolonsegmentierung u. a. von SCHMID und damit von KOSTER, der lediglich den zuerst genannten rezipiert,20 verkannt; für SCHMIDS und KOSTERS Vorgehen spricht dennoch, dass ihre Analyse einer gewissen Ganzheitlichkeit der Kola Rechnung zu tragen versuchen, wie KOSTER betont.21 Es handelt sich um einen Standpunkt, dem wir unbedingt zustimmen, während wir hierunter allerdings keinen das Kolon vollständig erfassenden Prosarhythmus verstehen (diesen mag es geben oder nicht), sondern vor allem den Aspekt der Konzinnität und der möglichen Organisationsformen prosarhythmisch überarbeiteter Kola. Wenn wir uns im Folgenden also mit den (nicht nur von uns) gesehenen Kritikpunkten beschäftigen, möchten wir wie zuvor damit nicht den generellen Wert dieser Arbeiten in Frage stellen. Vielmehr ergeben sich bei Sträterhoff auch aus dieser Kritik die Erkenntnispotentiale eines ganz andersartigen, nämlich wirklich qualitativ-interpretierenden Vorgehens, das nach dem Sinn des Prosarhythmus fragt und die Zahl seiner Klauseln stark beschränkt.
Für FRAENKEL wie für KOSTER und SCHMID kann jedoch als Axiom festgehalten werden, dass etwa Cicero ihrer Ansicht nach zu praktisch jedem Zeitpunkt „rhythmisch“ geschrieben habe (wobei wir zunächst die Frage zurückstellen, was genau damit gemeint sein könnte) oder dass vielmehr jede seiner Schriften vollständig mit einem wie auch immer gearteten Prosarhythmus durchzogen sei. Derartige Ansätze laufen nicht nur darauf hinaus, dass selbstverständlich jedwede Lautformation als „rhythmisch“ erachtet wird, sondern dass im Prinzip gar keine Möglichkeit dafür offengelassen wird, dies an Ort und Stelle zu widerlegen, zumindest zu hinterfragen.
Hier sei also das bereits von BLÜMER besprochene Beispiel FRAENKELS genannt, der seinerseits sogar 33 Klauselformen zuzüglich ihrer Variationen benennt.22 Wie möchte ein derartiger Ansatz seine Befunde also untermauern oder wie könnte innerhalb des gewählten Systems überhaupt noch eine Falsifikation stattfinden? Für FRAENKEL muss man wohl sagen, dass dies schlicht unmöglich ist.23 Damit ist allerdings auch die Aussagekraft seiner Untersuchung sehr stark eingeschränkt.
Doch auch rezente Arbeiten, wie etwa die jüngst von KOSTER vorgelegte prosarhythmische Analyse der Rosciana Amerina, verkörpern noch immer diese Fehlentwicklungen. Wir meinen damit Folgendes: KOSTER greift wie gesagt auf das bereits von DREXLER und im Anschluss an ihn in LEUMANN-HOFMANN-SZANTYR zurecht kritisierte System SCHMIDS zurück.24 Dass die Ansicht eines gewissermaßen immer währenden Prosarhythmus von SCHMID gar auch dort zum Prinzip erhoben wurde, wo Cicero explizit das Gegenteil beschreibt, tadelt hierbei bereits DREXLER ausdrücklich im Rahmen seiner Rezension.25 Dieses Vorgehen strebt in seiner Ganzheitlichkeit dazu, jede Lautformation zum Prosarhythmus zu erheben und es überlässt die Kolometrie dem bloßen rein subjektiven Sprachgefühl.26 Ganz davon abgesehen, dass somit auch die Konzinnität zu keiner Würdigung gelangen kann, degradieren SCHMID und KOSTER den Prosarhythmus de facto zur bloßen Sprachmelodie. Die Darstellung des Prosarhythmus (Notation über dem recht willkürlich kolometrisch geordneten Fließtext) scheint mit dessen Interpretation gleichgesetzt, zumindest für einen bereits ausreichenden Modus der Untersuchung erachtet zu werden.
Zur Erläuterung des Vorgehens: ein irgendwie geartetes Kolon wird in eine sogenannte „Basis“ sowie einen „An-“ und „Auslauf“ aufgeteilt. Alle drei Segmente werden, wie die Autoren meinen, von unterschiedlichen aus der Dichtung entlehnten Füßen dominiert. Für diese existierten jeweils mehrere Alternativen durch die Möglichkeit, eine lange Silbe durch zwei kurze oder nur eine kurze zu ersetzen oder umgekehrt. Ferner könnten die besagten Segmente mit einem einsilbigen „Übergang“ als einer Art Puffersilbe verbunden sein oder nicht. Mehrere An- und Ausläufe könnten (in ihren Variationen) hintereinander vor die Basis gesetzt oder weggelassen werden.27 Das Ganze mutet recht komplex an und so verhält es sich auch. Außerdem liegt zwar keine vollkommene, aber wie aus unserem Referat wohl bereits deutlich geworden ist, eine durchaus weitreichende Beliebigkeit der Skansion vor, was bei einer bloßen Feststellung der Quantitäten (beinahe) immer der Fall ist, da ein und dieselbe Reihung langer und kurzer Silben außerhalb der Verse der Dichtung mit ganz unterschiedlichen Versfüßen irgendwie bezeichnet und erfasst werden kann.28 Dabei geht KOSTER von einer Gültigkeit von Versikten in der Prosa aus,29 sodass eine Differenzierung von Füßen anhand des Wortakzentes für ihn kaum in Betracht kommen kann. Wenn man obendrein noch Auflösungen als Variation eines Ausgangsmusters gelten lässt (und somit sogar eine Variation der Silbenzahl in Kauf nimmt!), scheinen schlichtweg keine gesicherten Ergebnisse mehr gewonnen werden zu können. Insgesamt zeugt gerade der rezente Vorstoß KOSTERS also von einer nicht hinreichend reflektierten Rezeption seines Vorgängers. Im Übrigen scheint er die an SCHMID bereits früh geäußerte Kritik, etwa DREXLERS Rezension, gar nicht erst zur Kenntnis genommen zu haben.
BLÜMERS Forschungsansatz einer Analyse und Interpretation des Prosarhythmus ist als Gegenmodell zu diesen Ansätzen zu verstehen, auf welches wir uns mit nur wenigen Ergänzungen stützen. Er verringert die Zahl der gemessenen Muster stark und versucht diese zum anderen zu deuten. Dies eröffnet nicht nur weitere Erkenntnishorizonte an sich, sondern auch die Möglichkeit einer Falsifikation: wenn nämlich ggf. eine Regelmäßigkeit im Gebrauch des Prosarhythmus aufgedeckt werden kann, dann muss, wo das nicht zutrifft, vielleicht schlicht eingestanden werden, dass mehrere Kola, ganze Perioden oder auch Paragraphen unrhythmisch sind.30
Es sei noch einmal betont, dass es an sich nichts Neues ist, zumindest am Rande und ohne hinreichende Beachtung der Wortakzente nach Organisationsformen von Klauseln und deren Inhaltsbezug zu fragen.31 BLÜMER allerdings hat, so könnte man sagen, durch einige methodische Eingriffe, welche vorrangig auf die Wiedererkennung der wirklich relevanten Lautmuster abzielen, eine Interpretation auch des ciceronianischen des Prosarhythmus überhaupt erst möglich gemacht. Wie er, so erheben auch wir diese Form der Analyse zum Kerngegenstand unserer Untersuchung.
Aus all dem sollte Folgendes klargeworden sein: Was die Prosarhythmusforschung benötigt, ist das genaue Gegenteil der bisher dominierenden Methodik, welche ihren Dienst getan hat, indem die prinzipiell relevanten Lautformationen aus den Texten gefiltert wurden. Was sie braucht, ist vielmehr ein Vorgehen auf der Grundlage einer überschaubaren Zahl objektiver, überprüfbarer Analysekriterien und das erklärte Ziel, den Prosarhythmus nicht nur zu erfassen, sondern zu erklären. Zu dem ersten Punkt der Analysekriterien wollen wir im nächsten Kapitel kommen.
5 Dass diese Sicht nicht die einzig mögliche, ja dass eine Definition an sich bereits sehr schwierig ist, beweisen schon Adolf PRIMMERS fünf einleitende Definitionsversuche (vgl. PRIMMER 1968, 7f.).
6 Ein recht willkürlich gewähltes Beispiel hierfür ist das folgende: Eklatant kommt dieses Manko unseres Erachtens in der Arbeit PARZINGERS zur Stilentwicklung Ciceros zum Vorschein. Es sei auf die Seiten 128f. verwiesen, wobei er selbst auf ZIELINSKI zurückgreift. Obwohl wir nicht in Abrede stellen wollen, dass PARZINGERS umfangreiche Dokumentationen ansonsten großen Respekt verdienen, haben seine Angaben an dieser Stelle schlicht keinen praxisbezogenen Erkenntniswert im Gesamtzusammenhang der Stilistik. Sie erschöpfen sich in einem für Außenstehende sehr speziellen, letztlich ganz obskurem Regelwerk bestimmter Quantitätenfolgen und ihrer Auftretenswahrscheinlichkeiten. Das ist ein Manko eines beachtlichen Teils der bisherigen Forschung. In solchen Fällen erscheint der Prosarhythmus offenbar als bloßer Selbstzweck ohne weiteren Sinn verstanden zu werden.
7 Eine Begriffsprägung Wilhelm BLÜMERS, als Alternative zum häufig anzutreffenden Terminus „cursus mixtus“. Während der bisher übliche Terminus ein schlichtes Nebeneinander von Akzent- und Quantitätenmuster suggeriert, soll damit das systematische Zusammenfallen bestimmter Akzentmuster mit bestimmten Quantitätenfolgen betont werden (BLÜMER 1995, 20 Fußnote 14).
8 Diese sieht auch BLÜMER im Falle Leos des Großen (BLÜMER 1991, 64). Es kommt damit durchaus nicht nur auf die Einhaltung bestimmter Quantitätenmuster, sondern eben auch auf die Akzentposition an. Sie ist für die Erfassung des Prosarhythmus ein entscheidender Faktor. Auch PRIMMER nimmt zu diesem Thema Stellung, vor allem aber im Sinne einer Differenzierung quantitierender Metren anhand des Wortakzentes, was aber einen Iktus dieser Metren miteinbezieht (PRIMMER 1968, 187f.).
9 Und das nicht nur hier. Auch was mittellateinische Autoren angeht, könnten mit diesem Ansatz noch weitere Erkenntnisse gewonnen werden. Arnulf von Lisieux etwa hat, wie BLÜMER nachweisen konnte, nicht allein von „Cursusformen“ Gebrauch gemacht, sondern war vielmehr ebenfalls sehr wohl dazu in der Lage, die Quantitäten im Sinne der Koinzidenzrhythmik zu beachten (BLÜMER 2002, 274f.).
10 Eine „Responsion“ in unserem relativ eng gefasst Sinne ist das erneute oder mehrfache Auftreten derselben „Klausel“ innerhalb eines „Abschnittes“. Wir meinen damit also nicht einfach, dass eine Klausel zwei oder dreimal hintereinander gemessen werden kann oder Vergleichbares und auch nicht dasselbe wie etwa PRIMMER (1968, S. 321). Am ehesten sind bei PRIMMER wohl Kategorien wie die „enrhythmische Parallele“ (S. 324) damit vergleichbar. Anderes verstehen somit unter diesem Begriff auch STRÄTERHOFF (1990, 52) und ZIELINSKI (1914, 89f.).
11 Dies beschränkt sich auch nicht auf das Lateinische, Griechische oder Englische. Vgl. beispielsweise für die nordamerikanische Indianersprache „Seneca“ CHAFE (1994, 164).
12 Siehe zu diesem Vorgehen BLÜMER 1991, 67–69.
13 Auch HABINEK geht so weit, von Strophen, „stanzas“, zu sprechen. Gleichklänge sind ihm ebenfalls aufgefallen. Diese Gedanken fügt er allerdings noch nicht zu einem Ganzen zusammen (vgl. HABINEK 1981, 161f.). Dass gewisse analoge Abfolgen von Quantitäten inhaltliche Kontraste und Ähnlichkeiten partiell unterstreichen können, ist ihm ebenso wenig entgangen (HABINEK 1981, 173).
14 Zur näheren Begründung dieser Auswahl siehe S. 102 dieser Arbeit.
15 So z. B. von STRÄTERHOFF 1995, 21–48. Auch BLÜMER bietet die nötigen Informationen (1991, 62f.).
16 STRÄTERHOFF 1990, 1.
17 Ebd. 49. Dieses Vorgehen lässt zusammengehörige Kolongruppen erkennbar werden und deutet bereits das an, was wir später als „Abschnitte“ einer Periode diskutieren werden. Auch, dass wiederkehrende Klauselformen und Gleichklangsphänomene in einem gewissen Zusammenhang stehen, ist ihr nicht entgangen, besonders oft trete Reim übrigens in „rhetorischen Gruppen“ auf (Ebd. 778f.). Im Übrigen erinnert ihre Darstellungsform deutlich an HABINEK und BLÜMER.
18 Ebd. 699. Hier fehlen übrigens noch die auf Seite 51 von STRÄTERHOFF aufgelisteten „Anläufe“.
19 Zur möglichen Bedeutung gerade dieses Faktors vgl. das folgende Kapitel 2.1 unserer Arbeit.
20 Und hier auch schon PRIMMERS frühes (dezidiert negatives) Urteil nicht zur Kenntnis nimmt (Vgl. PRIMMER 1968, 13, Fußnote 15).
21 KOSTER 2011, 7.
22 Gemeint sind damit FRAENKELS „Leseproben“ (BLÜMER 1991, 51).
23 Obwohl auch FRAENKEL dieses Problem durchaus gesehen hat. Dennoch ist es ihm nicht gelungen, eine adäquate Eingrenzung vorzunehmen. Tatsächlich geht auch er davon aus, dass die Rezeption und Produktion eins Prosarhythmus einem gebildeten Römer gewissermaßen zur zweiten Natur geworden sei (FRAENKEL 1968, 19–21). Mit Bezug auf FRAENKEL siehe auch BLÜMER (1991, 72 Fußnote 1).
24 HOFMANN-SZANTYR 2, 715, 3 und Gnomon 32, 1960.
25 DREXLER (1960, 242) zu SCHMID (1959, 67). Letzterer formuliert: „Auch die so entstehende Wortfolge ist rhythmisch. Cicero hat wohl keinen Satz in stilisierter Prosa geschrieben, der nicht rhythmisch wäre.“ Viel eher sollte man wohl sagen „den wir nicht irgendwie prosarhythmisch messen, also mit einer Notation etikettieren könnten“. Ob aber z. B. eine bestimmte Quantitäten- oder Akzentfolge intentional herbeigeführt wurde, muss sich bestenfalls aus dem Einzelfall erschließen lassen. Intentionalität schlicht immer vorauszusetzen, ist ein eigentlich kaum vertretbarer Ansatz.
26 Obwohl man andererseits durchaus nicht dem Glauben erliegen darf, Kola könnten mit mathematischer Präzision segmentiert werden oder Intuition sei völlig fehl am Platze. Ein wenig zu pessimistisch ist allerdings auch HABINKES Schluss „there are no firm rules“ (HABINEK 1981, 127). PRIMMER berichtet überdies von einem interessanten Erfahrungswert, wonach die kolometrische Analyse desselben lateinischen Textes bei unterschiedlichen „Testpersonen“ oft zu Abweichungen von lediglich einem Kolon führe (PRIMMER 1990, 30 Fußnote 28). Erwähnenswert und tatsächlich belastbar ist es auch, dass Probanden auf die Bitte hin, bei einem vorgelegten und nicht gegliederten Text ein Paragraphenende nachzutragen, häufig zu gleichen Ergebnissen kommen. Noch bezeichnender ist die Tatsache, dass kolonähnliche „Intonationseinheiten“ gegenüber Sätzen die stabilere Einheit darstellen, wenn es um Nacherzählungen geht (CHAFE 1994, 138 und 144).
27 KOSTER 2011, S. 9–11.
28 Ein Manko dieser Art wurde indessen nicht nur in der Klauselforschung bemerkt, sondern auch im Zusammenhang mit den antiken Skansionstechniken: „Jede Skansion ist ja nur eine mögliche Gruppierung von Einheiten innerhalb derselben Abfolge von Quantitäten.“ (ZELENY 2008, 15).
29 KOSTER 2011, 8. Auch das kritisierte DREXLER bereits an SCHMID: dieser habe die Frage nach etwaigen Versikten in der Prosa nicht einmal als diskutierenswertes Problem eingeführt, sondern gehe schlicht von diesen aus (DREXLER 1960, 244).
30 Der Ausdruck „unrhythmisch/nicht-rhythmisch“ meint also, dass keine planmäßige Produktion eines wie auch immer gearteten Prosarhythmus nachgewiesen werden kann. Nicht mehr und nicht weniger (vgl. BLÜMER 1991, 85).
31 Auch FRAENKEL hat dies bereits an einigen Stellen getan (FRAENKEL 1968, S. 30f., 91–3 und 192.).