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I. An den Ufern des Oceanus Germanicus

Litus saxonicum, Britannien, April 441

Ceretic

„Der Herr lasse dir die Sonne stets ins Gesicht scheinen und den Wind immer von deinem Rücken her wehen.“ Mit diesem Reisesegen hatte der kleine Gottesmann seinen Freund verabschiedet. Ceretic konnte ihn gut leiden, da Tallanus, so hieß der junge Diakon, sich im Gegensatz zu den meisten seiner Amtsbrüder weder aufblies, was ihm als secretarius des mächtigsten Bischofs des Landes wahrhaft nicht schwer gefallen wäre, noch ständig über die zweifellos verwerflichen Irrlehren der Agricolaner lamentierte.

Nun verschwamm die kleine Gestalt ebenso rasch im Dunst der See, wie sie für Ceretic und seine zwei Gefährten an Bedeutung verlor. Ein frischer Westwind wehte und über ihnen kreischten erwartungsvoll die Möwen. Aber dieses Mal würden sie enttäuscht werden, denn das kleine Boot fuhr nicht zum Fischen aus.

Zwei junge Männer, Tavish und Malo, begleiteten Ceretic auf einer wagemutigen Fahrt über die noch eiskalte graue See. Direkt zu dem gefürchtetsten aller Heidenvölker würde ihre Reise führen.

„Der Auftrag ist ein verdammter Sch…“, entfuhr es Ceretic. Erschrocken stellte er fest, dass er laut vor sich hin gemurmelt hatte. Es fehlte gerade noch, dass die zwei jungen Fischer aufgaben und umkehrten.

Tavish hatte ihn offensichtlich gehört. Was Wunder auch, er saß direkt vor ihm auf der Ruderbank. Mit großen Augen starrte er den Krieger an. „Aber der Hochkönig selbst hat es doch befohlen? Ein geheimer Auftrag von größter Wichtigkeit …“, protestierte er, doch das leichte Beben in seiner Stimme verriet Ceretic, dass er sich mit der Beteuerung vor allem selbst überzeugen wollte.

„Und so viel Silber verdienen wir sonst im ganzen Jahr nicht“, pflichtete ihm sein Gefährte Malo vom Bug her bei.

„Da habt ihr recht“, bestätigte Ceretic mit saurem Grinsen. Eigentlich hätte er es dabei belassen sollen, doch zwei gegensätzliche Gefühle drängten ihn nach einem Augenblick weiter zu sprechen: Zum einen seine schlechte Laune wegen des Auftrages selbst, zum anderen das ebenso schlechte Gewissen den beiden Fischern gegenüber. Und jetzt, wo sie auf See waren, konnten sie ohnehin nichts mehr verraten, da konnte er die beiden genauso gut in seine Sorgen einweihen.

„Vor drei Tagen erst hat der secretarius mir die vertrauliche Order des Comhairles überbracht und wir sind zusammen ohne Umwege an die Küste geeilt. Aber was meint ihr, warum der Hochkönig uns in aller Heimlichkeit losschickt? Warum sendet er nicht eine seiner schnellen Lusorien?“

Tavish schaute ihn mit blanken Augen an. Ceretic hatte die beiden nicht wegen ihrer Klugheit oder ihres Wagemuts ausgesucht, sondern weil sie als die besten Ruderer an Ruohims Küste galten.

„Vortigern ist ein schlauer Fuchs“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Er kann es sich nicht leisten, eines der wenigen Schiffe oder gar eine erfahrene Mannschaft zu opfern, falls die Barbaren nicht mit sich handeln lassen. Und es kommt noch besser: Wenn die Sachsen uns abmurksen, erfährt in Britannien niemand auch nur ein Sterbenswörtchen davon und Vortigern blamiert sich nicht einmal!“

Das Entsetzen in den Augen der beiden Männer ließ das schlechte Gewissen die Oberhand über Ceretics Verstimmung gewinnen. Als sie sich am Vortag handelseinig geworden waren, hatte er den Fischern nicht die ganze Wahrheit gesagt. Freilich konnte sich ein kluger Mann den Rest zusammenreimen, aber ein einfacher Fischer? Ceretic bemühte sich daher nun um einen beruhigenden Ton.

„Ihr habt ja mich“, behauptete er und ein etwas selbstgefälliges Grinsen schlich sich in seine Züge. „Und der König hat gute Gründe, warum er gerade mich, Ceretic ap Ruohim, für diese Fahrt ausgewählt hat.“

Das stimmte tatsächlich. Gemessen an seiner niederen Herkunft als verwaister Sohn einer Ruohimer Fischerfamilie hatte er es weit gebracht. Ganz allein hatte er sich am Hofe des Hochkönigs bewährt und den Respekt der anderen Krieger erworben. Dazu kannte er das Mündungsgebiet der Thamesa von klein auf, was für den heiklen Auftrag von großer Bedeutung war. Was ihn aber vor allem auszeichnete, waren seine Kenntnisse der barbarischen Sprache. Es war also nur folgerichtig, dass Vortigern gerade ihm diese heikle Mission anvertraute, die das Schicksal Britanniens für immer wenden sollte.

„Doch jetzt ist vor allem eins geboten“, fuhr er belehrend fort. „Eile. Denn genauso sicher, wie die ersten Schwalben zuhause bereits das Kommen des Sommers ankündigen, zeigen sie auch, dass die piktischen Horden in Kürze wieder über unser armes Britannien herfallen werden.“

Damit beendete Ceretic seine kleine Ansprache und die beiden Männer nickten wissend. Die Piktenüberfälle bedrohten auch ihre eigenen Familien und Dörfer. Ceretic atmete tief die schneidend kalte Seeluft ein und konzentrierte sich wieder ganz auf das Steuern des Bootes. Es handelte sich um eine Curach, wie sie auch von Pikten und scotischen Piraten genutzt wurde. Ein leichtes, aus Eschenleisten gezimmertes Gerippe, überspannt von einer harzgetränkten Ochsenhaut. Damit war die Curach nicht so fest und stabil, aber auch nicht so schwer wie ein Holzboot. Sie bog sich in den Wellen und wich den Kräften des Meeres aus, anstatt zu zerbersten. Das kleine quadratische Ledersegel stand voll im Westwind und trieb das leichte Fahrzeug rasch über die See. Gischt wehte Ceretic ins Gesicht und langsam ließ er die schweren Gedanken an die Heimat und die unsichere Zukunft hinter sich. Wenn der Wind durchhielt, würden sie den fretum gallicum bald überquert haben und die belgische Küste erreichen.

Und tatsächlich, als die Sonne im Westen den Horizont berührte, machte Ceretic einen breiten grünen Streifen aus. Davor mischte sich das Weiß von Dünensand und Gischt.

„Die morinische Küste“, stellte er zufrieden fest.

Seine Begleiter, die auf den Ruderbänken nach achtern schauten, drehten sich neugierig um. Für sie war es das erste Mal, dass sie die fremde Küste zu Gesicht bekamen. Doch außer dem Strand gab es nichts zu sehen. Portus Itius hatte Ceretic im Westen gelassen und den günstigen Wind genutzt, um möglichst weit Richtung Germania inferior und der friesischen Küste zu gelangen. Mit dem letzten Licht der Dämmerung setzte Ceretic die Curach auf den fremden Strand.

„Los, an die Arbeit! Oder habt ihr geglaubt, ihr könntet die ganze Zeit faul im Boot hocken bleiben?“, trieb er seine dösenden Gefährten an.

Beide kletterten steif und ausgekühlt ins flache Wasser. Im Boot konnte man sich nicht gut aufrichten und durch die dünne Außenhaut drang die Kälte des Meeres in alle Glieder. Umständlich wuchtete sich Ceretic aus seinem Sitz im Heck und packte mit an. Nachdem sie das kleine Segel und den Mast im Boot verstaut hatten, mussten sie das Fahrzeug aus der Brandungszone schleppen. Ceretic packte das Heck, während seine beiden Begleiter den Bug trugen. Er musste gut aufpassen, damit ihm die Curach nicht entglitt, denn das Meerwasser hatte die Oberfläche der geharzten Lederhaut aufgeweicht und sie glitschig und schmierig gemacht.

„Nur noch ein kleines Stück“, grunzte er, dann ließen sie das Boot in den trockenen Dünensand fallen. Treibholz und verrottender Tang kennzeichneten die Flutwasserlinie ein ganzes Stück hinter der Curach.

„Mal sehen, was sich uns hier für ein Empfang bietet.“

Ceretic schnaufte noch von der Anstrengung, stapfte aber gleich weiter durch den losen Sand, in dem sich nur vereinzelt dürre Halme des Strandhafers festkrallten. Oben auf der Düne ließ er seinen Blick schweifen. Etwa zwei Meilen im Süden sah er eine dünne Rauchsäule in den purpurnen Abendhimmel steigen. Im Westen, wo die Sonne vor ein paar Augenblicken im Meer versunken war, blitzte der Abendstern. Gedankenverloren strich Ceretic sich mit Daumen und Zeigefinger über den mächtigen roten Schnurrbart, der ihm beidseits fast bis zum Kinn herabhing. Sicherlich war die Siedlung aus Furcht vor friesischen und sächsischen Piraten so weit im Landesinneren errichtet worden. Die Menschen, die dort lebten, waren vermutlich Belgier. Bauern jedenfalls, keine Piraten. An der Küste konnte Ceretic niemanden entdecken. Das kam ihm gelegen, in der nun hereinbrechenden Dämmerung würde sie kein Mensch mehr stören. Zufrieden stapfte Ceretic zu seinen Gefährten zurück, die bereits das wenige Treibholz sammelten, das die letzte Flut an Land gespült hatte. Malo blickte fragend zu ihm auf.

Ceretic nickte. „Ich denke, wir können heute Nacht Feuer machen. Ich habe nichts Beunruhigendes entdeckt und hier in der Provinz Belgica sollten wir noch sicher vor den Barbaren sein.“

Malo und Tavish machten sich zufrieden an ihre Aufgabe. Bald zischte das feuchte Treibholz und das Salz knackte in einer gespenstisch flackernden bläulichen Flamme.

„Ob wir morgen schon auf Barbaren treffen?“, fragte Tavish neugierig.

„Bete zu Gott, dass nicht“, antwortete Ceretic ohne die Augen von den Flammen abzuwenden. „Die großen Ströme der Sachsen erreichen wir erst in zwei oder drei Tagen und wenn wir vorher auf Schiffe treffen, dann sind das wahrscheinlich Friesen.“ Eine Weile saßen sie schweigend. „Aber dafür ist es eigentlich noch zu früh im Jahr“, fügte er hinzu, als hätte er dieses Wissen gerade erst in den Flammen gelesen.

Am nächsten Morgen war der Wind aufgefrischt und der Himmel hing voll grauer Wolken. Ceretic stieg erneut auf die Düne, doch diesmal richtete er seinen Blick prüfend aufs Meer. Dann nickte er langsam. Sie könnten es wagen in See zu stechen.

„Mit diesem Wind erreichen wir die Mündung der Wirraha in zwei Tagen“, wandte er sich an seine Gefährten. Von dort aus richteten die Sachsen ihre gefürchteten Steven Richtung Meer und Britannien, dachte er schaudernd. Und ausgerechnet dorthin führt unsere Reise.

Doch vorerst lief alles nach Plan und Ceretics Vorhersage schien sich zu bestätigen. Den Tag über sichteten die drei Britannier lediglich zwei kleine Fischerboote, aber beide hielten einen gebührenden Abstand zu ihrem Fahrzeug. Warum sollte auch ein einzelner Fischer eine Begegnung mit drei Fremden riskieren?

„Wie willst du es eigentlich anstellen, den besten Heerführer unter den Sachsen ausfindig zu machen?“, riss Tavish seinen Steuermann am Abend aus den Gedanken. Sie saßen auf einer der zahllosen, lediglich von Seehunden und Vögeln bevölkerten Sandbänke und Inseln, aus denen ganz Friesland zu bestehen schien. Vor ihnen lag das Meer schwarz und schweigend bis an den fernen Horizont, während einige wenige Sterne das flackernde Licht des schwelenden Treibholzes am trüben Himmel spiegelten. Ceretic hoffte inständig, dass die Dünen in ihrem Rücken sie vor den Bewohnern dieser ungastlichen Küste verbargen. Er roch verrottenden Tang und das nasse Leder der Curach hinter ihnen.

„Erst einmal müssen wir bis dorthin gelangen“, erwiderte er eindringlich und sah seinen beiden Begleitern nacheinander einen Moment lang in die Augen. „Wir sind hier vor der friesischen Küste. Betet darum, dass wir keinem größeren Schiff begegnen. Als Piraten sind die Friesen nicht besser als die Sachsen. Wenn sie uns erwischen, murksen sie uns ab oder verkaufen uns als Sklaven in die Barbarei.“

„Wirklich gute Aussichten“, brummte Malo und legte einen weiteren Zweig aufs Feuer. Es zischte und dampfte, aber dann brannte er an.

Doch die Friesen waren nicht alles, was Ceretics Gedanken beschwerte. Er ließ sich in den Sand zurückfallen und das raue Dünengras kitzelte seinen Nacken. Was war, wenn sie nicht rechtzeitig heimkehrten? Wenn die Anwerbung der Sachsen nicht gelang? Wer schützte dann seine Heimat vor den verfluchten Pikten? Die gesamte Küste wurde von den Heiden, der Herr möge ihre Eingeweide verrotten lassen, heimgesucht. Ihre gefürchteten Boote tauchten bald hier und bald dort auf und spien ihre faulige Fracht an Land.

Am nächsten Morgen ließ ein dichter grauer Dunst die ersten Lichtstrahlen nur widerwillig zur ebenso grauen See dringen. Der Wind hatte etwas nachgelassen und das Meer schwappte träge an den Strand. Schließlich erhob sich die Sonne im Osten als roter Ball und verlieh wenigstens den grauen Dünen einen leichten rötlichen Schimmer. Ceretic und seine Begleiter schluckten hastig ihren Haferbrei herunter. Ein Schluck beigemengtes Meerwasser ersetzte das Salz. Es schmeckte grässlich, aber Salz zog auf See Wasser und nach wenigen Tagen würde auch das kostbarste, reinste Salz nicht besser als Meerwasser schmecken.

Gestärkt zogen die drei Britannier ihr leichtes Boot ins Wasser und setzten das Segel. Zunächst schien ihnen das Glück in Form des Westwindes weiter hold, doch gegen Mittag flaute er ab. Ceretic überlegte, ob er seine Gefährten würde weiter rudern lassen oder ob sie an Land günstigere Winde abwarten sollten. Die Tide war gerade gekentert und die nun einsetzende Ebbe würde ihre Fahrt bald zusätzlich hemmen.

„Seht nur dort hinten“, rief Malo plötzlich aufgeregt. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen nach achtern.

Ceretic wandte sich um und was er sah, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen: Zwischen zwei der Inseln, die in Steuerbord als lange Kette vor der fernen Küste lagen, schoss ein Schiff hervor.

„An die Riemen“, brüllte er vor Aufregung lauter als notwendig. „Das Wasser steht noch ziemlich hoch, die sind schneller hier, als ihr um Hilfe schreien könnt!“

„Vielleicht haben sie uns gar nicht bemerkt?“, hoffte Tavish. „Sie werden doch nicht unseretwegen so ein großes Schiff losschicken?“

Doch da schwenkte der runde Bug der Fremden bereits in ihre Richtung. Ceretic sah die Riemen in der Sonne blitzen, als sie sich im raschen Rhythmus aus der See hoben.

„Pullt was ihr könnt, vielleicht gelingt es uns, im flachen Wasser hinter den Inseln zu entkommen“, rief er und lenkte das Boot durch einen sanften Druck mit dem Ruderblatt auf den Sund zwischen zwei der Eilande in Richtung Steuerbord zu.

Die Curach war leicht und noch waren Malo und Tavish ausgeruht. Dadurch schafften sie es, die gesamte nächste Stunde ihren Vorsprung vor den Verfolgern zu halten. Doch inzwischen klebte Malo, der vor Ceretic saß, das verschwitzte Haar im Gesicht und auch Tavishs Atem ging pfeifend. Ceretic spürte, wie seine Gefährten ermatteten. Endlich passierten sie den engen Sund zwischen den Inseln und ruderten nun gegen den kräftigen Ebbstrom. Dieser hielt ihre Verfolger allerdings genauso auf wie sie.

„Haltet durch, sie kommen immer näher“, feuerte Ceretic seine Gefährten an. Er warf in regelmäßigen Abständen Blicke nach achtern und konnte bereits erkennen, wie die See unter den feindlichen Rudern schäumte. Zu ihrer Linken lag das graue Watt bereits hoch und trocken über der See.

„Verdammt“, knurrte Ceretic, weil sich keine rettende Durchfahrt hinter der Insel zeigte. Er musste noch eine ganze Weile den Kurs halten, bevor er endlich in einen Sund an Backbord einbiegen konnte. Hoffentlich kamen sie überhaupt noch hinter der Insel vorbei. Du Esel, schalt er sich in Gedanken selbst. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Ebbstrom sie so lange aufhalten würde. Nun stand das Wasser deutlich tiefer als zu Beginn der Verfolgungsjagd – vielleicht war es nun sogar für seine Curach zu flach. Wie hatte er sich nur mit den Friesen auf eine Wettfahrt in ihrem eigenen Wattenmeer einlassen können? Er griff mit der Linken nach dem kleinen Bronzekreuz, welches er um den Hals trug, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Doch der Himmel blieb stumm und der Sund vor ihm verschmälerte sich zu einem breiten Priel.

„Die Friesen werden langsamer“, keuchte Tavish von vorne.

„Ja, sie wissen, dass wir in der Falle sitzen“, entgegnete Ceretic verbittert. Im Gegensatz zu Malo und Tavish, die auf den Ruderbänken nach achtern blickten, schaute er geradeaus und dort zeigte sich nur noch trockenes Watt. „Gleich setzen wir auf und dann müssen diese friesischen Hunde nur noch warten, bis sie auf dem Trocknen zu uns herüber spazieren können.“

Erschrocken starrten ihn seine Gefährten an. „Gott stehe uns bei“, rief Tavish erbleichend.

„Und errette uns aus der Hand dieser Heiden!“, vervollständigte Malo das Gebet.

Da lief ein leichter Ruck durch das Boot. Sie saßen auf dem Schlick.

„Der Herr sei uns gnädig“, murmelte Malo und bekreuzigte sich hektisch.

Ceretic stieg aus und richtete sich auf. Vor ihnen erhob sich auf fünfhundert Schritte trockenes Watt, dahinter glänzte die rettende See in der Sonne. Unerreichbar.

Wobei, schoss es Ceretic durch den Kopf, unerreichbar für die meisten Boote, aber was war schon unerreichbar für eine Curach?

„Schnell, raus aus dem Boot. Wir tragen es über die trockene Stelle!“, rief er mit neu erwachtem Mut. Auch die Augen seiner beiden Männer blitzten hoffnungsvoll auf.

Sofort sprangen sie in den Schlick, in dem sie knöcheltief einsanken. Dann packten sie das Boot und zogen es noch etwa hundert Schritte durch das immer flacher werdende Wasser.

„So, nun müssen wir sie tragen“, befahl Ceretic. Er packte wieder allein das Heck, aber das geschah ihm ganz recht. Zum einen hatte er heute noch nicht gerudert, zum anderen war er es gewesen, der sich von den Friesen hatte in die Falle treiben lassen. Nun, das wollen wir erst einmal sehen, dachte er. Der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn und er trat im Watt mit seinen blanken Füßen auf eine scharfkantige Muschel. Aber das alles nahm er kaum wahr.

„Weiter, weiter!“, keuchte er. Ceretic traute sich nicht, sich nach den Friesen umzuschauen. Inzwischen hatten die drei Britannier die höchste Stelle des Wattes überquert. „Wir schaffen es“, schrie Ceretic außer Atem. Endlich spritzte um Malos Füße wieder Wasser auf. Wunderbar kühl umschloss es einen Augenblick später auch Ceretics Knöchel. Noch ein paar Schritte und sie konnten die Curach wieder zu Wasser lassen. Sie hatten es geschafft! Nun wendete sich Ceretic den Verfolgern zu.

Die Friesen hatten inzwischen erkannt, was vor ihnen geschah und die Verfolgung der sicher geglaubten Beute zu Fuß aufgenommen. Aber um ihr tiefer gehendes Schiff herum stand das Wasser noch immer mehr als knietief und sie kamen nur langsam voran. Ceretic nahm sich sogar die Zeit, den Feinden den blanken Hintern zu zeigen. Eine Geste, die er den wilden Pikten abgeschaut hatte. Eigentlich nicht seine Art, aber die gerade durchlittene Anstrengung und Anspannung versetzten ihn in eine Art Rauschzustand. Auch seine Gefährten lachten erleichtert, als sie wieder in die Curach stiegen und losruderten. Diesmal half ihnen der Ebbstrom, der sie rasch dem offenen Meer entgegen zog. Als die Friesen schließlich die Kante des trocken gefallenen Watts erreichten, stimmten sie ein wütendes Geheul an. Aber Ceretic und seine Gefährten waren unerreichbar und in Sicherheit.

„Wir haben den Friesen in ihrem eigenen Wattenmeer eine Nase gedreht“, lachte Malo begeistert.

Auch Ceretic grinste breit. „Das muss die Nachwelt erfahren. Ich werde ein Lied darüber dichten!“

Dithmarschen, April 441

Ordulf

Ordulf kniff die Augen zusammen und sah voller Sorge in den grauen Himmel. Dann wandte er seinen Blick wieder hinab auf die ebenso graue See, die sich in endlosen Wellenkämmen auf das Land zuschob. Das Watt war bereits vollständig überflutet und die See leckte an den vorgelagerten Sanddünen, welche die Sommerfluten gewöhnlich bis in den Oktober hinein von den Weiden fernhielten. Nun waren es noch über drei Stunden bis zum Hochwasser und die Flut stieg mit beängstigender Geschwindigkeit. Es würde nicht helfen nur zu bangen und zu warten, er musste das Vieh in Sicherheit bringen. Zuerst die Rinder, sie bildeten die eigentliche wirtschaftliche Grundlage des Hofes, auch wenn die Pferde ungleich wertvoller waren.

Ordulf rief die zwei Knechte heran, die mit ihm auf der Wurt geblieben waren. Gemeinsam machten sie sich daran, die Rinder, die weit verstreut auf dem Marschland grasten, erst zusammen und dann zur Wurt zu treiben. Es ging langsamer als gedacht und Ordulf war bald in Schweiß gebadet, trotz des scharfen Westwindes.

Sein Vater und die beiden älteren Brüder waren bereits früh am Morgen zur Außenweide aufgebrochen, um die Pferde hereinzubringen. Er als jüngster Sohn musste sich um die weniger wertvollen Tiere kümmern und so oblag ihm nun die gesamte Verantwortung. Er fluchte leise. Warum hatten sie so lange gewartet? Der neue Mond war gerade erst einen Tag alt und seit Sonnenaufgang blies ein Westwind, der langsam aber in immer wiederkehrenden Böen zum Sturm anschwoll. Und das so spät im Jahr! Was hatte Uuodens Zorn nur zu dieser Unzeit erregt?

Inzwischen schlugen die Wellen immer wieder über die seewärts gelegenen Sanddünen und bedeckten bereits weite Teile der Marschwiesen. Die Entwässerungsgräben waren zum Überlaufen gefüllt. Nun ging es schneller, denn auch die widerspenstigen Bullen schienen zu merken, was dort von See her auf sie zukam. Instinktiv strebten sie dem hohen Land zu. Nervös schoben und stießen sie sich gegenseitig durch das Tor der Palisade, welche die kleine Wurt umschloss. Ordulf und die Knechte mussten aufpassen, nicht dazwischen zu geraten. Schließlich waren alle Tiere im Pferch. Erschöpft lehnte sich Hinnerk, der jüngste der Knechte, gegen das Gatter, aber Ordulf, der selbst gern verschnauft hätte, konnte ihm keine Ruhe gönnen.

„Los, weiter, wir müssen die Schafe holen“, rief er und verfiel in den Laufschritt. Sie mussten sie zur Wurt herüber treiben, bevor die Gräben unpassierbar würden. Im Laufen griff er nach einem Stecken, der an der Stallwand lehnte. Wenn er noch rechtzeitig bei den Schafen ankommen wollte, würde er den brauchen, um die schon gefüllten Gräben zu überspringen. Hinter sich hörte er die müden Tritte der Knechte durch die bereits matschig aufgeweichten Weiden am Fuße der Wurt patschen. Mechanisch setzte er den Stecken in die Mitte des ersten Grabens und sprang, auf den Stab, gestützt zur anderen Seite.

„Dort sind die ersten Schafe“, rief Hinnerk und zeigte nach vorn. Ordulf sah in die angegebene Richtung und kniff die Augen zusammen. Der junge Knecht hatte schärfere Augen als er. Doch auch er sah, dass das Wasser die blöden Schafe bereits einzukreisen begann. Anders als die Rinder trieb sie ihr Instinkt aber nicht dazu, höheres Land aufzusuchen. Sie verharrten an Ort und Stelle und betrachteten mit ängstlichem Blöken das Wasser, welches sich ihnen näherte. Ordulf fluchte leise und glitt fast in einer Pfütze aus, deren Wasser tiefer war als gedacht. Er würde nie verstehen, wieso Thunær seinen Wagen ausgerechnet von Böcken ziehen ließ. Die Tiere waren derartig dämlich, dass sie bei jeder Flut ersöffen, wenn man sie nicht rettete. Und damit gab sich ein so mächtiger Gott ab!

„Lass nach, das bringt nichts“, schnauzte er Hinnerk an, der versuchte, das erstbeste Mutterschaf in Richtung Wurt zu zerren. „Wir müssen den Leithammel suchen!“

Aber wo steckte das blöde Vieh? Ordulf sah zwischen den verstreuten, ängstlich blökenden Tieren umher, konnte den Hammel aber nirgends entdecken.

„Achtung!“, riss ihn Hinnerks Schrei aus seiner Suche. Er schaute sich fragend um, da traf ihn mit unglaublicher Wucht ein Schlag in den verlängerten Rücken. Er verlor das Gleichgewicht und die Welt um ihn verwandelte sich in eisige, stechende Kälte.

Erst als Ordulf versuchte, nach Luft zu schnappen, erkannte er, dass er sich unter Wasser befand. Über sich sah er Tageslicht und den Wasserspiegel des Grabens, den er gerade noch übersprungen hatte. Benommen von dem Schlag und der Kälte richtete sich Ordulf auf und kam an die Oberfläche. Am Ufer, an dem er sich gerade selbst noch befunden hatte, stand nun der Leitwidder Hinnerk. Der gleichnamige Knecht hatte sich mit einem Sprung über den Graben in Sicherheit gebracht. Schnaubend sah der Widder ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Ordulf entschied, dass der junge Knecht derzeit die geringere Bedrohung darstellte und ließ sich von ihm an das gegenseitige Ufer helfen. Er biss sich auf die Lippen. Darum also liebte Thunær diese Mistviecher. Er meinte, ein dröhnendes Lachen über den Wolken zu hören, aber vielleicht rauschte ihm auch nur das Blut in den Ohren oder es war ein heranziehendes Gewitter. Auch seine Brüder würden grölen vor Lachen. Langsam wich die eisige Kälte in seinen Gliedern einer kochenden Wut. Wenn er Hinnerk – und zwar allen beiden – nun nicht zeigte, wer der Herr auf der Weide war, könnte er es nie wieder wagen, sie zu betreten. Und dasselbe galt für den alten Thankmar, dem zweiten der Knechte, denn auch seine Lippen zuckten verräterisch.

Ordulf griff den Stab und sprang entschlossen über den Graben. Hinnerk, der Widder, wich erstaunt einen Schritt zurück, aber da packte Ordulf ihn schon bei den gewundenen Hörnern. Der Zorn verlieh seinen kalten Muskeln die nötige Kraft. Er riss den Widder in die Höhe und schmetterte ihn mit aller Wucht auf den Boden. Dann trat er dem Tier wütend in die Flanke, nochmal und noch einmal. Der Widder schrie erschrocken auf und wand sich, aber Ordulf ließ nicht locker, auch als sein Zorn schließlich verraucht war.

„Jetzt kommt schon her und helft mir!“, schrie er die Knechte an.

Endlich war Thankmar heran und schlang einen Strick um den Hals des Widders.

„Gib her“, raunzte Ordulf und riss ihm das Ende des Seils aus der Hand. Er zerrte den Widder an der kurzen Leine auf die kleine Landbrücke zu, die noch zwischen ihnen und der Wurt aus dem Wasser ragte. Glücklicherweise war Hinnerk nicht so widerspenstig wie sonst. Mit etwas Glück würde die gerade erfahrene Lektion sogar noch anhalten bis sie die Wurt erreichten.

Nun wieder hoffnungsvoll blökend, folgte die Schafherde ihrem Leitwidder. Die beiden Knechte machten sich derweil daran, verstreute Schafe, die schon durch Wasserlachen abgeschnitten waren und sich alleine nicht trauten durch die Pfützen zu laufen, zur Herde zu treiben.

Als Ordulf und die beiden Knechte schließlich mit einem Großteil der Schafe die Wurt erreichten, waren der Vater und die Brüder mit den Pferden bereits zurückgekehrt. Die Flut stieg weiter. Beängstigend schnell, aber um die Wurt selbst fürchtete Ordulf so lange nach der Tag- und Nachtgleiche nun doch nicht mehr. Trotzdem war es für alle Wurtmannen – so nannten sich die Bewohner der Marsch, die auf ihren hoch aufgeworfenen Hügeln dem Ansturm der See trotzten – ein besorgniserregender Anblick zu dieser Jahreszeit, die gesamte Marsch von Wasser bedeckt zu sehen.

Ordulfs Blick suchte im Süden die große Wurt von Fahrstedt. Mit zusammengekniffenen Augen konnte er sie gerade noch erkennen. Sie ragte hoch wie ein stolzes Schiff aus der Wasserwüste. Dort saßen Wolderich und seine Sippe. Ihre eigene Wurt, welche Swæn, Ordulfs Großvater, mit eigenen Händen aufgerichtet hatte, war deutlich kleiner und trug nur einen einzigen Hof. Aber Ordulf vermutete, dass sie es mit dem ihrer Familie eigenen Jähzorn ohnehin nicht lange mit Nachbarn auf so engem Raum aushalten würden.

Pert Acaiseid, Orcaden, November 441

Álainn

Der Wind wirbelte in ihrem Haar und genauso wirbelte und peitschte er die grauen Wogen auf den Fels am Fuße der Festung. Die See gischtete über die Klippen bis zu ihr hinauf. Sie schmeckte Salz auf den Lippen. Ebenso salzig brannten die Tränen in ihren Augen, doch sie riss sich zusammen und klammerte sich am Rand der felsigen Klippe fest, damit die wilde Kraft des Windes sie nicht hinab warf. Und doch war solche ungezügelte Stärke das Einzige, was Halt bot. Das war die wichtigste Lektion, die Álainn in ihrem jungen Leben gelernt hatte. In den letzten sechs Monaten war sie eine Piktin geworden, zumindest dem äußeren Anschein nach. Eine Sklavin jener Barbaren, die den blutigen Kopf ihrer Mutter auf einen Haufen geworfen hatten. Sie konnte es selber kaum glauben, dass vor nicht einmal einem Jahr ihre größten Sorgen die zunehmende Vergesslichkeit der Mutter und die Arroganz des Großbauern Caellach gewesen waren. Was hätte sie nun nicht alles gegeben, diesen selbstgerechten Comarchus, wie er sich stolz nannte, wiederzusehen. Widerwillig riss sich Álainn von ihren Gedanken und dem Anblick der grauen See los, die so verlockend die Freiheit versprach. Sie erreichte den niedrigen Eingang der runden Steinhütte gerade, als im Dorf die ersten Hähne krähten.

Hengist und Horsa. Die Britannien-Saga

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