Читать книгу Hengist und Horsa. Die Britannien-Saga - Sven R. Kantelhardt - Страница 8

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III. Gewitterwolken am Horizont

Regulbium, Mai 441

Tallanus

Tallanus fuhr herum. Waren es die gerufenen Sachsen? Tatsächlich zeigten sich draußen auf dem Meer mehrere graue Schatten. Wie hungrige Wölfe, dachte er schaudernd. Er konnte aber noch nicht klar erkennen, wen er da vor sich hatte. Waren es Sachsen oder Pikten? Er beschattete seine Augen mit der flachen Hand und blickte angestrengt auf die sich langsam nähernden Boote.

„Wir müssen die Leute im Dorf warnen“, drängte Álainn.

Tallanus starrte weiter auf die See, er konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen. Waren es die frisch geworbenen Auxiliares oder doch Piraten? Álainn fasste seine Hand und zog heftig daran. Das tat sie sonst nie, die ungewohnte Berührung riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja, wir sollten sie warnen“, stimmte er ihr zu.

Besser die Menschen brachten sich einmal zu oft in Sicherheit, als einmal zu wenig. Wieso hatte er nur so lange gezögert? Bei einem Überfall entschied die Schnelligkeit über Leben und Tod, jeder Augenblick war kostbar. Sie hasteten den Hügel hinunter zum Dorf.

„Schiffe am Horizont! Bringt euch in Sicherheit!“, rief er schon von weitem. Einige Menschen blieben wie betäubt stehen, zu erschrocken zum Handeln. Andere griffen den Ruf auf und trugen ihn weiter. Schließlich fanden sie Caellach, den Comarchus.

„Wie viele Schiffe? Von wo kommen sie? Wann werden sie da sein? Sachsen? Pikten? W…“

„Noch zu weit weg, habe sie nicht erkennen können“, unterbrach Tallanus atemlos den Schwall von Fragen.

„Morgan, Ninian!“, rief Caellach zwei Halbwüchsigen zu, die mit offenen Mündern dabei standen. „Ihr lauft auf die Höhe und beobachtet die Fremden. Wenn ihr erkennen könnt, wie viele es sind und wohin sie sich wenden, dann kommt einer von euch unverzüglich zurück und berichtet mir!“

Tallanus stürzte weiter, um seine wenigen Habseligkeiten zu retten. „Packt alle Wertsachen zusammen – wir müssen in den Wald!“, rief er, als er die niedrige Kate seines Onkels, des letzten in Regulbium lebenden Verwandten, betrat.

Da gellte der Ruf „Pikten“ von draußen herein. Tallanus bekreuzigte sich. Warum hatte er nur gezögert? Wenn Álainn nicht gewesen wäre … Bald lief er mit seinem alten Onkel und dessen einziger Milchkuh im Schlepptau auf den nahen Waldrand zu. Die vorsichtigsten und schnellsten Dorfbewohner verschwanden gerade vor ihnen zwischen den Bäumen. Tallanus blickte zurück. Die Boote konnte man nun bereits klar erkennen, aber noch immer waren nicht alle Menschen aus dem Dorf geflohen. Einige waren zu alt und krank, andere zu geizig und konnten sich nicht von ihrem Besitz trennen. Wo war nur Álainn? Hoffentlich hatte sie bereits die Sicherheit des Waldes erreicht.

Regulbium, Mai 441

Álainn

Wo blieb nur ihre Mutter? Sie selbst hatte hastig einen Beutel mit Essen und einige Decken zusammengerafft, aber die alte Frau tauchte einfach nicht auf. Verzweifelt lief Álainn zurück in ihre Hütte. Dort stand ihre Mutter vor der offenen Truhe und blickte scheinbar orientierungslos auf ihre Sachen.

„Mutter komm! Die Pikten sind da!“

Ihre Mutter sah sie verständnislos an. „Welche Pikten? Ich weiß noch gar nicht, was ich zur Hochzeit anziehen soll.“

Schon seit einigen Jahren vergaß ihre Mutter immer wieder Dinge und in den letzten Monaten war es immer schlimmer geworden, aber sie konnte doch unmöglich die Pikten vergessen haben.

„Welche Hochzeit denn?“, fragte Álainn verwirrt.

„Na die von Coira und Gail natürlich.“

Die war nun schon vier Jahre her. Oder waren es fünf? Verzweifelt griff Álainn nach der Hand ihrer Mutter und zerrte sie unter lautem Protest aus der Hütte. Im Dorf waren noch einige Leute und weitere rannten vor ihnen in Richtung Wald. Sie waren nicht die Letzten. Doch irgendetwas stimmte nicht in dem Bild. Sie blickte noch einmal zurück und der Schreck schnürte ihr die Kehle zu.

Am Strand unter dem alten Kastell lag eine Reihe von Booten, die dort nicht hingehörten. Lederbespannte Curachs! Und da erhob sich auch schon Kampfgeschrei und das Klirren von Waffen und zerbrechendem Geschirr mischte sich mit den Hilferufen derer, die zu spät geflohen waren. Wie sie selbst.

Plötzlich tauchten zwei Fremde hinter der nächsten Hütte auf. Sie waren fast nackt und mit wilden blauen Mustern bemalt. Álainn schrie auf, drückte ihre Mutter an die Hauswand und stellte sich schützend vor sie. Der Schnurrbart des ersten Angreifers bog sich zu einem Grinsen. Er hob seine Axt. Instinktiv streckte sie die Hände zur Abwehr hoch, doch der Schlag traf sie unerwartet fest. Sie spürte noch, wie sich einer ihrer Finger schmerzhaft überdehnte, dann wurde es um Álainn herum dunkel.

Beufleet, April 441

Ceretic

„Silber? Wie viel Silber?“, fragte Hengist.

Ceretic seufzte innerlich. Das war das Einzige, was den Sachsen zu interessieren schien. Er hielt dem bohrenden Blick seines Gegenübers stand. Hengists eisgraue Augen starrten ihn unter buschigen rotblonden Brauen unverwandt an. Ceretic fröstelte. Zwinkerte Hengist niemals?

Es würde schwer werden, ein stabiles Bündnis zwischen Britanniern und Sachsen zu schmieden. Eine Treue, die allein auf Silber beruhte, konnte jederzeit überboten werden. Vielleicht würden im Laufe der Zeit Familienbande hinzukommen und den Mammon ersetzen? Bei diesem Gedanken erschien seltsamerweise das Bild von Hengists schöner Tochter vor seinem geistigen Auge.

„Ich habe natürlich nur eine Anzahlung dabei, aber Vortigern hat viel Silber in seinem Hort, viel mehr Silber. Er ist der Hochkönig Britanniens!“, antwortete er diplomatisch und griff mit weit ausholendem Gebaren in den Beutel an seinem Gürtel. Es klirrte hell und als Ceretic die Hand herauszog, war sie mit Silbermünzen gefüllt. Hengist pfiff erstaunt durch die Zähne und Ceretic atmete auf. Wenn sich auch dieser Wilde von einer einzigen Handvoll Silber blenden ließ, würde es vielleicht doch gelingen, die Sachsen als Auxiliares zu werben.

„Bringt Met, wir wollen den Boten des britannischen Hochkönigs gebührend empfangen!“, rief Hengist laut und schon eilte Rowena mit einem großen Büffelhorn herbei. Hinter ihr brachten weitere Frauen mehr Trinkhörner herein.

„Rowena, meine Tochter“, bemerkte Hengist.

„Wir haben uns schon getroffen“, stieß Ceretic so unbeteiligt wie möglich hervor und hoffte inständig, dass die brennende Röte, die ihm in die Wangen stieg, niemandem auffiel. Rowena schenkte ihm ein kurzes Lächeln, als sie ihrem Vater das Horn reichte, dann machte sie einen Knicks und verschwand wieder.

Hengist nahm einen tiefen Zug und reichte das Horn mit dem süßen Gebräu an Ceretic weiter. „Ein prächtiges Mädchen, nicht wahr?“ Für einen Augenblick glättete ein seltenes Lächeln seine harten Züge. Ceretic wollte gerade zustimmen, da kehrten die scharfen Falten zurück. „Wehe, wenn sich irgendein Kerl an sie heranmacht. Die Schicksalsfrauen haben Rowena bestimmt, einmal Königin zu werden.“

Ceretic spürte fast körperlich einen Stich in seiner Brust. Wie sollten seine Bündnispläne bei diesem finsteren und herrischen Mann eine Chance haben?

Hengist fuhr ungerührt mit seiner Vorstellung fort. „Und das hier ist mein Sohn Oisc.“ Dabei zog er einen aufgeweckten Blondschopf von vielleicht zwölf Jahren an der Schulter von seinem etwa ebenso alten Spielkameraden weg.

„Hallo“, bemerkte Oisc kurz und war schon wieder verschwunden.

Hengist schmunzelte ihm hinterher. „Eigentlich heißt er Octha, aber alle nennen ihn Oisc, ich weiß selbst nicht warum, hat sich einfach so eingeschlichen. Der andere Junge war übrigens Ebissa, der Sohn meines Bruders Horsa.“

Dithmarschen, Mai 441

Ordulf

Am Abend im Familienrat war die Stimmung noch düsterer als das heraufziehende Gewitter. Die Stube wurde spärlich durch die Glut des langsam verlöschenden Herdfeuers erleuchtet, das dann und wann noch einmal von einem kräftigen Luftzug angefacht wurde, wenn die ersten Gewitterböen durch das Windauge im Giebel pfiffen. Das rote Licht der Glut und tiefe Schatten zeichneten die Züge des Vaters noch schärfer nach, als sie bei Tageslicht schon waren.

„Du willst das Land unserer Väter verlassen, die Wurt, die dein Großvater mit eigenen Händen gebaut hat?“, grollte der alte Swæn seinen Sohn und Stammhalter an. „Und deine beiden Brüder willst du gleich noch mitnehmen?“ Dabei schaute er mit grimmig zusammengezogenen Brauen zwischen Agill und Ordulf hin und her, die sich auf der langen Wandbank so schmal wie möglich machten. „Und mich wollt ihr mit eurer alten Mutter und ein paar Knechten allein zurücklassen? Schöne Söhne habe ich da herangezogen!“

„Das Meer steigt jedes Jahr höher“, warf der jüngere Swæn ein.

„Dann nimm dir ein Beispiel an deinem Großvater und mach auch die Wurt höher!“, schimpfte sein Vater.

„Aber Swæn“, unterbrach ihn seine Frau Wiebke. „Du weißt selbst, dass ein Mann bei Zeiten losziehen und Silber und Ruhm erwerben muss. Das ist seit jeher so gewesen und du selbst hättest mich wohl kaum auf diesen matschigen Hügel bekommen, wenn du nicht vorher deine Tapferkeit und Tüchtigkeit mit dem Schwert bewiesen hättest. Swæn und Agill sind nun alt genug. Lass sie ziehen. Im Herbst werden sie mit Ruhm und vielen guten Silberstücken heimkehren. Nur Ordulf ist noch zu jung.“

„Aber ich bin doch gar nicht zu jung und ich will …“, begann Ordulf.

„Ruhe! Du bleibst hier auf dem Hof. Jetzt erst recht, wo du dich vor den verdammten Ebbingemannen so blamiert hast“, donnerte sein Vater. Wie immer gefiel es ihm gar nicht, wenn sich seine Frau einmischte. Insbesondere da er, wie ebenfalls üblich, nicht gegen Wiebkes Argumente ankam. „Wir reden morgen noch einmal über die Sache“, knurrte er, um sein Gesicht zu wahren, auch wenn jedem klar war, dass es niemals dazu kommen würde. „Es ist schon spät. Dann wollen wir mal nach dem Bette hingehen, gute Nacht euch allen“, grollte er und verschwand in die Kammer hinter dem Herd, die er mit seiner Frau teilte.

Beufleet, Mai 441

Ceretic

Eigentlich konnte Ceretic zufrieden sein. Er hatte mit Hengist den richtigen Mann für Vortigerns Plan gewonnen. Der finstere Held ließ sich täglich vom unerschöpflichen Silberhort des Hochkönigs erzählen und auch sein Bruder Horsa lauschte gebannt, wenn Ceretic von den grünen Weiden seiner Heimat schwärmte.

„Aus Silber mache ich mir nicht viel, das ist eher etwas für meinen Bruder. Aber wenn Vortigern uns auf gutes Land setzt und mit Nahrung und Kleidung versorgt, ist das einen rechten Kampf wert“, bemerkte er einmal.

Dennoch waren die Tage an Hengists Hof für Ceretic eine ständige Qual. Er sah Rowena dauernd, aber immer nur von weitem im Kreis der Frauen und Mägde. Es erschien ihm unmöglich, sich ihr unter den Augen des grimmigen Vaters zu nähern. Der stolze Blick, den sie ihm am Ende ihrer ersten Begegnung, also der ersten Ceretic bewussten Begegnung, zugeworfen hatte, ließ darauf schließen, dass auch sie die von Hengist erwähnte Prophezeiung kannte. Außerdem hatte er einen Auftrag und durfte diesen nicht um seiner eigenen romantischen Gefühle willen gefährden. Der Hochkönig und das arme britannische Volk harrten bang auf den Ausgang seiner Unternehmung. Und überhaupt, diese Rowena war eine Barbarin.

Doch alle Argumente vermochten sein aufgewühltes Gemüt nicht zu beruhigen. Jeden Tag empfing er zusammen mit Hengist die Krieger, die sich der geplanten Fahrt anschließen wollten, auf dem Hof. Zwischendurch begleitete er oft einen der beiden Brüder, die abwechselnd mit den bereits versammelten Recken auf den Salzwiesen zu Füßen der Wurt Zweikämpfe oder den Angriff im Keil übten. Tavish und Malo nahmen inzwischen an den Waffenübungen teil, als gehörten sie selbst zu den Sachsen. Hengist verteilte großzügig Ceretics, oder eigentlich richtiger: Vortigerns, Silber, aber zu diesem Zweck hatte Ceretic es schließlich hergebracht. Und die versammelten Krieger mussten ernährt und bei Laune gehalten werden. Nach zwei Wochen bahnten sich auch für Ceretic persönlich bessere Zeiten an.

„Ich will auch über die Ælf zu den Dithmarschen fahren und dort Männer werben. Das sind zwar eigensinnige Dickköpfe, aber wenn es hart auf hart kommt, halten ihre Schädel einiges aus“, verkündete Hengist eines Morgens. „Ich denke, du, Ceretic, solltest mit meinem Bruder hier bleiben, falls zwischendurch weitere Krieger aus Keydingen oder dem Bardengau eintreffen. Passt mir gut auf Oisc und Rowena auf.“

Ceretics Herz tat einen Luftsprung. Horsa war ein umgänglicher Mann und Ceretic mochte ihn, aber vor allem würde es ihm nun vielleicht gelingen, Rowena wieder unter vier Augen zu sprechen. Um den jungen Oisc mochte sich dann Horsa kümmern.

Am Abend nach Hengists Abreise, kurz bevor die Frauen loszogen, um Wasser aus dem nahen Fleet zu schöpfen, schlich sich Ceretic aus der Halle. Mit klopfendem Herzen lenkte er seine Schritte in Richtung des Tores in der kräftigen Palisade, die Hengists Hof und Wurt umgab. Kurz vor dem Tor bog er links ab und blieb hinter der alten Scheune unschlüssig stehen. Wie sollte er es anstellen, Rowena auf sich aufmerksam zu machen? Da hörte er bereits das Geplauder der Frauen vom Torweg herüberklingen. Ceretic zog sich in den Schatten des tief gezogenen Reetdachs der Scheune zurück. Die Frauen bemerkten ihn nicht und zogen an ihm vorbei zum nahegelegenen Fleet. Rowena war unter ihnen. Ceretic sah hilflos zu, wie sie mit ihren Kameradinnen durch das Tor verschwand. Etwas später tauchten alle wieder auf, weiterhin eifrig tratschend, schwere Wassereimer in den Händen. Ceretic hatte nur Augen für Rowena, aber allein mit seinen Blicken konnte er sie nicht von den übrigen Weibern trennen. Wütend und enttäuscht stampfte er auf. Er würde noch einige Augenblicke im Schatten verharren und dann unverrichteter Dinge wieder in die Halle zurückkehren.

Plötzlich knarrte es hinter ihm. Ceretic fuhr herum und es verschlug ihm den Atem, als er eine weibliche Gestalt in einer Tür der Scheune stehen sah. Doch dann traf ihn die Enttäuschung wie ein Schlag. Vor ihm stand nicht Rowena, sondern eine kleine rothaarige Magd.

„Wie kann ich Euch behilflich sein? Ich komme gerade von …“, begann er steif, aber das freche Ding unterbrach ihn.

„Ja, ja, kann ich mir denken. Meine Herrin schickt mich. Morgen Nachmittag gehen wir zum Waschen an den Fleet. Am anderen Ufer gibt es eine gute, tiefe Stelle und eine Wiese, die wir zum Bleichen der Wäsche nutzen. Wir werden bei Ebbe hinüber gehen und du sollst dort im Gebüsch auf sie warten.“ Damit war sie wieder verschwunden.

Ceretic schaute benommen auf die knorrige Eichentür in der alten Scheunenwand. Doch die alten Bohlen verrieten durch nichts, ob er tatsächlich gerade eine Botschaft von Rowena erhalten oder alles nur geträumt hatte. Er zog seinen Mantel dichter um die Schultern und ging gemessenen Schrittes zur Halle zurück.

„Was ist dir denn widerfahren?“, begrüßte ihn Tavish erstaunt. „Du grinst ja, als habe dich der Hochkönig gerade in den Ritterstand erhoben.“

Am nächsten Morgen bat Ceretic Horsa um ein Pferd. „Ich will den Nachmittag für einen Ausritt nutzen, mich etwas bewegen und die Gegend in Augenschein nehmen.“

„Kannst du gern. Ich selbst habe noch auf dem Hof zu tun, aber ich gebe dir einen meiner Männer mit, damit sie dir das Land zeigen und dich beschützen“, schlug Horsa vor.

„Das wird nicht nötig sein“, beeilte sich Ceretic zu widersprechen. „Ich beherrsche die sächsische Sprache schon ganz gut und wenn mich jemand fragt, sage ich ihm einfach, ich gehöre zu Hengist und dir. Dann wird es niemand wagen, sich an mir zu vergreifen.“

Die Antwort brachte Horsa zum Schmunzeln. „Aber du kennst die Gegend doch gar nicht, also nimm mein Angebot schon an“, insistierte er dennoch.

„Weißt du, Horsa, nach der langen Zeit auf See und dann dem untätigen Leben auf dem Hof … Ich fürchte, dass ich ein wenig eingerostet bin und nicht mehr ganz sicher im Sattel sitze. Ich würde lieber allein ein paar Stunden losziehen. Niemand soll später sagen, wir Britannier könnten nicht reiten.“

Dagegen wusste auch der gutmütige Horsa nichts einzuwenden. So ließ er für Ceretic eine ziemlich gemütlich aussehende Mähre satteln. Ceretic verzog beim Anblick des Pferdes säuerlich den Mund. Eigentlich war er ein sicherer Reiter und liebend gern hätte er einen der feurigen Hengste gewählt. Die sächsischen Pferde waren allesamt viel größer und vermutlich auch schneller, als die britannischen Ponys. Doch er fügte sich schweigend und stieg in den Sattel. Das war angesichts der Größe des Rosses gar nicht so einfach. Ceretic musste sich ein zweites Mal mit viel Schwung hochstemmen, um es bis in den Sattel zu schaffen. Horsa sah ihm belustigt zu.

„Wie macht ihr das denn sonst?“, fragte Ceretic mit unterdrücktem Ärger.

„Dafür gibt es diese Schlaufen hier“, entgegnete Horsa gut gelaunt und hob eine der Lederschlaufen an, die in Höhe des Sattelgurtes neben dem Bauch des Tieres hingen und als Aufsteighilfe dienten. „Habt ihr die in Britannien etwa nicht?“

„Brauch ich nicht“, erklärte Ceretic peinlich berührt. Rasch drückte er dem Pferd die Waden in die Flanken, woraufhin es sich gemächlich in Bewegung setzte. Ceretic lenkte das Tier dem Lauf des Beufleetes folgend nach Süden. Bald zweigte rechter Hand ein Pfad ab, der nach wenigen hundert Schritten in einem Bruchwald verschwand. Ceretic schauderte. Hengist hatte erwähnt, dass hinter dem Gehölz das Opfermoor lag. Die warme Sonne in seinem Gesicht vertrieb die düsteren Gedanken rasch und Ceretic folgte weiter dem festen Uferweg.

Als er sich nach etwa einer halben Stunde ausreichend weit vom Hof entfernt wähnte, trieb er sein Reittier in einen langsamen Trab. Nachdem noch einmal dieselbe Zeitspanne verstrichen war, überquerte er den hier nur noch wenige Schritte breiten Fleet und kehrte in einem weiten Bogen nach Norden um. Dichtes Gebüsch bedeckte das unbebaute Land. Glücklicherweise durchschnitten kleinere Wildwechsel und Bachläufe das Dickicht, sodass Ceretic weiterhin gut vorankam. Doch mit zunehmender Entfernung von dem Wasser ziehenden Fleet, wurde auch auf dieser Seite der Boden immer morastiger. Schilf säumte besonders feuchte Stellen.

Plötzlich brach sein Pferd mit der Vorderhand ein. Ceretic klammerte sich erschrocken an der Mähne fest. Beinahe wäre er in den Sumpf gestürzt. Dieses Moor war wirklich heimtückisch. Er konnte sich wahrhaftig gut vorstellen, dass die heidnischen Unholde sich solch einen Ort aussuchten, um armen Seelen aufzulauern und ihre schaurigen Opfer zu empfangen. Ceretic schickte ein leises Stoßgebet zum Himmel hinauf. Immerhin war sein Pferd nicht in Panik verfallen. Das ließ doch eigentlich darauf schließen, dass ihm solche Situationen nicht völlig fremd waren, überlegte er. Beklommen versuchte er, die in ihm selbst aufkeimende Panik zu unterdrücken und lehnte sich im Sattel nach hinten, um die Vorderhand der Stute zu entlasten. Tatsächlich zog das treue Pferd, begleitet vom kräftigen Schmatzen des Schlamms, erst den rechten, dann den linken Huf aus dem Morast. Ceretic verharrte reglos im Sattel und blickte prüfend in alle Himmelsrichtungen, doch es zeigte sich keine Menschenseele, die sein Ungeschick beobachtet hätte. Er beschloss, blind auf die Instinkte seines Reittiers zu vertrauen. Langsam, aber doch zielstrebig, setzte die Stute nun einen Huf vor den anderen, bis sie wieder den höher gelegenen Marschboden unter sich hatten.

In einem kleinen Wäldchen ließ sich Ceretic erschöpft aus dem Sattel gleiten. Tief atmete er durch. Vielleicht war Horsas Rat, einen Führer mitzunehmen, doch nicht so überflüssig gewesen. Er nahm seiner Stute Sattel und Zaumzeug ab und band sie mit einer langen Schnur an einem der niedrigen Bäume in Schulterhöhe fest. So könnte sie zwar mit dem Maul den Boden erreichen, aber nicht mit den Beinen über die Leine steigen und sich darin verheddern. Zufrieden betrachtete Ceretic, wie das Pferd zu grasen begann. Dann blickte er sich nochmals prüfend um. Niemand störte die Ruhe des Nachmittags.

Eilig wandte er sich zu Fuß zurück in Richtung des Beufleets. Anhand des Sonnenstandes schätzte er, dass ihm noch etwa zwei Stunden bis zu dem geplanten Treffen blieben, aber er wollte die besagte Stelle am Ufer des Fleets lieber noch in aller Ruhe in Augenschein nehmen, bevor Rowena mit ihren Gefährtinnen dort auftauchte.

Bald ging der niedrige Bruchwald, in dem Ceretic sein Pferd versteckt hatte, in das dichte Buschwerk über, welches binnenwärts an die salzigen Marschen anschloss. Nun, bei Ebbe, waren die meisten der kleinen Wasserläufe hier trockengefallen. Ceretic versuchte sich anhand der Sonne zu orientieren und hoffte, dass ihn der gewundene Wildwechsel, dem er folgte, irgendwann zum Fleet führen würde. Tatsächlich erblickte er nach einer Weile vor sich die Dächer der Beufleeter Wurtsiedlung über dem Geäst.

Bald darauf erreichte er eine größere, mit saftigem Gras bewachsene Lichtung. Das gesuchte Ufer des Fleets befand sich direkt dahinter, nur durch einen letzten dichten Streifen Buschwerk verdeckt. Noch befand sich keine Menschenseele an diesem Ufer des Fleets. Ceretic vermutete, dass es sich bei der freien Grasfläche vor ihm um die von der Magd erwähnte Wiese handelte. Daher verbarg er sich tief in dem Streifen Buschwerk zwischen Wiese und Fleet, aber so, dass er beide Seiten durch das Blattwerk im Auge behalten konnte. Aufgeregt versuchte er, sowohl die Zeit als auch die Mücken, die ihn stürmisch begrüßten, totzuschlagen.

Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, bis endlich eine Reihe Frauen im Hoftor von Beufleet erschien. Schwer beladen mit Waschbrettern und Körben strebten sie dem Fleet zu. Ceretic hielt den Atem an, als sie durch das niedrige Wasser des Fleets wateten. Als er Rowena erkannte, tat sein Herz einen Luftsprung, während nur wenige Schritte von ihm entfernt die Frauen mit dem Waschen begannen.

Seine Geduld wurde auf eine neue harte Probe gestellt. Die Frauen waren nicht in Eile und auch Rowena tratschte eifrig mit ihren Kameradinnen und sah sich nicht einmal nach ihm um. Ceretics Gefühle schwankten zwischen wilder Freude und tiefer Niedergeschlagenheit, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als reglos und still in seinem Versteck auszuharren. Nach einer Weile kamen die ersten Wäscherinnen durch einen schmalen Hohlweg auf die Lichtung in Ceretics Rücken. Wie erwartet breiteten sie die fertige Wäsche auf dem saftigen Grün zum Bleichen aus. Wieder und wieder frage er sich, wie Rowena es nur anstellen wollte, hier unbemerkt mit ihm Kontakt aufzunehmen. Doch ihm fiel keine Lösung ein und so gewann die Niedergeschlagenheit in seinen Gedanken an Raum. Er wagte es kaum, die Äste weit genug auseinander zu biegen, um sie zu betrachten, geschweige denn ihr ein Zeichen zu geben.

Als die Sonne bereits tief im Westen stand und den Himmel in leuchtendes Orange tauchte, begannen die Frauen ihre Sachen einzusammeln. Schließlich zogen sie allesamt, weiterhin munter plaudernd, mit Körben voll frisch gewaschener Wäsche über die Furt. Rowena ging mit ihnen. Ceretic wurde schmerzhaft bewusst, dass die fremde Magd, oder gar Rowena selbst, ihn zum Narren gehalten hatte! Er schalt sich einen Dummkopf. Wie hatte er glauben können, dass sich die hochmütige Tochter Hengists dazu herabließ, ihn zu treffen? In aller Heimlichkeit, ohne dass der Vater etwas merkte! Pah, was für ein Narr er war.

Gerade wollte er seinen Platz räumen, um zu seinem Pferd zu schleichen, da sah er aus dem Augenwinkel, dass die Mädchen auf der anderen Seite des Fleetes angehalten hatten. Rowena setzte plötzlich ihren Korb ab und wühlte in der frischen Wäsche. Aufgeregt redete sie auf ihre Gefährtinnen ein. Ceretic beschloss, dass es wohl sicherer wäre noch abzuwarten, bis sie gänzlich verschwunden wären. Sonst würde man ihn entdecken und dann würde er endgültig zum Gespött der Sachsen!

Rowena drehte um und trat entschlossen in die Furt, zurück auf seine Seite. Und diesmal begleitete sie nur die kleine rothaarige Magd! Ceretic konnte sein Glück kaum fassen. Hastig trat er aus dem Gebüsch auf die Lichtung und strich Kleider und Haar glatt. Da kam Rowena auch schon durch den Hohlweg gelaufen. Ein wenig außer Atem und eine sanfte Röte auf den Wangen. Wahrscheinlich vom Laufen, überlegte Ceretic. Mit klopfendem Herzen schritt er auf sie zu und streckte ihr beide Hände entgegen. Zu seiner Enttäuschung warf sie sich aber nicht in seine Arme, sondern ergriff die dargebotenen Hände.

„Rowena“, flüsterte er und blickte in die blauen Augen, die ihm in den letzten Wochen den Schlaf geraubt hatten. „Ich ergebe mich dir, du hältst mich in deiner Hand. Ich habe mich in den letzten Wochen nach dir verzehrt!“

Ihr standen Tränen in den Augen. „Einen Mann wie dich habe ich noch nie getroffen. So …“ Ihr schienen die rechten Worte zu fehlen. „So ganz anders als die lärmenden Krieger in der Halle meines Vaters und doch bringt deine Stimme sie alle zum Schweigen. Ach Ceretic, wenn diese Prophezeiung nicht wäre, könnte ich denken …“ Schon wieder brach sie ab. Und viel sprachen sie nicht mehr, zu stark waren ihrer beider Gefühle.

Nach einem Augenblick, so schien es Ceretic, wandte sich das Mädchen wieder zum Gehen. Er bewunderte ihren schlanken Körper, wie sie sich in das Gebüsch duckte, um ein scheinbar vergessenes Kleidungsstück hervorzuziehen, dann drehte sie sich ihm noch einmal zu ihm um und drückte einen leichten Kuss auf seine Wange.

„Bis bald“, hauchte sie und war schon verschwunden. Er hörte, wie die rothaarige Magd sie mit einem verdrießlichen „endlich“ auf der anderen Seite des Gebüsches empfing. Dann herrschte wieder Stille. Erst jetzt bemerkte Ceretic, dass sich der Himmel bereits tiefrot verfärbt hatte. Während sie Hand in Hand gestanden hatten, musste die Zeit nur so geflogen sein. Ceretic löste sich aus seiner Erstarrung und machte sich beschwingt auf, um sein wartendes Pferd zu suchen. Die einsetzende Dämmerung und das nun wieder steigende Wasser bereiteten ihm einige Schwierigkeiten, doch das tat seiner Hochstimmung keinen Abbruch. Schließlich fand er die Baumgruppe mit dem ihm erleichtert zuwiehernden Ross.

Dithmarschen, Mai 441

Ordulf

Swæn und Agill übten sich nun täglich im Umgang mit den Waffen. Ständig schleuderten sie Speere und Äxte oder liefen mit Schild, Schwert und Sax über den Hof und das Vorland. Ordulf musste einen umso größeren Teil der Hofarbeit verrichten. Nur wenn sie den Kampf Mann gegen Mann übten, mit Schilden, Holzknüppeln und Stangen, durfte er als Gegner herhalten. Abends blieb ihm zu alledem noch der Spott der aufgeregten Brüder. Innerlich kochte Ordulf über diese Ungerechtigkeit. Eine Woche vor dem geplanten Aufbruch rief Agill ihn wieder zu solch einem Übungsgefecht.

„Du hast genug mit den Lämmern gespielt, Kleiner. Komm und spiel einmal einen Britannier!“

„Einen Pikten“, verbesserte ihn Swæn grinsend.

Ordulf kam wütend aus dem Schafspferch geschossen. Agill stand breitbeinig auf dem Hof, Schild und Knüppel drohend erhoben. Als sich Ordulf bückte, um seine Waffen vom Boden aufzuheben, schlug ihm sein Bruder zum Spaß auf den Kopf, aber der Hieb traf fester, als Agill geplant hatte, denn Ordulf richtete sich gerade im selben Moment auf. Der Knüppel traf Ordulf an der Augenbraue. Erstaunt und etwas benommen sah der sein eigenes Blut auf den eisernen Beschlag des Schildes tropfen. Plötzlich sah er auch mit dem anderen Auge rot. Er stieß den Rand seines Schilds dem überraschten Bruder unter dessen Schildrand hindurch in den Unterleib. Als Agill sich vor Schmerz zusammenkrümmte, sprang Ordulf auf und holte mit aller Kraft zum Schlag aus. Eigentlich wollte er in blinder Wut den Kopf des Bruders zerschmettern, aber der wandte sich noch in letzter Sekunde zur Seite und so traf Ordulf seine rechte Schulter. Man hörte ein trockenes Knacken und Agill sprang mit einem Schmerzensschrei zurück.

Ordulfs Blick wurde wieder klar.

„Bist du verrückt?“, schrie Swæn und lief zu dem verletzten Agill. Der blickte mit hängender rechter Schulter erschrocken auf Ordulf. Im Verlauf des Schlüsselbeins zeichnete sich eine scharfe Kante ab, die vorher nicht dort gewesen war. Swæn betastete den verletzten Bereich und es gab ein hässliches reibendes Geräusch.

„Aua, verdammt“, stöhnte Agill.

„Was sollte das?“, rief Swæn mit einem finsteren Blick auf seinen jüngsten Bruder.

Da trat Vater Swæn aus dem Schatten des Langhauses. Langsam schritt er zu seinem Sohn herüber und besah sich die Verletzung.

„Tja, das Schlüsselbein ist gebrochen“, stellte er trocken fest. „Du hättest deinen Bruder nicht so sehr reizen dürfen, du weißt doch, wie heiß das swænsche Blut ist! Mit einem Kriegszug wird es dieses Jahr jedenfalls nichts mehr.“

Agill ließ erschrocken und enttäuscht auch die andere Schulter hängen. Ordulf überkam eine Welle der Reue und des Mitleids. Was hatte er nur getan? Seinen eigenen Bruder kampfunfähig schlagen! Da richtete Vater Swæn seinen Blick streng und fest auf ihn. Ordulf schluckte. Er hatte keine Ahnung, wie ihn der Vater strafen würde, aber es war alles selbst eingebrockt. Seinem ältesten Bruder Swæn hatte er schon einmal einen Zahn ausgeschlagen, aber damals war er noch sehr klein gewesen und es hatte sich auch nur um einen Milchzahn gehandelt.

„Du kommst auf deinen Großvater“, stellte der Vater düster fest. „Vielleicht ist das ein Wink der Schicksalsfrauen, dass nicht Agill, sondern du mit nach Britannien ziehen sollst.“

Hatte Ordulf richtig gehört? Keine Strafe, sondern im Gegenteil, er durfte mit Hengist ziehen?

„Aber jetzt musst du erst einmal die Arbeit deines Bruder und die Waffenübungen gleichzeitig hinbekommen. Bevor wir nicht alle Gräben neu ausgehoben haben, geht mir keiner von euch nach Haduloha, ganz egal was eure Mutter sagt.“

Ordulf hätte seinen Bruder Agill am liebsten umarmt, aber der war natürlich wenig begeistert und außerdem verbot die verletzte Schulter solche Annäherungen.

Eine alte Magd, die sich auf Kräuter und Heilkunde verstand, half Swæn schließlich, seinem Sohn einen Verband anzulegen, der, um beide Arme geschlungen, am Rücken verknotet wurde. Ganz so, dass er die hängende Schulter an ihrem eigentlichen Platz hielt.

Für Ordulf wurden es zwei harte Wochen. Vater Swæns Drohungen bezüglich der Gräben waren weniger besorgniserregend, denn sie hatten bereits im Frühjahr die meisten Gräben kontrolliert und Pflanzenreste und Schlick daraus entfernt. Aber es gab auch so noch genug zu tun. Pferdebohnen, Gerste, Hafer, Lein und Leindotter mussten gesät werden. Dazu kam, dass Agill ihn mit Verachtung strafte. Und auch sein ältester Bruder Swæn maulte über Ordulf.

„Deinetwegen kommen wir noch zu spät und die Keydinger und Haduloher nehmen uns die Plätze weg!“

Aber das alles machte Ordulf nichts aus. Er durfte mit Hengist nach Britannien!

Nach der Arbeit übte er verbissen mit den Waffen. Er kämpfte gegen seinen Bruder Swæn, den Vater oder einen der Knechte sooft sie Zeit für ihn erübrigen konnten, auch wenn gerade der älteste Bruder nun keinerlei Nachsicht mehr mit ihm übte und Ordulf manche Beule davon trug. Dann warf er Speere nach immer neuen Zielen. Meist waren es Grasbüschel im Umland und er lief hinter seinen Geschossen her und suchte ein neues Ziel, bis es zu dunkel wurde, um weiter zu machen. Anschließend stand Ordulf oft auf dem Hof und hielt Schild und Speer mit den Armen weit von sich gestreckt, bis sie zu zittern begannen und er erschöpft aufgeben musste.

Beufleet, Mai 441

Ceretic

Schon wieder ging ein Tag zu Ende. Inzwischen bedauerte Ceretic es zutiefst. Die Tage, die ihm zuvor endlos erschienen waren, verstrichen seit seinem ersten Treffen mit Rowena wie im Fluge. Seither war es immer schwieriger geworden, unbemerkt zu bleiben, denn das Lager am Fuße von Hengists Wurt wuchs mit jeder Woche, wenn Krieger aus dem gesamten nördlichen Sachsen herzuströmten. Kein Ort auf dem Hof versprach Ceretic und Rowena völlige Sicherheit vor Entdeckung. So blieben die Begegnungen mit ihr meist auf einen kurzen Händedruck und ein paar innige Worte beschränkt.

Nach zehn Tagen kehrte dann auch Hengist aus Dithmarschen zurück. Während die bereits versammelten Haduloher täglich in Keilen gegeneinander anstürmten und mit Holzschwertern um sich hieben, hatte er jenseits der Ælf zahlreiches junges Volk für seine Fahrt begeistern können.

„Sie folgen mir alle“, prahlte Hengist und Ceretic war sich nicht sicher, ob er sich dabei auf den johlenden Haufen der Haduloher oder die jungen Dithmarscher bezog, von denen er gerade berichtet hatte. „Wenn dein König nur genügend Silber hat, werde ich ihm das ganze Land der Pikten unterwerfen!“

Ceretic war unschlüssig, ob er sich über den raschen Fortgang der Dinge freuen sollte. Einerseits brachte ihn die erfolgreiche Anwerbung der Erfüllung seines Auftrages und der Rettung Britanniens näher. Andererseits raubte ihm der Gedanke an eine Trennung von Rowena fast den Atem. Er hatte seit Hengists Rückkehr keine einzige Gelegenheit mehr gefunden, ein intimes Wort mit ihr zu wechseln.

Zu Ceretics großer Erleichterung meldete sich Hengist bereits drei Wochen später erneut ab.

„Ich muss dringend nach Keydingen, um die Ausrüstung des dritten Schiffes zu überprüfen und die Männer dort auf Vordermann zu bringen“, eröffnete er eines Abends. „Wir haben inzwischen viele gute Recken versammelt. Wenn die Werbung weiter so voranschreitet, können wir wie geplant Ende des Monats in See stechen. Immerhin stoßen jetzt noch die ganzen Dithmarschen zu uns. Ihr, Horsa und Ceretic, werdet sie hier in meinem Namen empfangen.“ Bei diesen Worten schnaufte Horsa vernehmlich, aber Hengist sprach ungerührt weiter. „Ich reite Morgen bei Sonnenaufgang nach Keydingen und in drei Wochen rudern wir über die See gen Britannien!“

Ceretic schluckte. Drei Wochen nur noch! Die nahende Abreise legte sich wie ein düsterer Schatten auf sein Gemüt. Er musste Rowena unbedingt vorher unter vier Augen sprechen, koste es, was es wolle.

Die ganze folgende Nacht lag er wach auf seinem Lager und wälzte sich von einer auf die andere Seite. Er sann darüber nach, wie er sie nur einige Stunden für sich allein haben könnte. Doch schließlich war es Gutha, die kleine rothaarige Magd, die sich einmal mehr als treue und listige Botin erwies.

„Heute Abend wird Rowena zum Waschplatz kommen“, raunte sie ihm am Morgen nach Hengists Abreise zu, während sie seine Morgensuppe schöpfte.

Vor Aufregung schlug Ceretics Herz ganz wild. Vielleicht war das die letzte Gelegenheit, sich Rowena zu erklären.

Gegen Mittag erbat er von Horsa wieder ein Pferd für einen Ausritt. Inzwischen vertraute ihm Horsa ein ganz ordentliches Tier an. Einen braunen Wallach von vierzehn Jahren, ein wenig träge, aber ausgezeichnet zugeritten. Horsa suchte ihn selbst heraus und sah gemeinsam mit Ceretic zu, wie ein Knecht das Fell bürstete, die Hufe auskratzte und schließlich Sattel und Zaumzeug anlegte.

„Mir scheint, du hast große Fortschritte im Reiten gemacht und das ganz ohne Lehrer“, bemerkte Horsa schmunzelnd.

Ceretic lief rot an. Hatte Horsa ihn durchschaut oder plauderte er nur höflich? „Ich bin früher mehr geritten und komme langsam wieder rein“, antwortete er knapp.

Horsa ließ es dabei bewenden und hielt die Steigschlaufe auf der Gegenseite fest, als Ceretic diesmal nach sächsischer Art aufstieg.

„Fall nicht runter – du musst uns noch nach Britannien führen“, gab Horsa dem Britannier augenzwinkernd mit auf den Weg.

Ceretic schluckte seinen Stolz herunter und antwortete nicht. Das bevorstehende Treffen mit Rowena hatte ihm ohnehin den Mund ausgetrocknet.

Er lenkte sein Ross im Schritt von der Wurt. Wie beim vorigen Mal folgte er dem Beufleet nach Süden, aber diesmal überquerte er das Fleet bereits vor dem Moor. Die Erfahrung vom vorherigen Mal wollte er nicht wiederholen. Besorgt blickte er sich in alle Richtungen um. Zu leicht konnte einem der müßigen Krieger sein merkwürdiges Verhalten auffallen. Doch als er schließlich nach gut zwei Stunden die Baumgruppe, an der er sein Pferd schon während des ersten Stelldicheins angebunden hatte, erreichte, war er sich ziemlich sicher, dass ihm niemand gefolgt war. Er wartete dennoch eine Weile in Ruhe ab. Es war ohnehin noch viel zu früh, um sich zu seinem Versteck am Fleet zu begeben. Er versuchte, ein Gedicht für Rowena zu ersinnen, aber die sächsische Sprache war einfach zu ungelenk und seine keltische Muttersprache würde sie nicht verstehen. Schließlich gab er es auf und machte sich an den letzen Abschnitt seines Weges.

Diesmal folgte er gleich einem schmalen Wasserlauf, von dem er sich zu erinnern meinte, dass er zum Beufleet hinabführte. Die Ufer waren dicht mit Schilf und Rohr gesäumt, sodass er sich nicht um eine Entdeckung sorgen musste. Die letzen Schritte bis zum Fleet legte er dennoch in dem fast ausgetrockneten Graben kriechend zurück. Gierig stürzten sich die Mücken auf ihn, aber das wollte er für ein paar ungestörte Augenblicke mit Rowena gern auf sich nehmen. In seinem Versteck im Gebüsch hinter dem Waschplatz wurde es nur unwesentlich besser. Ceretic fragte sich, ob ihm die Mücken vom Graben her gefolgt waren, oder ob in jedem Gebüsch neue Blutsauger warteten.

Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und während er vergeblich versuchte, die Insekten von seiner verschwitzten Haut fernzuhalten, merkte er, wie durstig er war. Schließlich döste er erschöpft ein. Als er aufwachte, dämmerte es bereits. Sein gesamter Körper juckte und er fragte sich erschrocken, ob Rowena ihn mit seinem zerstochenen und geschwollenen Gesicht noch erkennen würde. Wo war sie überhaupt? Vorsichtig schob er die Zweige auseinander und blickte zur Wurt hinüber.

Das Lager lag friedlich und nun gegen Abend ruhig am Fuße der Wurt. Die Ebbe hatte inzwischen voll eingesetzt und im Fleet schwappte nur wenig Wasser träge der Ælf entgegen. Die tief stehende Sonne spiegelte sich rot darin. Einzelne Rauchfahnen stiegen vom Lager senkrecht in den fast wolkenlosen Himmel. Endlich entdeckte er zwei Mädchen auf der anderen Seite des Fleets. Ceretics Herz machte einen Luftsprung. Das konnten nur Rowena und Gutha sein.

Hengist und Horsa. Die Britannien-Saga

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