Читать книгу Neeltje - Kirschenmund - Swantje van Leeuwen - Страница 4
Оглавление»Frei sein,
heißt wählen können,
wessen Sklave man sein will.«
Jeanne Moreau (1928-2017)
Kapitel 1
›De Vostand ist de Ansicht, dass duch ehebliche Investitionen in die Weiteentwicklung de aktuellen Poduktlinie die Maktanteile weite gefestigt und neue Kunden hinzugewonnen weden können. Dahe wid davon abgeaten sich auf die Entwicklung eine neuen Poduktlinie zu konzentieen. Alle Aufmeksamkeit und vefügbaen essourcen sollten in das 'Innovation X'-Pogamm geleitet und die Einfühung de zweiten Stufe auf das letzte Quatal des kommenden Jahes veschoben weden.‹
Neeltje war in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen. Sie hatte sich zu sehr auf in ihren Kopfhörer konzentriert, um zu bemerken, dass die ›R‹-Taste auf ihrer Tastatur defekt war. Die letzten drei Seiten ihrer Transkription mussten neu geschrieben werden, und ihr Feierabend hatte seit bereits zwanzig Minuten begonnen.
»Auf das letzte Quatal des kommenden Jahes veschoben weden, ... Neeltje? Du solltest ab und zu einen kontrollierenden Blick auf deinen Bildschirm werfen.«
Neeltje nahm sich einen Moment Zeit, um die Stimme zu registrieren. »Oh je! Um Gottes willen!«, entfuhr es ihr verärgert. »Diese verdammte Tastatur ist einfach Schrott!«
Willem grinste. »Das solltest du nicht zu laut sagen, Neeltje. Dieses Stück Schrott stammt aus unserer eigenen Fertigung!«
»Ich frage mich, wann ich endlich einen Computer bekomme, der tut, was er soll? Laufend muss ich diesen Mist ausbessern!« Frustriert schlug sie auf die Tastatur, um das feststeckende ›R‹ wieder zu lösen und sah, wie der Cursor ein unkontrolliertes ›Qqwwweeeerrrrrrrrrrrrrr‹ anzeigte, dass sie umgehend wieder löschte. »Jetzt werde ich meinen Bus verpassen«, brummte sie vor sich hin. Sie drehte sich zu Willem um und lächelte plötzlich kokett. »Hey, Will, Süßer! Könntest du das als Überstunden eintragen?«
Willem kicherte. »Entschuldigung, Neeltje, aber du kennst die Bestimmungen. Überstunden gibt's nur, wenn sie von Oben angesetzt wurden. Hier bin ich vielleicht dein Vorgesetzter, aber was das anbelangt, könnte ich ebenso gut in der Poststelle arbeiten.«
»Na ja, nichts für ungut. Einen Versuch war's wert«, seufzte Neeltje. »Dann geh' du mal nach Hause und genieße das wundervolle Abendessen deiner Frau, Will. Ich schließe ab, wenn ich fertig bin.«
»Ist schon okay. Ich kann solange warten. Du weißt doch, dass Juliea seit Monaten auf einem Grünzeug-Trip ist. So lieb ich sie auch hab', aber ehrlich, laufend irgendwelche Rohkost oder schonend Gedämpftes ...« Er schüttelte leicht und vielsagend den Kopf.
Neeltje lachte. Sie freute sich über die Ablenkung. Er schaffte es immer wieder, sie aufzuheitern, wenn ihre Laune gegen den Nullpunkt tendierte. »Jetzt aber 'raus hier, alter Mann!«, scheuchte sie ihn neckend. »Wenn du zu spät nach Hause kommst, schenkt sie das Rezept vielleicht ihrer Schwester, zusammen mit euren Kindern.«
»Okay, okay! Ich verschwinde ja schon!« Er zog sein Jackett über den falschen Arm und kämpfte einen Moment mit seinem Kleidungsstück, wobei er gegen Neeltjes Schreibtisch stieß und deren inzwischen kalten Kaffee auf einen Stapel Papiere spritzte. »Ich hätte eine Frau heiraten sollen, die ein ordentliches Steak liebt, aber nein ... Ich hab' mir eine ausgesucht, die lieber meine Kalorien zählt!«
»Du solltest dich lieber gesegnet fühlen, Will. Du wirst zumindest nicht mit Junk-Food vollgestopft und kommst zu keinem schwergewichtigen Kätzchen nach Hause.«
Willem grinste. »Da hast du recht. Reicht ja, wenn der Kater zuviel auf den Rippen hat.«
»Das hab' ich nicht gesagt, Katerchen!«, schmunzelte Neeltje.
»Aber gemeint!« Er zwinkerte ihr noch zu, ehe er durch die Tür hinausging und sie in dem kleinen Büro allein zurückließ.
Sie lehnte sich für eine Minute entspannt zurück und genoss das imaginäre Bild von ihm, wie er sich mit seinem einhundertdreißig Kilo schweren Hintern auf einen Teller mit gedämpftem Gemüse setzte. Sie wusste, dass er sich immerzu über die strenge Diät ärgerte, die ihm Juliea aufzwang, aber auch, dass er mit ihr sehr glücklich war – ewig hungrig, aber glücklich.
Sie selbst jedoch war mehr als unglücklich. Die zehn Stunden, in denen sie in diesem kalten, beengten Büro arbeitete, waren meilenweit von dem entfernt, was sie sich vorgestellt hatte, als sie ihren Lebensmittelpunkt aus der kleinen Hansestadt Zwolle in die Metropole Amsterdam verlegte. Wie viele vor ihr hatte sie davon geträumt, sich in der Firma nach oben zu arbeiten, sich in den Hintern zu treten und anzustrengen, bis sie es zu einem der höheren Gehälter schaffte und einem der schönen Büros ab dem zwanzigsten Stock. Stattdessen hatte sie schnell feststellen müssen, dass in ihrer persönlichen Karriereleiter einige Sprossen fehlten. Nach acht Jahren in der Firma steckte sie immer noch am Anfang und schrieb Besprechungsprotokolle ab, die von Leuten geführt wurden, die nicht einmal wussten, dass sie überhaupt existierte.
Ihre Tätigkeit empfand sie in jeder Hinsicht als sinnlos. Sie war sich sicher, dass niemand jemals ihre Arbeit gelesen hatte – und es war sogar noch schlimmer geworden, als sie erfuhr, dass die Daten nicht einmal ins firmeninterne Netzwerk hochgeladen wurden. Die meisten ihrer Transkriptionen fanden hier auf ihrem Computer statt, und es konnten Wochen vergehen, ohne dass jemand eine Kopie anforderte. Was ihr die Firma zahlte reichte kaum aus, um die Miete für ihr kleines Appartement zu bezahlen. Nicht einmal ihr Arbeitsplatz bot ihr so etwas wie eine gewisse Sicherheit. Sie erwartete jeden Tag, dass in der Buchhaltung irgendjemand darauf aufmerksam wurde, dass sie nicht gebraucht wurde. Alles in allem war es ein fürchterlicher Zustand.
Nach weiteren zwanzig Minuten war sie mit der Fehlerkorrektur endlich fertig. Währenddessen hatte sie sich immer wieder zu motivieren versucht und sich eingeredet, dass ihre Arbeit vielleicht doch eines Tages gewürdigt würde. Sie hat die Datei auf dem Firmenserver gespeichert und eine Projektbestätigung in die oberen Etagen gesendet. Wenn jemand eine Kopie wünschte, bekam sie eine entsprechende Anfrage, aber dieses geringe Interesse brachte sie auch nicht dazu, mal den Atem anzuhalten. Der einzige Grund noch solange zu bleiben und die Arbeit zu erledigen lag darin, dass sie morgen von mindestens fünf Vorgesetzten Anrufe und E-Mails bekommen würden, die sich darüber negativ ausließen, dass sie ins Hintertreffen geraten war.
*
Während sie wie immer zum Dienstschluss den Gesundheitszustand einer Kaktee überprüfte, die Willem ihr geschenkt und die seitdem auf der Fensterbank ihres Büros stand, hatte sie einige Minuten nachdenklich hinaus und nach unten gesehen, wo gerade eine große, elegante dunkelblaue Limousine mit Chauffeur vorgefahren war. Sie sah, wie der Fahrer, der einen Anzug in Wagenfarbe trug, ausstieg, wohl um darauf zu warten jemand den Schlag zu öffnen.
Die Gänge waren jetzt leer. Inzwischen war es fast sieben Uhr. Um diese Zeit arbeitete in diesem Teil des Gebäudes niemand mehr. Die Jobs derjenigen, die in dieser Etage arbeiteten, waren einfach nicht wichtig genug, als das sie Mehrarbeit erforderten.
Neeltje schaltete das Licht aus und schloss das Büro hinter sich ab, bevor sie sich auf den Weg zu den Aufzügen am Ende des Korridors begab. Sie warf einen Blick auf die Anzeigen – alle drei Aufzüge waren aktuell im Erdgeschoss, aber der ›Executive‹-Lift der Vorstandsetage fuhr gerade nach unten. In diesem Augenblick befand er sich in der fünfzehnten Etage. Einem spontanen Impuls folgend, drückte sie dessen Anforderungstaste, wenngleich sie wusste, dass das Personal unter dem zwanzigsten Stockwerk diesen Lift nicht benutzen sollten. Es war eine Express-Kabine, die den ›Höheren‹ vorbehalten war, aber ihr Stockwerk war nicht gesperrt, denn von Zeit zu Zeit kam damit eine der Führungskräfte auf ihre Etage herunter. Sie konnte sie immer an ihren teuren Maßanzügen erkennen und ihrem gehetzten Gang. Sie grinste, als sie sich erinnerte, wie Willem vor kurzem gewitzelt hatte, dass sie wohl Sorge hätten, dass sich ihre Seidenkrawatten in billigen Polyester verwandeln würden, wenn sie zu viel Zeit in den Abgründen der unteren Etagen verbrachten.
Der Aufzug stoppte und ein Piepton ertönte. In dem Augenblick, da sich die Türen zu öffnen begannen, geriet Neeltje in Panik. Plötzlich realisierte sie, dass die Kabine sehr wahrscheinlich besetzt sein würde. Für den Bruchteil eines Moments überlegte sie, schnellstens zu verschwinden und sich hinter einer der zahlreichen großen Topfpflanzen zu verstecken, bis sich der Aufzug wieder schloss.
Aber dazu war es bereits zu spät.
Wer auch immer sich drinnen befand, konnte bereits sehen, wie sie in ihrem billigen Second-Hand-Laden-Look im Flur stand – und aussah, wie ein kleines Mädchen, dem es Spaß machte, sich mit den Sachen der Mutter zu verkleiden.
»Möchten Sie nach unten?« Der Mann, der sich lässig gegen die rückwärtige Wand der Kabine gelehnt hatte, hob eine Braue und schaute sie fragend an.
Neeltje blieb stumm. Ihr hatte es wortwörtlich die Sprache verschlagen. Der Mann im Aufzug war jemand, den sie bislang nur zweimal zuvor zu Gesicht bekommen hatte, aber seitdem immer wieder eine gewichtige Hauptrolle in ihren Träumen spielte. Er war groß und gut gebaut, mit einem Granitkiefer gesegnet – so, wie der Fremde ausgesehen hatte, als sie ihn zum ersten Mal durch die Hallen schreiten sah. Er hatte auf sie gewirkt, als wäre er gerade von einem Casting für einen Superhelden-Film gekommen.
Diese Ähnlichkeit mit Superman und Batman war auch einigen anderen Kollegen nicht entgangen. Sogar Willem, der sich nur selten über Mitarbeiter äußerte, nannte ihn den Mann aus Stahl – allerdings nicht ohne einen gewissen Anflug neidischen Sarkasmus, denn er stellte alles dar, wovon jeder Mann insgeheim träumte. Seine kräftige, gemeißelte Gestalt war unter seinen wunderschön geschnittenen Anzügen deutlich zu erkennen, und in den äußerst seltenen Fällen, da er die unteren Stockwerke mit seiner Anwesenheit beehrte, hatte jede Frau verstohlen zu ihm aufgesehen. Und jede, die in diesem Augenblick das Pech hatte, einen Bleistift im Mund zu haben, als der geheimnisvolle Fremde vorbeiging, hätte den Rest des Tages damit verbracht, sich die Splitter aus dem Mund zu fischen.
Alle Versuche, die Identität des schönen Unbekannten aufzudecken, waren gescheitert. Die leitenden Angestellten in den oberen Etagen mischten sich nicht unter die der tiefer gelegenen. Sie lebten in verschiedenen Welten, getrennt durch einen unausgesprochenen Code, der sich auf wenige Worte beschränkte: ›Wir sind besser als ihr und stehen über euch. Denkt nicht einmal darüber nach!‹
Als Neeltje stumm in die Kabine des Fahrstuhls starrte, setzte ihr Verstand aus – alles an diesem Mann war stimmig. Sein dunkelgrauer Dreireiher war perfekt geschnitten, unauffällig, aber eindeutig aus der teuersten Preisklasse. Die nüchterne Seidenkrawatte fiel tadellos zwischen seine ausgeprägten Brustmuskeln, die der Schnitt seines Hemdes verriet, und seine Schuhe und Aktentasche sahen aus, wie jene, die sie nur in den Schaufenstern exklusivster Luxusboutiquen zu sehen bekam – Einzelobjekte, immens teuer und immer ins beste Licht gerückt. Er hätte ohne Frage ein Mannequin in einem exquisiten Geschäft der Reichen und Schönen sein können, wo man nach einer ›No-Limit-Creditcard‹ fragte, noch bevor man einen überhaupt eintreten ließ.
Seine Kleidung war jedoch nichts im Vergleich zu seinem Gesicht. Sein Kiefer wirkte seltsam, ja fast schon komisch rechteckig. Als Neeltje ihn zum ersten Mal sah, verstand sie sofort, warum Superhelden im Cartoon all gleich aussehen. Die Stärke und das Selbstvertrauen, das dieses Gesicht ausstrahlte, reichten aus, um jeder Frau und jedem Mann das Gefühl zu geben, sicher und beschützt zu sein. Nichts und niemand konnte einem Mann mit einem derartigen Kiefer schaden. Es war ein Kiefer, der Kugeln nur so von sich abprallen ließ. Aber sogar sein markant männlicher Kiefer war seinem Blick nicht gewachsen.
Neeltje war sicher, das er mit diesem Blick wie Clark Kent alias Superman in der Lage war durch Kleidungsstücke und andere Objekte, außer Blei, hindurchzusehen. Schon als sie dort vor der offenen Kabine stand, war ihr bewusst, dass sie ihn anstarrte, und sich in tiefe, dunkle Strudel verirrte, aus denen keinerlei Hoffnung auf Flucht bestand. Sie konnte spüren, wie ihre Knie bebten, als sie ihn so begeistert anstarrte, und sie hörte ihn erst sprechen, als er seine Frage wiederholte.
»Möchten Sie nach unten mitfahren?«
Neeltje brachte es kaum fertig, die einfachsten Worte zu finden.
»Ja«, flüsterte sie mit trockener Kehle. Noch immer stand sie wie angenagelt da. Sie kämpfte darum ihre schwachen, zitternden Beine unter Kontrolle zu bekom-men, und es brauchte einen Moment, ehe sie in der Lage war einzutreten und sich die Türen wieder zu schließen begannen. Sie schaffte es gerade noch, ihre Handtasche durch den verbleibenden Spalt zu ziehen, aber nicht ohne den Sicherheitssensor auszulösen – weshalb sich die Türen noch einmal kurz öffneten, ehe sie die Kabine endgültig verriegelten.
Mein Gott, das ist so peinlich!, dachte Neeltje, während sich der Lift schloss. Ich muss für ihn wie eine Landpomeranze aussehen. Selbst seine Geschirrtücher dürften besser aussehen wie mein Kleid. Sie stand direkt vor der Tür und wollte jetzt nur schnellstmöglich das Erdgeschoss erreichen, um sich wie ein geölter Blitz davonzumachen. Doch bis dahin war sie gezwungen sich den verspiegelten Wänden zu stellen, in denen sie sich dem gottähnlichen Fremden aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel präsentierte.
Neeltje konnte nicht sagen, ob es nur ihr gedemütigter Verstand war, der ihr einen Streich spielte, aber es schien ihr, als würde er sie mit leiser Belustigung beobachten. Aus den Augenwinkeln glaubte sie, ein Grinsen in seinem verzerrten Spiegelbild zu sehen. Aber es überraschte sie nicht. Ist schon klar, dass du in einer Welt lebst, in der nur starke, selbstbewusste, gut gekleidete und schöne Frauen leben. Da fällt eine wie ich natürlich kilometerweit zurück. Sie stellte sich vor, wie er von der Halle des Gebäudes zu einer wartenden Limousine geleitet wurde, die ihn zu seinem luxuriösen Penthouse oder einem Sterne-Restaurant brachte, in dem bereits die minimalistische Vorspeise ihre Wochenmietzins überstieg. Jemand wie er würde sich niemals genötigt sehen, mit einer Frau wie ihr in Kontakt zu treten. Sein Leben kennt keine Frauen, die ihre Kleidung im Sonderverkauf suchen und selbst dort noch nach Preisschild prüfen, ging es ihr durch den Kopf. Vermutlich hat er sich auch noch nie mit einer abgegeben, die ein schlichtes weißes Höschen mit einem abgenutzten Gummiband trug. Er lebt in einer Welt, in der die Weiblichkeit rund um die Uhr Spitzendessous trägt ... Und er kann jede haben, die er will.
Sie spürte die Röte, die sich ihrer Wangen bemächtigte, indessen sich der Lift gefühlt wie durch zähen Zuckersirup bewegte. Das Display zeigte ihr, dass sie sich gerade in Höhe des achten Stocks befanden, wenngleich sie glaubte, dass der Fahrstuhl allein bis hierher bereits mehr als eine Stunde gebraucht hatte. Sie wünschte sich, dass die rote LCD-Anzeige schneller herunterzählte. Ihr Innerstes bettelte förmlich darum, die Null zu erreichen, auf das sich die Türen öffneten, damit sie schnellstens ins Dunkle der Nacht ein- und darin abtauchen konnte.
*
Plötzlich und grausam, als hätte es ein bösartiger Geist verursacht, verloschen die Lichter und der Lift blieb stehen – gefolgt von einem lauten Alarm, der die Dunkelheit durchdrang.
Neeltje zuckte geschockt zusammen. Der fürchterliche Schreck ließ erst ein wenig nach, als nach einigen Sekunden das Licht wieder zurückkehrte.
Bis auf das schrille, alarmierende Signal war es still in der Kabine. Keine von ihnen sprach ein Wort.
Warum bewegen wir uns nicht mehr?, fragte sie sich und verspürte aufkommende Panik in ihrem Hals. Sie umklammerte ihre Handtasche mit weißen Fingerknöcheln und betete darum, dass sich die Kabine mit einem Ruck langsam wieder abwärts bewegte. Sie litt an keiner Klaustrophobie, aber in diesem Augenblick hätte sie dem Teufel ihre Seele dafür verkauft aus diesem Lift herauskommen. Sie wollte sich an der nächsten Haltestelle unbedingt dem Heer der hoffnungslosen Lohnsklaven anschließen, die per Bus nach Hause, in ihre völlig beengten Wohnungen, fuhren. Jede Sekunde, die sie in Gegenwart dieses Mannes verbrachte, war eine, die ihr bewusst machte, wie weit sie gesellschaftlich unter ihm rangierte.
Hinter ihr hörte sie ihn leise seufzen.
Einen Moment später trat er neben sie und öffnete eine Verkleidung unter der Tastatur. Mit einem Druck auf den darunter versteckt angebrachten Schalter verstummte der Alarm, dessen schmerzhafter Ton noch einen Moment in der Kabine nachhallte. Dann griff ihr ›Superheld‹ nach dem roten Notruftelefon, und sie erfuhr, dass er keineswegs Clark Kent hieß und damit auch nicht als Zeitungsreporter für den ›Daily Planet‹ arbeitete – aber das war auch nicht zu erwarten gewesen, denn schließlich steckten sie nicht in einem Fahrstuhl in ›Metropolis‹ fest. Es war einer in Amsterdam.
»Hier spricht Hergen de Fries im Expressaufzug. Gibt es ein Problem?«
Die schüchterne, dünne Stimme, die über einen am Telefon montierten Lautsprecher antwortete, reagierte entschuldigend. »Es tut mir leid, Herr de Fries. Die Hauptstromversorgung ist ausgefallen. Zwar sind die Reservegeneratoren sofort angesprungen, aber wie es scheint, wurde das Sicherheitssystem ausgelöst, sodass es zum Stillstand des Aufzugs kommt. Bitte bewahren Sie Ruhe. Wir werden das in wenigen Minuten wieder im Griff haben. Es tut uns sehr leid, wegen der Unannehmlichkeit.«
Neeltje spürte, wie ihre Panik nachließ – ersetzt durch einen Hauch von Belustigung. Wäre sie diejenigen am Telefon gewesen, hätten die bekanntermaßen mürrischen Techniker, wie Willem immer sagte, wenn sie mal wieder Probleme mit der alten temperamentvollen Elektrik hatten, zu Geduld geraten – ihr mit anderen Worten erklärt, dass sie jetzt nicht die Pferde scheu machen und darauf warten solle, dass man das Problem erkannt und sich darum kümmern würde. Wer auch immer dieser Hergen de Fries ist, er scheint eine Sonderbehandlung zu verdienen, dachte sie still.
De Fries hängte das Telefon wieder in die Halterung zurück und warf einen frustrierten Blick auf das Zifferblatt seiner goldenen Armbanduhr.
Neeltje wartete darauf, dass er an seinen alten Platz zurückkehrte, aber er blieb neben ihr und überragte ihre winzige Gestalt. Er war deutlich über einsachtzig groß und in dem plötzlich klaustrophobischen Raum fühlte sie sich, als hätte er alles unter Kontrolle – es schien keinen Quadratzentimeter in der Kabine zu geben, die ihm nicht vereinnahmte, einschließlich denen, die sie nutzte. Augenblicklich hatte sie das Gefühl, als sei sie in das Haus dieses Mannes eingedrungen. Sie versuchte sich noch kleiner zu machen, aber es einfach nicht genug. Sie stellte sich vor, wie ihr billiger Drogerie-Duft den Fahrstuhl füllte, in die Nase dieses Mannes eindrang, die frische Luft vertrieb und sein eigenes teures Eau de Parfum niedermachte. Nichts an ihr hatte auch nur im Entferntesten etwas, das mit ihm harmonieren konnte. Verstohlen schnupperte sie die Luft und bemerkte in Gedanken nichts als ihren eigenen, unangenehmen Geruch. Es muss ihn anwidern, die Kabine mit mir zu teilen, dachte sie. Warum ist er auch nur so nah zu mir aufgerückt?
Jetzt konnte sie seinen Geruch wahrnehmen – reich und frisch mit Zitrusnoten. Trotz seiner kühlen, entspannten Erscheinung war auch ein Hauch von Schweiß zu bemerken – maskulin und herb –, zusammen mit dem tiefen, warmen Geruch seiner ledernen Aktentasche. Sie holte tief Luft und wünschte sich, sie könnte für einen Moment ihr Gesicht an seiner Brust vergraben, um einen langen, tiefen Zug zu nehmen.
In wenigen Augenblicken spürte sie dieses vertraute Gefühl der Erregung zwischen ihren Beinen. Unter ihrem hässlichen Polyester-Rock und der billigen, dünnen Baumwolle ihres Slips spürte sie ein Kribbeln, ein Empfinden tief im Inneren, das einen begehrlichen Hunger hervorrief. Es war eine Regung, die sie nach vielen Monaten ohne Verabredung gut kannte – nach so vielen einsamen Nächten, allein mit ihren Fingern, ihrem Vibrator und ihrer Sehnsucht nach Zweisamkeit. Es war eine, die sie bei der geringsten Provokation verfolgte und sich ihrer bemächtigte, bis sie gesättigt war. Sie wusste, dass sie wieder würde masturbieren müssen, kaum das sie nach Hause kam – ja, vielleicht sogar schon vorher oder möglicherweise spätestens im Badezimmer im Erdgeschoss. Ihr Kätzchen stand schon in Flammen. Wenn sie die nicht schnellstens löschte, dessen war sie sich sicher, würde ihre Gier nach Sex sie in Stücke reißen – wo sie das Gefühl hatte, bei jeder Berührung explodieren zu müssen.
Neeltje war sich bewusst, dass er ihren schnelleren Atem hören konnte, ein Umstand, der nur zusätzlich dazu angetan war, ihre Erregung zu steigern. Sie konnte sich nicht helfen, aber ihr Kopfkino war angesprungen – sah seinen und ihren nackten Körper, wie sie sich auf dem blanken Boden des Aufzugs gegenseitig umschlangen. Sie konnte nicht aufhören, sich seinen Geschmack vorzustellen, als sie dankbar seine Männlichkeit anbetete, sich bei ihm bedankte und um mehr bat, bis er über sie herfiel und mit seinem Geschenk ausfüllte, bis sie überlief. Sie wünschte, sie könnte sich einfach an ihn wenden, diesen gesegneten Moment nutzen – sich auf ihn stürzen und sich ihm selbst als Geschenk anbieten. Ich würde alles für diesen Gott von einem Mann tun, lief es wie ein Untertitel in ihrem Film mit. Ich wäre glücklich, wenn ich ihm gehören würde.
Ihre Erregung war von Scham und Verlegenheit geprägt. Sie wusste, dass dieser Mann gesellschaftlich so weit über stand, wie ein Hund über einem im Ackerboden steckenden Regenwurm. Auf keinen Fall konnte er sich mit einer Frau wie ihr, in ihren abgenutzten Kleidern, ihrem Allerweltsgesicht und ihrer langweiligen Persönlichkeit angezogen fühlen. Ein Mädchen wie sie, würde niemals mit einem Mann wie ihm zusammen sein. Einen wie ihn hatte sie nicht verdient.
***