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Das rote Tuch

Nummer 34. Hier musste es sein. Mein Blick schwenkte zu dem zerknautschten Brief, den ich in meinen Händen hielt. Ich trat zwei Schritte zurück und blickte an der Hausmauer nach oben. Okay, dachte ich etwas ernüchtert und kramte nach dem Hausschlüssel, den mir der Hausverwalter per Post zugestellt hatte.

Der penetrante, muffige Geruch von altem Holz stieg mir in die Nase. Es roch nach Treppenhaus – nach fremdem Treppenhaus.

Im dumpfen Hall des Eingangs war mein Bestimmungsort schnell ausgemacht. Ein Poltern und Rumpeln drang aus der Wohnung im zweiten Stock.

Etwas zögerlich stieg ich im dämmrigen Licht die Stufen empor und näherte mich dem Tumult mit jedem Schritt. Die Wohnungstür war angelehnt. Vorsichtig drückte ich sie nach innen und trat geblendet vom Tageslicht ein. Die Männer von der Umzugsfirma hatten mein Eintreffen nicht bemerkt und hetzten wie eilige Passanten von einem Zimmer zum anderen. Damit es niemandem im Weg stand, stellte ich mein Handgepäck gleich am Eingang ab.

Es war das erste Mal, dass ich so lange von meinen Liebsten getrennt war, und so weit entfernt von ihnen. Da stand ich nun, inmitten von braunen Umzugskartons, die mich wie der Grand Canyon ummantelten. Die Umzugsmänner hatten die wenigen Möbel nach meinen Wünschen in den Räumen platziert, die Kartons jedoch willkürlich in den beiden kleinen Zimmern abgestellt.

Mein Arbeitgeber hatte mir zwei Tage Urlaub für den Umzug gewährt. Es fühlte sich wie ein unfreiwilliger Neuanfang an. Erst vor wenigen Wochen hatte ich mich von meinem Freund getrennt. Glücklicherweise hatten mir meine besten Freundinnen seelischen Beistand geleistet. Sie fehlten mir jetzt schon. Aber welche Wahl hatte ich?

Die Filialen in den Ländern unseres Nahrungsmittelkonzerns waren aus Kostengründen umstrukturiert und meine Abteilung von heute auf morgen in ein Niedriglohnland ausgelagert worden. Neben all den Entlassungen konnte einigen wenigen von uns eine Stelle in der europäischen Zentrale angeboten werden, und ich war eine davon. Hätte ich abgelehnt, wäre der Gang zum Arbeitsamt unerlässlich gewesen. Ich war dankbar für die Chance, die man mir schenkte, denn die meisten von uns Betroffenen blickten fortan in eine ungewisse Zukunft. Mit meinen 25 Lenzen hätte ich es zudem schwer gehabt, mich gegen eine viel erfahrenere Konkurrenz auf dem Stellenmarkt zu behaupten. Nichtsdestotrotz hatte ich großen Respekt davor, was mich erwartete, denn es war bekannt, dass im Hauptquartier ein rauerer Umgangston herrschte als in unserer familiären Geschäftsstelle, wo jeder jeden kannte und Hierarchien lediglich auf dem Papier existierten.

In der Wohnung nebenan wummerte der Bass von Wild Cherrys Klassiker Play that funky music. Ich warf einen Blick über den Kartonstapel hinweg, hin zu einer kahlen Wand, hinter der ich die Quelle des Sounds vermutete. Der Geruch von gebrauchten Kartons signalisierte mir, mit dem Auspacken loszulegen. Ich griff nach einer kleineren Schachtel, auf der in dicken schwarzen Lettern Diversess/ Büromaterialien stand. Mit einem feuerroten Cutter löste ich die Enden des Klebebandes. Geübt vom monatlichen Waxing zerrte ich es mit einem Ruck in meine Richtung. Die oberen beiden Enden des Kartons kamen mir entgegen wie ein Mund, der nach Atem rang.

Ich befreite den obersten Gegenstand vorsichtig aus knisterndem Seidenpapier. Zum Vorschein kam ein Bilderrahmen aus Holz im Taschenbuchformat, den mir meine zwei besten Freundinnen Rebecka und Olivia zum Abschied geschenkt hatten. Gut gelaunt posierten wir auf dem Foto vor einem Weidezaun. Im starken Wind waren wir kläglich daran gescheitert, unsere Frisuren im Zaum zu halten. Ein Islandpony im Hintergrund trotzte der Böe unbeirrt und stahl uns mit seiner wunderschönen Mähne die Show.

Die beiden hatten sich auf dem oberen rechten Bildrand mit einer Widmung verewigt: Liebe Tina, wir sind immer bei dir!

Sachte fuhr ich mit meinem Daumen über das Bild und drückte es dann an meine Brust. Das Seidenpapier tänzelte unbeachtet zu Boden. Damit ich meinen beiden Freundinnen nah sein konnte, stellte ich den Fotorahmen auf das leere Regal im Wohnzimmer und machte mich weiter ans Auspacken.

Mit jedem Karton, den ich leerte, wurde die kleine Altbau-Wohnung behaglicher. Die Küche und das Badezimmer waren in die Jahre gekommen, der Holzboden hatte einige Dellen und knarrte bei jedem Schritt. Die größten Beulen direkt beim Eingang ließ ich unter einem Läufer verschwinden.

Vor meinem Einzug waren immerhin die Wände frisch gestrichen worden, wodurch die Räume freundlich und hell wirkten.

Ich legte eine Tagesdecke und einige Kissen auf das Sofa, die nackten Stubenfenster verhüllte ich mit einem bis zum Boden reichenden Vorhang. Mit den Textilien kam nicht nur Wärme in die Räume, sie zauberten auch im Nu den Hall und die Nebengeräusche aus den Zimmern. Den Esstisch deckte ich mit einer bunten Tischdecke und stellte eine Vase in die Mitte, die ich bei Gelegenheit mit frischen Blumen füllen wollte. Das Endresultat zauberte mir mit einem Mal ein Lächeln auf die Lippen. Es war hyggelig, wie die Dänen zu sagen pflegen.

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