Читать книгу Das rote Tuch - Sybil Fuhrer - Страница 7
ОглавлениеDas erste Drittel:
Tercio de varas oder: Der Einzug in die Arena
Neben dem Empfang hatte sich eine Traube von Menschen gebildet, die darauf wartete, von den neuen Arbeitskameraden abgeholt zu werden. Inmitten der Menge erkannte ich zwei Kollegen, die wie ich von der Filiale in die Zentrale versetzt worden waren.
Nach und nach wurde die Gruppe kleiner, bis ich als Letzte übrig blieb. Es war fast wie zu Schulzeiten, wo sich manche in der Gymnastikstunde davor fürchteten, als Letzte von den Gruppenleitern ins Team gewählt zu werden. Sie waren zumeist entweder schlecht im Sport oder unbeliebt in der Klasse.
Ich wandte mich an die Dame am Empfang. Die etwas distanziert wirkende Rezeptionistin mit dem strammen Pferdeschwanz erkundigte sich nach meinem Namen, schaute in ihrem Computer nach und erwähnte schließlich, in der Abteilung anzurufen. Nach einem kurzen Gespräch meinte sie dann zu mir: «Es ist jemand unterwegs.»
«Okay», antwortete ich und setzte mich auf den Rand des breiten Ledersofas im Foyer. Um die Zeit zu überbrücken, spielte ich an dem Badge herum, der mir ausgehändigt worden war und an einem hellblauen Lanyard wie eine Kette um meinen Hals hing. Auf der Vorderseite meiner Erkennungsmarke lachte mir mein eigenes Gesicht entgegen. Unterhalb des Fotos standen meine Firmeninitialen TIGI und die Personalnummer. Auf der Rückseite waren interne Notfallnummern vermerkt. Ich schmunzelte innerlich, als mir der absurde Gedanke kam, eine dieser Nummern zu wählen, falls mich niemand abholen sollte.
Im Empfangsbereich herrschte ein reges Kommen und Gehen: Die meisten liefen vom Eingang direkt zu den Aufzügen, um in die oberen Stockwerke zu gelangen. Mal leuchtete die jeweilige Zahl über dem linken Lift auf, dann über dem mittleren und dann und wann über dem rechten. Im Gegensatz zum Kinderfernsehprogramm «1, 2 oder 3» brauchten die Kollegen das richtige Törchen nicht zu erraten. Es wurde ihnen vorab auf einem Display angezeigt. Und trotzdem gab es immer wieder solche, die vor der falschen Lifttür warteten und den richtigen Aufzug gerade noch erreichten, ehe sich dieser ohne Passagier wieder davonmachte.
Nach gut zehn Minuten trat eine Frau aus der linken Kabine heraus und steuerte direkt auf mich zu. «Bist du Tina?»
Ich erhob mich und nickte schüchtern.
Sie begrüßte mich mit einem schlaffen Händedruck. «Hallo, ich bin Esmé.»
Ich folgte ihr in denselben Lift, mit dem sie gekommen war. Dabei konnte ich es mir nicht verkneifen, auf ihren apfelförmigen Hintern zu starren, der in eine knallenge weiße Jeans gepresst war. Trotz der Turnschuhe wirkte ihr Gang unsportlich und schwerfällig. Im Kontrast dazu glänzte ihr schönes, dichtes langes Haar.
Nach einer kurzen Fahrt öffnete sich die Fahrstuhltür. Mein Blick schwenkte auf Augenhöhe und erblickte als Erstes die Türen der Waschräume im Treppenhaus. Über einen Flur mit anthrazitfarbenen Wänden gelangte man durch eine große Glastür in die Büroräume.
Esmé hielt ihre Ausweiskarte an den Codeleser. Ein Summen verriet, dass die Tür nun entriegelt war.
«Aus Sicherheitsgründen darfst du niemandem gleichzeitig Eintritt gewähren! Auf diese Weise können wir ermitteln, wie viele Personen sich jeweils auf den Stockwerken aufhalten. Nebst Feuerwehrübungen dienen diese Aufzeichnungen auch beim Planen der Anzahl an Büroplätzen.»
Ich nickte und sah mich etwas verloren um. Die Gegenwart hatte mich wie auf einer sehr schnellen Zeitreise vom Stumm- zum Science-Fiction-Film eingeholt. Mein ehemaliges Büro entsprach definitiv nicht mehr dem modernen Standard. Der Unterschied war gewaltig. Die Büroräume wirkten minimal wärmer als der Lift. Das Mobiliar war modern und glänzte, als stünde es in einem Möbelgeschäft. Auf den Schreibtischen standen Monitore, ansonsten waren sie mehr oder weniger leergeräumt.
«Wir haben hier Clean Desk Policy», klärte mich Esmé auf. «Jeder hat einen eigenen Spind. Der Arbeitsplatz muss abends aufgeräumt werden, sonst reinigen die Putzleute nicht und es gibt eine Verwarnung.»
In meinem früheren Büro hatten wir überall Fotos, Topfpflanzen und Geschenke aufgestellt. Zugegebenermaßen sah es ein wenig aus wie auf dem Trödelmarkt. Aber es war gemütlich und gab dem Büro eine menschliche Komponente. Mit einer Clean Desk Policy wären wir den halben Tag damit beschäftigt gewesen, unsere persönlichen Dinge auf- und abzuräumen.
Die Tische waren in Vierer-Pools angeordnet und mit großblättrigen Pflanzen voneinander getrennt. Die herzförmigen Blätter der Monstera fühlten sich zwischen Daumen und Zeigefinger echt an. Mein Platz befand sich direkt neben der Tür. Mir fiel auf, dass die Tische im gesamten Büro höhenverstellbar waren, sodass man nach Belieben im Sitzen oder im Stehen arbeiten konnte. In der Filiale musste man für ein solches Pult ein Arztzeugnis vorweisen. Ich nahm mir vor, täglich mindestens eine Stunde im Stehen zu arbeiten. Ein Luxus, den ich großartig fand und an dem ich mich gleich versuchen wollte. Schmunzelnd hielt ich den Badge an den für die Höhe verstellbaren Schaltknopf des Pults. Der Schreibtisch machte keinen Wank. Dann drückte ich sachte mit meinem Zeigefinger auf den schwarzen Knopf, der mit einem Pfeil nach oben zeigte. Mit einem Summton bewegte sich die Tischplatte nach oben. Glück gehabt! Es funktionierte also ohne den persönlichen Schlüssel.
Meine kindliche Spielerei hielt allerdings nicht lange an, denn eine Frau trat ins Büro, die ich auf Ende vierzig schätzte. Sie trug einen grauen Hosenanzug, der sich farblich kontrastlos in ihren Haaren fortsetzte. Barbara war die Executive Assistant und übernahm gleich das Zepter: «Das hier ist dein Platz. Ich zeige dir, wo die Büromaterialien sind.»
Die Hand hatte sie mir zur Begrüßung nicht gereicht. Ich kam mir vor wie eine Konservendose, die man möglichst schnell zu den anderen Büchsen im Schrank stellen wollte. Sie sprach sehr schnell und wirkte herrisch. Ihre Stimme erinnerte mich an einen Eichelhäher.
«Komm, ich zeige dir die Räume in unserem Stockwerk.»
Ich folgte Barbara und entschied, das Stehpult nach dem Rundgang auf die ideale Höhe einzustellen. Zuerst steuerte sie die Küche an.
«Bitte räum am Morgen den Geschirrspüler aus und lass ihn abends laufen, bevor du gehst.» Sie öffnete im Eiltempo einige der Küchenschränke, schloss diese aber genauso schnell wieder, sodass ich nicht genau erkennen konnte, was in welchem Schrank verstaut war.
Im Spültrog türmten sich gebrauchte Kaffeetassen. Auf einem Hochtisch lag neben einer Früchteschale eine leere Panettone-Schachtel. Am Boden daneben fanden sich Krümel. Kaffee, Tee und Wasser gab es umsonst. Dazu wurden zweimal wöchentlich Früchte geliefert. Eine Gute-Luise-Birne stach mir zwischen den Äpfeln und Bananen gleich in die Augen. Die reservierte ich mir gedanklich schon mal fürs Dessert.
Als Nächstes führte Barbara mich zu einem kleinen Abstellraum, einem Lager für Druckerpapier und Flipchart-Rollen. Zudem war hier eine kleine Leiter an die Wand gelehnt. Im selben Raum stand eine Tonne mit leeren Kartons und Altpapier.
«Bitte informiere das Facility Management, wenn das Papier ausgeht oder die Tonne voll ist, damit sie geleert wird.»
Ich nickte und folgte ihr weiter. An den Mitarbeitern, denen wir auf dem Flur begegneten, liefen wir mehrheitlich wortlos vorbei.
Als Letztes zeigte sie mir eine Ecke mit Büromaterialien. Dort durfte ich mich bedienen und einige Dinge für den Büroalltag aussuchen. Ich schnappte mir eine transparente, grüne Kunststoffbox, damit ich die Schreibwaren abends spielend im Spind verstauen konnte.
«In einer halben Stunde kommt die IT an deinen Platz, um dir ein Intro zu geben», sagte Barbara.
«Okay.»
Der Großteil der Systeme war identisch mit denjenigen in der Filiale, sodass ich schnell mit der Arbeit beginnen konnte. Als Administrative Assistant war ich zur Entlastung von Barbara und Esmé eingestellt worden. Hinzu kam Isabella, eine dritte Mitarbeiterin, die an diesem Tag zu Hause bei ihrer kranken Tochter geblieben war.
Die Anfragen von Mitarbeitern wurden an eine separate Admin-Mailbox gesandt, für die ich fortan verantwortlich war. Barbara und Esmé hatten zusätzlich Aufträge an meine persönliche E-Mail-Adresse weitergeleitet. Im Verlaufe des Morgens buchte ich einige Reisen über ein Online-Tool, nahm Registrierungen für Konferenzen vor und reservierte Sitzungsräume für Meetings. Flüge, die über 1000 Schweizer Franken kosteten, oder Anfragen, die von der Regelung abwichen, musste ich von unserem Vorgesetzten genehmigen lassen. Das Unternehmen war darauf bedacht, Reisekosten zu sparen, was dazu führte, dass wir für sämtliche Mitarbeiter per se den günstigsten Flug buchen mussten. Ausgenommen von dieser Regelung waren die Geschäftsleitung und die Mitglieder des Senior Managements.
Der Marketing-Direktor hatte sich an jenem Morgen just wegen dieser Travel Policy maßlos geärgert, was er in einer E-Mail an die Admin-Inbox bekundete:
Hallo Admins,
das kann doch nicht euer Ernst sein!
Das Meeting mit der Agentur findet am Montag von 9:30 – 17:00 Uhr statt. Es ist völlig absurd, mir einen Flug anzubieten, der erst um 9:00 Uhr Zürich verlässt und via Amsterdam (!!!) nach München fliegt, Ankunftszeit 13:35 Uhr!!!
Ich habe mich daher entschieden, mit dem Auto nach München zu fahren. Schade, ich hätte die Reisezeit gerne zum Arbeiten genutzt.
Laurent
Der Preisunterschied des gebuchten Fluges zum Direktflug um 7 Uhr betrug 300 Schweizer Franken. Doch die Reise war nicht verhandelbar. Dies gab mir Barbara deutlich zu verstehen, als ich sie bat, die Anfrage, die ihr Chef genehmigen musste, nochmals zu prüfen. Mein Argument, dass Laurent mit dem günstigeren Flug das halbe Meeting verpasste, wurde damit gerechtfertigt, dass er die Agenda der Reise anzupassen hatte und nicht umgekehrt. Eine Anreise am Sonntagabend war ebenfalls keine Option, da das Reisen an Wochenenden strikt zu unterlassen war. Das wäre nur dann genehmigt worden, wenn er die Unterkunft privat bezahlt hätte, jedoch hätte er auch in diesem Fall den günstigsten Flug am Sonntag buchen müssen. Und wer weiß, in welche geografischen Sphären ihn diese Route geführt hätte. Auch ökologische Aspekte hatten keinen Einfluss auf Barbaras Entscheidung. Ganz im Gegenteil, die Vorgesetzten ärgerten sich, wenn sie am Ende des Monats eine Übersicht von der Nachhaltigkeits-Abteilung mit den CO2-Emissionen ihrer Mitarbeiter erhielten.
Es sprach nichts dagegen, die Reisekosten im Auge zu behalten, denn es war ein offenes Geheimnis, dass es Kollegen gab, die jede Gelegenheit nutzten, den Globus auf Geschäftskosten zu bereisen, anstatt ihre Besprechungen mittels Videokonferenz abzuhalten. Privat hätten wohl nur wenige von ihnen Reisen zu Übersee-Destinationen in der Businessclass gebucht, und wenn, dann höchstens anhand eines Upgrades mit den während Geschäftsreisen gesammelten Flugmeilen.
Im Fall von Laurent gab es meiner Meinung nach jedoch wenig Einwände, denn er hatte sich beim Planen seines Meetings einige Gedanken gemacht: Das Treffen war bewusst am Flughafen in München angesetzt worden, da die externe Marketing-Agentur, die ihn bei seinem Projekt unterstützte, am selben Abend ganz in der Nähe ein Kundenevent organisierte und so deren Reisekosten geteilt werden konnten. Mit einem Treffen direkt am Flughafen entfielen außerdem Hotelkosten sowie Taxifahrten für ihn selbst und die Mitarbeiter der Agentur.
Unsere deutsche Filiale nahm ebenfalls an diesem Treffen teil. Für sie entfielen die Reisekosten fast gänzlich, da unsere deutsche Niederlassung einen Katzensprung von München entfernt lag. Mit dem Zug wollte Laurent nicht anreisen, da bei der Deutschen Bahn Streiks angekündigt waren und er auch mit dieser Alternative in jedem Fall einige Stunden des Meetings verpasst hätte.
Nun gut, ich hatte es nicht zu entscheiden, war aber trotzdem erleichtert, als mein PC zwölf Uhr anzeigte und es Zeit für die Mittagspause war. Üblicherweise wurde man am ersten Arbeitstag vom direkten Vorgesetzten zum Mittagessen eingeladen. Jan Willems, an den ich rapportierte, hatte jedoch eine unentbehrliche Besprechung auf dem Terminplan. Also ging ich in Barbaras und Esmés Schlepptau in die Kantine.
Die Auswahl an Speisen in der Kantine war riesig und bot für jeden Geschmack etwas. Die längste Schlange hatte sich vor dem günstigen Tagesmenü gebildet, andere Mitarbeiter bevorzugten es jedoch, ihre Speisen am reichhaltigen Buffet selbst zusammenzustellen. Meine Wahl fiel auf das Tagesmenü.
Wir hatten uns kaum hingesetzt, da begannen die beiden Frauen über Mitarbeiter zu wettern, die sich mit Last-Minute-Anfragen an sie gewandt hatten, oder solche, die sich partout nicht an die Bestimmungen halten wollten. Zugegebenermaßen war die Arbeit einer Assistentin kein Zuckerschlecken, jedoch hätte ich mich nie getraut, derart abwertend über meine Kollegen oder Vorgesetzten zu sprechen. Zudem plauderten sie munter Privates von den Managern aus, das hier völlig unangebracht und von der Thematik her hochsensibel war.
Nicht ganz unerwartet bekam bei diesem Gespräch auch der Marketing-Direktor Laurent sein Fett ab. Esmé fuchtelte mit ihrer Gabel in der Luft herum, als sie sich leicht theatralisch über ihn äußerte: «Nur, weil er zu bequem ist, die Agenda umzuschreiben, sollen wir jetzt die Reise nach ihm ausrichten. Für wen hält er sich? Laurent ist gerade mal auf einem Director-Level eingestuft!»
«Wem sagst du das! Rate mal, wer heute wieder an meinem Schreibtisch stand.» Barbara brachte sich bereitwillig mit ein.
«Doch nicht etwa Konstantin?»
Das Gespräch klang in meinen Ohren wie ein einstudierter Dialog, den sie vor der neuen Mitarbeiterin zum Besten geben wollten.
«Genau! Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass er an einem Montagmorgen keine Meetings mit Jan ansetzen soll. Jan muss doch die Kinder zu seiner Ex-Frau bringen. Er ist einfach unbelehrbar! Heute fragte er schon wieder wegen eines Termins für 9:30 Uhr an.»
Esmé schüttelte den Kopf bei Barbaras Ausführungen.
Ich muss gestehen, dass ich auch irritiert war, jedoch vielmehr über die Tatsache, dass ein Senior-Manager wie Jan montagmorgens um 9:30 Uhr von seinen Mitarbeitern nicht erreicht werden konnte.
Mir war schnell klar, dass sich die Assistentinnen ein kleines Königreich geschaffen hatten, wobei sie den Burggraben zwischen dem Management und den restlichen Mitarbeitern höchstpersönlich gegraben hatten. Die Brücke wurde nur dann hinuntergelassen, wenn es ihnen gerade genehm war.
Abgesehen von den Kollegen war auch die Qualität der Kantine ein Reizthema. Als Überleitung schmetterte Barbara den Löffel in ihr fast leer gegessenes Apfelmus-Schälchen. «Ich werde mich bei der Kantinenleitung beschweren. Diese Apfelsorte ist für ein Apfelmus völlig ungeeignet!»
«Vergiss nicht, Volker in die Mail zu kopieren», schlug Esmé hämisch vor.
Volker war der Leiter unserer Abteilung und gehörte zum Senior-Management in der europäischen Zentrale. Er war zudem Barbaras direkter Vorgesetzter. Volker war dem CEO unterstellt, der seinen Sitz weitab des Hauptquartiers in der kanadischen Filiale in Toronto hatte.
Am Apfelmus gab es im Übrigen nichts auszusetzen. Auch an den Tischen nebenan hatte ich niemanden beobachtet, der das süße Dessert nicht leer gegessen hätte. Wie ich später erfahren sollte, waren beide miserable Köchinnen und unter Umständen nicht einmal in der Lage, selbst Apfelmus zuzubereiten. Ich hoffte insgeheim, dass das gemeinsame Mittagessen zukünftig etwas entspannter ausfallen würde. Schließlich war die Pause dazu da, Energie für die Nachmittagsstunden zu tanken. Im Augenblick schien sie mir aber entschieden anstrengender als die Arbeitszeit.
Ehe ich an meinem ersten Tag in den wohlverdienten Feierabend gehen durfte, begab ich mich in die Küche, um den Geschirrspüler einzuräumen und in Gang zu setzen, wie es mir aufgetragen worden war. Ich war gerade dabei, das herumliegende Geschirr in die Maschine zu laden, als zwei Mitarbeiter in die Küche traten, um ihre Tassen zu deponieren.
«Du musst neu hier sein! Ich bin Serge, der Controller», sprach mich einer von ihnen an.
Der junge Mann mit der markanten Brille und dem kaffeebraunen Teint war mir auf Anhieb sympathisch. Ein Vorteil davon, in der Zentrale zu arbeiten, war es, dass ich hier auf die verschiedensten Kulturen traf. Serge kam aus Martinique und sprach fast akzentfrei deutsch, obschon er erst wenige Monate hier lebte. Hin und wieder verriet ihn ein leichter französischer Akzent, der unglaublich charmant auf mich wirkte.
Sein Kollege war von seiner Erscheinung her eher konträr. Er war ein Hüne mit blassem Teint und eisblauen Augen. Trotz seiner Größe wirkte er keineswegs schlaksig, was auch an seinem sportlich-eleganten Kleidungsstil lag. Seine Hemdsärmel waren modisch bis unter die Ellenbogen hochgekrempelt, den obersten Knopf trug er offen.
«Und ich bin Laurent. Ich glaube, wir zwei hatten heute schon das Vergnügen», sagte er.
Ich spürte, wie mir sofort das Blut in den Kopf schoss. Gerade als ich mich bei ihm entschuldigen wollte, besänftigte er mich mit einer freundlichen Geste.
«Schon gut. Du kannst nichts dafür. Das ist eine Travel Policy für Mitarbeiter zweiter Klasse.»
Serge lachte, wobei seine perfekte obere Zahnreihe zum Vorschein kam. Als Laurent ebenfalls schmunzelte, konnte ich mir das Lachen nicht länger verkneifen. Wir brachen alle in schallendes Gelächter aus.
Unser frohes Beisammensein blieb offenbar nicht unbemerkt, denn plötzlich stand Barbara auf der Türschwelle und meinte: «Halte dich bitte an die vorgegebene Arbeitszeit von acht Stunden. Wir müssen die Arbeitszeiten unter Kontrolle bekommen. Einige haben in der Vergangenheit Überstunden en masse gemacht.»
«Okay.»
Laurent schüttelte den Kopf und wusch seine Kaffeetasse im Spültrog aus. Serge half mir derweil beim Einräumen der Maschine.
«Mach, dass du wegkommst», scherzte er, als er die Maschine anschaltete.
Im Lift lehnte ich mich an die Wand, mein Blick wanderte nach oben. Puh, geschafft! Was für ein Tag, dachte ich.
Als ich das Gebäude verlassen wollte, stellte ich fest, dass der Haupteingang verriegelt war. Der Bereich rundherum war mit Absperrständer ausstaffiert. Auf einer Infotafel war eine Notiz angebracht, dass eine Schutzvorrichtung ersetzt werden musste. Alle Mitarbeiter waren daher angehalten, den Hinterausgang zu benutzen.
Dieser Umstand wurde mir am zweiten Tag prompt zum Verhängnis. Die am Vortag im Homeoffice arbeitende Assistentin Isabella war wieder im Büro, und ehe sie sich mir richtig vorgestellt hatte, machte sie mich auf einen Fauxpas aufmerksam.
«Du hast gestern nicht an der Stempeluhr beim Haupteingang gebadget! Und bitte achte darauf, dass du nicht mehr als acht Stunden pro Tag arbeitest. Da du in der Küche herumgetrödelt hast, werde ich deine Arbeitszeit auf acht Stunden korrigieren.»
Ich schaute Esmé, die danebenstand, verdutzt an. Sie sagte nichts.
Ich sagte ebenfalls nichts, so erschrocken war ich über diesen unverschämten Kommentar. Aber ich dachte mir meinen Teil: Von wegen korrigieren. Ich hatte den Geschirrspüler eingeräumt und keineswegs herumgetrödelt. Zudem war es mein erster Arbeitstag gewesen. War es denn nicht üblich, sich neuen Kollegen vorzustellen, statt bloß mit kargen Abstellkammern Bekanntschaft zu machen? Was für ein befremdlicher Umgang mit neuen Mitarbeitern!
Ich begab mich an meinen Arbeitsplatz, um mich den Anfragen in der Inbox zu widmen. Kaum hatte ich damit begonnen, vernahm ich Barbaras gellende Stimme: «Hast du die Kartons schon abholen lassen?»
«Nein.»
«Mach es bitte.»
«Und wie mache ich das?»
«Ich habe dir gestern einen Link über den Chat geschickt», antwortete sie streng.
Die Konversationen im Chat wurden über Nacht gelöscht, es war somit nicht nachvollziehbar, ob ich diesen Link bekommen hatte oder nicht. Bei meiner alten Arbeitsstelle hatten wir diesen Chat nur für kleinere Anfragen genutzt, wie: «Bist du gerade am Platz?» oder «Hast du Zeit für ein Telefonat?», aber nie, um Arbeitsanweisungen zu teilen, die in einer E-Mail auf dem persönlichen Laufwerk hätten abgelegt werden können.
Ich war den Tränen nahe, konnte sie aber gerade noch schlucken. Esmé schickte mir den Link nochmals über den Chat und außerdem eine kurze Anleitung, wie ich den Container mit den Kartons vom Facility Management abholen lassen konnte. Ich bedankte mich ebenfalls über den Chat, damit niemand etwas von der heimlichen Konversation mitbekam.
Die Kartons wurden noch am selben Nachmittag abgeholt. Ich machte mir eine Notiz mit den Dingen, auf die ich besonderes Augenmerk halten musste:
• Stempeln am Haupteingang (genau acht Stunden)
• Geschirrspüler
• Abstellkammer (Kartons und Papier)
Die Mittagspause verbrachte ich an diesem Tag mit meinen beiden Kollegen von der Filiale, die ebenfalls ins Headquarter versetzt worden waren. Sie waren hell begeistert von ihren neuen Teams. Ich hielt mich damit zurück, von meinen ersten Eindrücken zu erzählen, und freute mich für sie. Offenbar herrschte in anderen Abteilungen eine bessere Atmosphäre.
Ich staunte nicht schlecht, als ich von der Pause zurückkam und an meinem Monitor einen Zettel vorfand, der mit großen roten Lettern versehen war:
First warning! / Erste Verwarnung!
Do not leave documents lying around during your absences.
Lassen Sie nie Dokumente während Ihrer Abwesenheiten herumliegen.
Oje, die Clean Desk Policy! Die hatte ich völlig vergessen. Ich hatte während der Mittagspause meinen Notizblock und den Ausdruck eines Flugtickets neben der Tastatur liegen gelassen. Mein Blick schwenkte automatisch zum Arbeitsplatz von Barbara, die noch nicht von der Mittagspause zurückgekehrt war. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Stapel mit Dokumenten, mehrere Klarsichtmappen und ein Ordner mit dem Etikett «Rechnungen». Bei diesem Aktenberg konnte man meinen, das digitale Zeitalter hätte uns noch nicht erreicht. In der obersten Klarsichtmappe erkannte ich die Kopie einer Kreditkarte. Doch ihr Monitor zeigte nur das Standbild der Firma, dort fand ich keine Spur einer Verwarnung. Hier galt offenbar die Devise «Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe».
Als ich mich wieder an meinem PC eingeloggt hatte, ergänzte ich meine Aufgabenliste: den Schreibtisch aufräumen (Mittagspause und Feierabend)
Die ersten beiden Wochen verliefen im selben Stil. Jeder einzelne Arbeitsschritt wurde minutiös überprüft und kommentiert. Hätte man mich nach dem Führungsstil dieser Firma befragt, ich hätte nur mit «Micromanagement» antworten können. Vor allem Barbara und Isabella konnte ich es nie recht machen. Sie ritten auf Details herum, die weder geschäftsrelevant noch dringend waren. Am wenigsten duldeten sie Gespräche mit Mitarbeitern, die mir gegenüber freundlich gestimmt waren – und davon gab es mehr, als den beiden Damen lieb war.
Kam ein Mitarbeiter an meinen Arbeitsplatz, um eine Auskunft einzuholen, wurde ich mit Argusaugen von der anderen Büroecke aus beobachtet. Ihre Blicke bohrten sich wie Banderillas in meinen Nacken und blieben dort mit ihren Widerhaken stecken. Bedankte sich der Mitarbeiter auch noch freundlich oder wechselte ein paar Worte mit mir, wurde dies gleich mit dem Hinweis unterbunden, dass in der Admin-Inbox dringende Anfragen warteten und ich nicht ständig herumtrödeln solle. Sie ließen mich unermüdlich im Kreis laufen, provozierten mich und warteten stets darauf, mir den nächsten Stich zu versetzen. Mir war nicht klar, was sie damit bezweckten.
Barbara und Isabella hatten die Büroräume unter ihrem Pantoffel und agierten dabei heimtückisch im Namen des Managements. Und wo waren eigentlich die Pantoffelhelden? Unsere beiden Chefs, Volker Bammert und Jan Willems, bekam ich im Büro nur selten zu Gesicht. Entweder waren sie geschäftlich auf Reisen oder schirmten sich hinter verschlossenen Bürotüren ab. Wollte jemand einen Termin, bekam er diesen nur über Barbara und bei deren Abwesenheit über Isabella. In meinem ehemaligen Büro hatten Willems und Bammert den Ruf unnahbarer Phantome. Der Ruf selbst war allerdings kein Phantom.
Im Intranet wurden die beiden völlig verzerrt dargestellt. In ihren Management-Porträts wurden sie mit Modewörtern wie »humble« – also bescheiden oder demütig – beschrieben. Wenn die beiden eine Eigenschaft nicht verkörperten, dann war es »humble«. In sündhaft teuren Kommunikations- und Medienkursen hatten sie Standardsätze auswendig gelernt, mit denen man jede Art von Fragen beantworten konnte und die gut klangen, aber im Alltag überhaupt nicht gelebt beziehungsweise vorgelebt wurden. Lieber versteckten sie sich wie kleine Lümmel hinter den Bürodrachen. Bekam man sie mal zu Gesicht, war Bammert launisch und Willems komplett abgehoben und realitätsfremd. Während Krisenzeiten, in denen Menschen um ihre Jobs und damit um ihre Existenz bangten, jammerte Willems darüber, dass ihm der Nachbar nicht genug Bauland verkauft hatte und deswegen sein neuer chinesischer Garten kleiner ausfiel, als ursprünglich geplant. Zu allem Unglück sollte auch noch die Buddha-Skulptur aus indonesischem Lavastein verzögert geliefert worden sein.
Auch Barbaras Ruf war nicht so lupenrein, wie sie zu glauben schien. Sie war dafür bekannt, dass sie businesskritische Meetings von unwichtigen nicht unterscheiden konnte. Als Konsequenz ihrer Sturheit kamen manche wichtigen Besprechungen nicht zustande, was einen negativen Einfluss auf Projekte nach sich zog. Barbara war aber bereits seit 25 Jahren in der Firma und galt in ihrer Rolle als unantastbar. Isabella und Barbara bezeichneten sich als Koryphäen, ohne deren Organisation der gesamte Büroalltag zusammenbrechen würde. Von einem zynischen Standpunkt aus betrachtet wurde unser Senior-Management also von vier Koryphäen der Bescheidenheit geführt.
Ich hatte mir schnell eine Meinung über die Situation an meinem Arbeitsplatz gebildet: Ich kam nur ins Büro, um meinen Job möglichst gut zu erledigen. Mehr erwartete ich von dieser Stelle nicht – nicht mehr. Ich verhielt mich ruhig und freundlich. Mein ausgeglichener Charakter kam mir dabei in so manchen Situationen zugute. Ich war stets die Klügere, die nachgab. Doch ganz gleich, wie korrekt ich mich verhielt, es reichte nicht. Die drei Assistentinnen wollten mich von Anfang an bluten sehen. Sie genossen die Kontrolle, die sie über mich hatten, und deckten damit weiß der Kuckuck welche persönlichen oder beruflichen Defizite.
Wenn ich abends mit meinen Freundinnen skypte und etwas Abstand von der Arbeit gewonnen hatte, lachten wir sogar über die Geschehnisse. Meine Arbeitstage waren dermaßen von Absurditäten geprägt, dass man sie als Außenstehender für eine einzige Komödie halten musste. Nach diesen Gesprächen fühlte ich mich in der Auffassung bestätigt, dass meine Erlebnisse nicht der Norm entsprachen. Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass ich mit meinen jungen Jahren noch so manche Arbeitsstelle durchlaufen würde. Das mochte sogar stimmen. Nur leider wurde mir auch mit jedem Tag bewusster, dass diese Stelle mich prägte wie ein Stigma.
Die Absurditäten setzten sich bei einem Mittagessen mit Esmé fort. Zuerst plauderten wir bei einem Teller Spaghetti ausgelassen über eine Reality-Soap im Fernsehen, dann leitete sie zu ihrem wahren Grund für die gemeinsame Mittagspause über.
«Ich möchte dir ans Herz legen, hör auf damit, Barbara und Isabella zu provozieren!»
«Wie bitte? Was meinst du damit?»
«Wie gesagt, du legst dich ständig mit den beiden an.»
«Das stimmt nicht! Wie um alles in der Welt kommst du auf diese groteske Idee?»
Sie antwortete mit blankem Schweigen. Wie immer war der Fundus an Argumenten sehr bescheiden, wenn ich Aussagen hinterfragte.
«Da steckt doch etwas anderes dahinter. Was verschweigst du mir, Esmé?»
«Nichts.»
«Lüg mich nicht an!»
Sie versuchte, Blickkontakt zu vermeiden, doch ich fixierte sie mit meinem Augenpaar.
Meine Beharrlichkeit hatte Erfolg.
«Also gut. Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst.»
«Okay.»
«Mir ist es ähnlich ergangen wie dir, Tina. Ich konnte es den beiden nie recht machen. Also bat ich Willems, versetzt zu werden. Jan versicherte mir im Zuge eines nächsten Karriereschritts noch im selben Jahr den Wechsel ins Marketing-Team. Doch als ihn im Endjahresgespräch darauf ansprach, erinnerte er sich nicht mehr an diese mündlichen Abmachungen. Letzten Endes stellte er mich vor die Wahl, den Job weiterzuführen oder die Firma zu verlassen.»
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
«Warum hängst du dennoch ständig mit den beiden zusammen?», fragte ich verständnislos.
«Ich möchte die Stelle nicht verlieren.»
«Aber sie dürfen dich nicht grundlos entlassen!»
«Glaub mir, die finden schon Gründe.»
Ich wusste nicht, was ich von Esmé halten sollte. Entweder war ihre Schmerzgrenze noch nicht erreicht oder sie hatte einen Hang zur Selbstkasteiung. Wenn ich länger darüber nachdachte, kam mir sogar der Verdacht, dass Barbara und Isabella etwas über die türkischstämmige Kollegin wussten, womit sie sie unter Druck setzen konnten.
Es konnte Esmé nur recht sein, dass der Fokus der beiden nun auf mir lag. Doch hätte ich mich an ihrer Stelle ebenso verhalten? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, mich vom gejagten Stier in der Arena in einen Zuschauer zu verwandeln und zu grölen, wenn einem Artgenossen vor meinen Augen Leid angetan wurde. Dafür hätte ich all meine Werte über den Haufen werfen müssen.