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DAS RENNEN IM NAMEN DES FRIEDENS

Als die vermeintlich effizienteste unter den Diktaturen des Warschauer Paktes wird die DDR auch beständig als deren grausamste und repressivste dargestellt. In schlaglichtartigen historischen Rückblicken verengt sich das Bild, das von diesem Staat gezeichnet wird, häufig auf lediglich zwei Aspekte: auf die Berliner Mauer und auf die Staatssicherheit. Im Kontext des Sports gilt die DDR vielen ebenfalls nur als Synonym für ein groteskes, staatlich gelenktes Dopingprogramm beziehungsweise für eine gigantische olympische Medaillensammlung, die mit betrügerischen Mitteln errungen wurde.

Praktisch mit Beginn ihrer Existenz, 1949 von Stalin mit harter Hand durchgedrückt, wurde die DDR von den westlichen Alliierten sofort zum Schurkenstaat erklärt. Zwei Jahre später, als die DDR ein eigenes Nationales Olympisches Komitee gründete, wurde ihm vom IOC die Anerkennung verwehrt. Stattdessen erging an die DDR die Einladung, an den Spielen von 1952 als Teil einer gemischten deutschen Mannschaft teilzunehmen, was die erwartete Reaktion hervorrief: Kein ostdeutscher Sportler reiste nach Helsinki. Von 1956 bis 1964 nahm dann jeweils eine gesamtdeutsche Mannschaft an den Olympischen Winter- und Sommerspielen teil. Diese stellte ein politisch hochgradig brisantes Konstrukt dar. Erst 1965 erkannte das IOC die DDR an, und die Spiele von Mexiko City erlebten den ersten Auftritt einer eigenen ostdeutschen Olympiamannschaft.

Zwanzig Jahre später erzielte das Land, ein totalitärer sozialistischer Staat mit knapp 17 Millionen Einwohnern, beispiellose Erfolge bei Olympischen Spielen. Die Sportler der DDR liefen, sprangen und schwammen der gesamten Konkurrenz mit Ausnahme der UdSSR davon. Das »Sportwunder der DDR« sah deren Gewichtheber, Skilangläufer, Leichtathleten und Turner, hilfreich unterstützt durch den systematischen, staatlich gesteuerten Missbrauch anaboler Steroide, regelmäßig den zweiten Platz im Medaillenspiegel belegen. Dies entsprach genau den Vorstellungen und Vorgaben der herrschenden Staatspartei: Die SED betrachtete den Sport als bedeutendes und wirksames Propaganda-Instrument, und in dieser Lesart lieferten die Athleten der DDR durch ihre spektakulären Leistungen letztlich vor allem einen Beweis für die »Überlegenheit des Sozialismus«. Eine Botschaft, die sich an die eigenen Landsleute ebenso richtete wie an den kapitalistischen Westen.

Bei den Olympischen Spielen 1976 gewannen ostdeutsche Teenager elf der dreizehn Schwimmwettkämpfe bei den Frauen. Die DDR sicherte sich in Montreal insgesamt nicht weniger als 40 Goldmedaillen, sechs mehr als die USA mit ihren 220 Millionen Einwohnern. Derweil kehrte die Mannschaft der Bundesrepublik, eines Landes mit immerhin 61 Millionen Einwohnern, mit lediglich zehn Mal Gold nach Hause. Acht Jahre später, bei den Winterspielen in Sarajevo, rangierte die DDR dann tatsächlich ganz oben im Medaillenspiegel. Ein Viertel aller Medaillen gingen an ihre Athleten.

Hohe Dosen von Oral-Turinabol, eines Testosteron-Derivats, das als »blaue Vitaminpille« bekannt und vom staatlichen Arzneimittelunternehmen VEB Jenapharm entwickelt worden war, wurden unter Aufsicht der Stasi verabreicht. Es gibt zahllose entsetzliche Geschichten von verheerenden körperlichen und psychologischen Schäden, die minderjährige Leistungssportlerinnen und -sportler durch die Einnahme des Mittels davontrugen. Sie erzählen von Leberschäden, unnatürlichem Haarwuchs und Unfruchtbarkeit bei jungen Frauen, von Hodenkrebs, von grässlichen emotionalen und körperlichen Deformationen. Besonders schockierend waren auch die Aussagen von Hans-Georg Aschenbach, einem früheren Skisprungweltmeister. Aschenbach war selbst ab dem Alter von 16 Jahren mit Dopingmitteln behandelt worden. Seine These: Die verabreichten Substanzen seien zusammen mit der immensen Trainingsbelastung dafür verantwortlich, dass im DDR-Sport auf jede Olympische Goldmedaille als Kollateralschaden mehrere hundert Invalide kämen.

Verantwortlich für das Programm mit dem Codenamen »Staatsplan 14.25« war Manfred Ewald. Als Präsident des hochgradig erfolgreichen Deutschen Turn- und Sport-Bundes (DTSB) wurde ihm 1983 als einem der ersten Honoratioren der Olympische Orden verliehen, eine Ehre, die er nun unter anderem mit Jesse Owens und Papst Johannes Paul II. teilte. Zwei Jahre später erhielt auch Erich Honecker dieselbe Auszeichnung, zusammen mit dem rumänischen Diktator Nicolae Ceaucescu. Nach der Wende wurde jedem der drei der Prozess gemacht: Ceaucescu wurde wegen Völkermordes hingerichtet. Honecker entging einer Verurteilung nur wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustandes. Und Manfred Ewald wurde verurteilt wegen »Beihilfe zur Körperverletzung zum Nacheil von 20 Hochleistungssportlerinnen«, denen man ohne ihre Kenntnis anabole Steroide verabreicht hatte. Er erhielt eine Gefängnisstrafe von 22 Monaten. Auf Bewährung.

All diese Dinge sind seit langem öffentlich dokumentiert. Doch was ist mit dem Radsport in der DDR? Was ist mit den ostdeutschen Vertretern einer Sportart, die wegen ihrer besonders engen Verflechtung mit Dopingvergehen so sehr in Misskredit geraten ist wie kaum eine andere? Diese Fragestellung hatte mich immer schon fasziniert, und bei meinen Recherchen hatte ich schnell gelernt, dass der Radsport in der DDR extrem populär war, insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren. Das Aushängeschild war die mythenumrankte Friedensfahrt. Als »Tour de France des Ostens« fand dieses internationale Etappenrennen jedes Jahr im Mai statt, mit Berlin, Warschau und Prag als Eckpfeilern im Streckenplan. Mit großer Übereinstimmung hieß es immer wieder, dass die Friedensfahrt – zumindest als Zuschauerveranstaltung – zu ihrer Zeit weitaus größer und zugkräftiger war als die Tour selbst. Ich wollte verstehen, wie groß dieses Rennen damals wirklich war und welche kulturelle, politische und gesellschaftliche Bedeutung es besessen hatte. Britische Radsportler, die bei der Friedensfahrt an den Start gegangen waren, hatten mir von gigantischen Zuschauermassen berichtet, aber ich hatte keine Vorstellung davon, welche Bedeutung dieses Rennen im Alltag jener Menschen hatte, für die es der Höhepunkt im Sportkalender war. Welche Rolle spielte die Friedensfahrt in der Welt des DDR-Sports und innerhalb des Ostblocks? Wer waren die ostdeutschen Radsporthelden und wie sehr waren ihr Leben und ihre Karrieren von politischen Interessen geprägt? Wie weit griff die staatliche Kontrolle und Lenkung im Radsport, und bis zu welchem Grad nahmen politische Überzeugungen (oder auch die materiellen Bedingungen) Einfluss auf radsportliche Leistungen? Wie war es, in einem vermeintlichen Tyrannenstaat sein Auskommen als Radrennfahrer zu haben, und wie erging es den Protagonisten dieses Sports mit der Stasi?

So wie den meisten Menschen, die sich für Radsport interessieren, war mir die Geschichte von Wolfgang Lötzsch ein Begriff. Als talentiertester Radsportler seiner Generation war er mit gerade mal 19 Jahren für einen Lehrgang für die Olympischen Spiele 1972 in München nominiert worden. Doch sein Vater hatte zuvor im Beisein von Funktionären unter anderem das Fehlen einer freien Presse in der DDR kritisiert, und Wolfgang Lötzsch hatte es unterlassen, ihm zu widersprechen. Auch auf die Aufforderung hin, der Partei beizutreten, hatte er nur den Kopf geschüttelt. Die Folge: Er wurde praktisch über Nacht als »politisch unzuverlässig« ausdelegiert und in den Betriebssport abgeschoben. Ungeachtet dessen trainierte er unverdrossen weiter und ließ sich den Mund nicht verbieten. Und so machte sich der Radrennfahrer Wolfgang Lötzsch zum Staatsfeind der DDR. Trotz seines außergewöhnlichen Talents würde er nie für sein Land starten dürfen, nie ins Ausland reisen, nie die Friedensfahrt oder ein WM-Rennen bestreiten.

Das Problem für die Obrigkeiten der Diktatur war, dass Lötzsch regelmäßig Fahrern das Hinterrad zeigte, die all diese Möglichkeiten hatten, und auf diese Weise die ganze Doppelmoral des politischen Systems direkt an der Wurzel lächerlich machte. Wolfgang Lötzsch war ohne Umstände der beste Radsportler der DDR, aber seine Karriere wurde zum ideologischen Cause célèbre. Allein ihn anzufeuern, bedeutete praktisch schon einen Akt des Widerstands gegen die Partei, und während er auch als BSG-Sportler Sieg um Sieg errang, wuchs sukzessive auch sein Fanlager. Wolfgang Lötzsch wollte eigentlich nur trainieren und Rennen fahren und den Menschen zeigen, was er sportlich draufhatte. Politik interessierte ihn nicht. Dennoch wurde er zusehends zu einer Symbolfigur. Wolfgang Lötzsch wurde zum Sportidol des »passiven Widerstands«. Und so erklärte ihm die Stasi den totalen Krieg.

Zwölf hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter und fünfzig IMs waren ihm ständig auf den Fersen, verfolgten jeden seiner Schritte, und schließlich brach er ein. Indem er seine Unterstützung für den Dissidenten Wolf Biermann zum Ausdruck brachte, lieferte er ihnen genau die Argumente, die sie brauchten. Wolfgang Lötzsch wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, saß zehn Monate lang in Einzelhaft, und als er freigelassen wurde, entzog man ihm die Rennlizenz. Auch als er sie später zurückerhielt, blieb er permanenten Anfeindungen ausgesetzt. Sein Leben und seine Karriere gerieten immer mehr zu einer politischen Schachpartie, die vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Als Teilzeitsportler ohne Unterstützung, konkurrenzfähiges Material und vernünftige Trainingsmöglichkeiten düpierte er auch weiterhin ein ums andere Mal die praktisch unter Profibedingungen trainierenden Staatsamateure und deren Zahlmeister.

1979 stellte er sich neben den besten Fahrern der Nationalmannschaft an der Startlinie von Rund um Berlin auf. Es war das größte Eintagesrennen in der DDR und eine der wenigen Radsportveranstaltungen, die live übertragen wurden. Vor den Augen einer großen Zuschauermenge griff er 150 Kilometer vor dem Ziel an und fuhr als Solist zum Sieg. Es war der Höhepunkt seiner Karriere, und den Symbolcharakter dieses Ereignisses konnte niemand übersehen. Lötzsch war vielleicht unpolitisch, zumindest sagte er das von sich, aber unpolitisch oder sogar zwiegespalten zu sein, war in der DDR bei weitem nicht genug: Entweder man war für den Sozialismus oder man war gegen ihn. Und so hatte Wolfgang Lötzsch bei Rund um Berlin nicht einfach nur ein Radrennen gewonnen, er hatte dem System seine Unbeugsamkeit unter die Nase gerieben. Vor aller Augen. Fortan wurden seine Trainingsmöglichkeiten weiter beschnitten, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholen könnte.

Letztlich war aber auch Wolfgang Lötzsch nur einer von Tausenden von Radrennfahrern, die es in der DDR gab. Deshalb ging ich davon aus, dass sein Fall nicht unbedingt repräsentativ war, weder für die Radsport-Szene noch für den gesamten Sport in der DDR. Oder etwa doch?

Im Jahr 2012 arbeitete ich zusammen mit dem Berliner Fotografen Timm Kölln an einer Reportage. Wir unternahmen eine ausgedehnte Reise durch den Osten Deutschlands, trafen ehemalige Radsportler, Journalisten und Funktionäre. Zudem gruben wir ausgiebig in den Erinnerungsschätzen des Friedensfahrt-Museums in Kleinmühlingen, einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt, das sich in den endlosen Weiten und Ackerflächen der Magdeburger Börde verlor. Wir hofften, auf diese Weise vielleicht ein wenig von der real existierenden Radsport-Landschaft der DDR aufspüren und gewissermaßen »exhumieren« zu können. Und dabei offenbarte sich uns, ganz allmählich nur, aber doch mit Nachdruck, eine wahrhaftig außergewöhnliche Geschichte. Vordergründig mochte es nur die Geschichte eines zweiwöchigen Radrennens sein, aber letztendlich erzählte sie doch so viel mehr über fast vierzig Jahre DDR-Sport.

Als Kind des kapitalistischen Westens hatte ich keine wirkliche Vorstellung davon, wie sehr und direkt die Politik die Karrieren jener Fahrer beeinflusste, die an der Friedensfahrt teilnahmen, und auch jener, die es nicht taten. Und ebenso hatte ich auch völlig die enorme politische Resonanz unterschätzt, die der Radsport in der DDR insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren besaß. Nirgendwo sonst, nicht einmal im Deutschland der Nazi-Zeit, hatte der Sport in vergleichbarem Maße Einfluss darauf genommen, wie eine Gesellschaft handelte und dachte.

Von Anfang an betrachteten westliche Politiker und Diplomaten die DDR als Unrechtsstaat, den die UdSSR völkerrechtswidrig ins Leben gerufen hatte und sowohl militärisch als auch politisch stützte. Stalin seinerseits hielt sich nicht lange mit diplomatischen Plattitüden auf. Vielmehr wies er seine Untergebenen in Ost-Berlin an, aus Ruinen einen neuen dynamischen Staat aufzubauen und die 18,9 Millionen Einwohner dazu zu bringen, bei der Sache mitzumachen. Irgendwie mussten all die Menschen überzeugt werden, dass sie Anteilseigner einer neuen progressiven Gemeinbesitzgesellschaft waren. Dass es ihre Pflicht war, eine Alternative zu jenem Imperialismus zu schaffen, der millionenfach Tod und Leid über ihren Kontinent gebracht hatte.

Die politische Rhetorik der im Aufbau befindlichen DDR war dementsprechend nicht nur von stereotypen kommunistischen Losungen geprägt, sondern auch von einem beispiellosen Optimismus. Mit Hilfe einer gigantischen Propagandamaschine machte sich die Partei daran, die Menschen in Ostdeutschland zu überzeugen, dass sie einen sozialistischen Musterstaat schufen. Wie üblich unter solchen Bedingungen leistete man der Vorstellung eines gemeinschaftlichen Feindbilds – des Kapitalismus – mit aller Macht Vorschub und gab ihm einen Namen und ein Gesicht: Konrad Adenauer, Kanzler der Bundesrepublik, und dessen Regierung in Bonn. Dafür gab es einleuchtende Gründe. In Leipzig, Dresden und Ost-Berlin erlebten Millionen Deutsche als direkte Folge der Naziherrschaft entsetzliches, unermessliches Elend. Deshalb ließ die Partei nichts unversucht, um zu dokumentieren, dass Westdeutschland weiterhin ein Bollwerk des Faschismus sei: Die Bundesrepublik war der Klassenfeind, gegenüber dem man sich mit allen Mitteln abgrenzen musste. Wenn man die Menschen in Ostdeutschland von dieser Sicht der Dinge überzeugen könnte, so der Grundgedanke, würde es auch gelingen, sie von der Last moralischer, emotionaler und politischer Verantwortung für den Krieg zu befreien. Das wiederum würde die nationale Einheit der DDR befördern und letztendlich die Utopie des Kommunismus verwirklichen. Gleichzeitig wurden alle Oppositionsparteien systematisch ausgeschaltet, Polizei und Justiz auf Parteilinie gebracht, die kirchlichen Institutionen an den Rand gedrängt.

Westdeutsche Politiker traten zu dieser Zeit öffentlich für die Wiedervereinigung ein. Gleichzeitig erhoben sie den Anspruch, dass die Bundesrepublik in der Zwischenzeit der einzige legitime deutsche Staat sei, die DDR hingegen nur eine Marionette der Sowjets. Vordergründig gab der Osten vor, ebenfalls ein geeintes Deutschland anzustreben, aber als sozialistischer Staat. Das war natürlich nur Propaganda, ein Vorwand, auf dem man die Argumentation von der Uneinsichtigkeit des Westens aufbauen konnte. Denn trotz all des diplomatischen Getöses war klar, dass so etwas nicht passieren würde, aber darum ging es ja auch gar nicht. Es ging darum, ein ostdeutsches Nationalgefühl zu schaffen und im Sinne des Sozialismus zu formen. Die Apparatschiks der Partei wussten nur zu gut, dass auf der Agenda nicht etwa eine deutsche Wiedervereinigung stand, sondern eher das genaue Gegenteil. Ihr Ziel war es, die Menschen in Ostdeutschland zu einen, und dieses Ziel verfolgten sie, indem sie die Politiker des Westens bei jeder Gelegenheit als durch und durch korrupt und moralisch bankrott darstellten. Durch eine uneingeschränkte Kontrolle der Medien – und, manche würden sagen, durch glatte Lügen und unverhohlene Verschleierung – machten sie sich daran, für die junge DDR eine völlig neue deutsche Identität zu schaffen.

* * *

Das war der politische Hintergrund, als sich im Jahr 1950 die Radsportverbände der Tschechoslowakei und Polens zusammensetzten, um ein schwieriges Problem zu erörtern. Zwei Jahre zuvor hatten einige Sportjournalisten aus den beiden Nachbarländern ein neues, grenzüberschreitendes Radrennen für Amateur-Nationalmannschaften ins Leben gerufen. Es fand zwischen den jeweiligen Hauptstädten statt, zwischen Warschau und Prag, und wurde von den beiden Tageszeitungen Trybuna Ludu* und Rudé Právo organisiert, den jeweiligen Zentralorganen der kommunistischen Partei. Ihren Ursprung hatte die Veranstaltung in der Idee, mit Hilfe des Sports die Solidarität zwischen den Völkern zweier Länder zu fördern, die während des Zweiten Weltkriegs unermesslich gelitten hatten und nun als sozialistische Staaten wiederaufgebaut wurden.

Der Startschuss zur Premiere der neuen Fernfahrt war, noch unter Ausschluss des gemeinsamen Feindes Deutschland, am 1. Mai 1948 gefallen, am internationalen Tag der Arbeit. Auch die Tatsache, dass man das Rennen genau sieben Tage später zu Ende gehen ließ, war kein Zufall gewesen. Der 8. Mai besaß als »Tag der Befreiung« beziehungsweise »Tag des Sieges« ebenfalls große Symbolkraft. Bereits die Auftaktveranstaltung des neuen internationalen Radrennens hatte es sogleich geschafft, die Öffentlichkeit in seinen Bann zu schlagen. Bei der zweiten Ausgabe, die in Warschau zu Ende gegangen war, hatte dann der große tschechische Rennfahrer Jan Veselý triumphiert, während das polnische Team zwei Etappensiege erzielen konnte. Noch im selben Jahr wurde die Teilung Deutschlands zementiert, und aus der sowjetisch besetzten Zone wurde die DDR, die als neuer sozialistischer Bruderstaat an der Seite Polens und der Tschechoslowakei stehen sollte.

Trotz – oder vielleicht gerade wegen – gewisser nationalistischer Motive, die ihm durchaus innewohnten, erhielt das Rennen im Jahr 1950 den neuen Namen »Internationale Friedensfahrt«+ und übernahm Picassos weiße Taube als Symbol. Die Grundsätze der Veranstaltung besagten, dass es jeder Nation freistehe, eine Mannschaft zu entsenden, unabhängig von politischer Ausrichtung, sportlicher Konkurrenzfähigkeit und wirtschaftlicher Stärke. Im Jahr zuvor hatte sich zum Beispiel ein Team französischer Kommunisten mit seinen Brüdern von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gemessen. Auch aus dem neutralen Finnland war eine Auswahl angereist, und sie alle wurden herzlich willkommen geheißen. Es wäre gewiss übertrieben, die Anwesenheit dieser Mannschaften als ein Aufflammen geopolitischen Freundschaftswillens zu bezeichnen, aber es war immerhin ein Anfang. Die Friedensfahrt war, unbelastet vom Lockruf des Geldes, der die Integrität des professionellen Sports untergrub, eine Einladung an alle: Kommt und fahrt mit! Während die Tour de France und der Giro d’Italia als Veranstaltungen für Profis seit jeher um kommerzielle Interessen kreisten, ging es bei dieser neuen Fernfahrt um etwas ganz anderes. Hier sollte der Radsport eine Metapher für die Gemeinschaft aller Nationen und Menschen der Welt sein.

Bestenfalls eingeschränkt konnte dies nach Kriegsende für die deutschstämmige Bevölkerung in Polen und der Tschechoslowakei gelten. Im Sudetenland hatten bei Kriegsausbruch rund drei Millionen Volksdeutsche innerhalb der Grenzen der tschechoslowakischen Republik gelebt. Obwohl die Mehrzahl von ihnen nie einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt hatte, wurde 1945 bei der Potsdamer Konferenz ihre Vertreibung angeordnet, was nicht nur angesichts der fehlenden Infrastruktur auch eine gewaltige logistische Herausforderung darstellte. In der Zwischenzeit waren sie entsetzlichen Repressalien durch die einheimische Bevölkerung ausgesetzt. Als Sündenböcke mussten sie für all die Gräueltaten herhalten, die im Namen des Vaterlands begangen worden waren, und so gehörten sie zu den ersten Opfern von ethnischen Säuberungen in der Nachkriegszeit. Erneut wurden zahlreiche Menschen vergewaltigt, umgebracht oder in Lagern eingesperrt, die kaum humaner waren als jene, in denen die Nazis die condition humaine entweiht hatten.

In Polen, wo der deutschsprachigen Bevölkerung inzwischen die Bürgerrechte entzogen worden waren, waren bald nach Kriegsende rund 250.000 Volksdeutsche interniert. Dermaßen barbarisch waren die Zustände in diesen Lagern, dass Schätzungen zufolge bis zu 60.000 von ihnen dort zu Tode kamen. Die Verwaltung lag oft in den Händen örtlicher Miliztruppen, die vor Willkürakten nicht zurückschreckten. Es gibt keine zuverlässigen Statistiken, aber man geht davon aus, dass in den ersten sechs Nachkriegsjahren in Europa zehn bis zwölf Millionen Deutschsprachige vertrieben wurden. Mindestens eine Million Vermisste waren zu beklagen. Bereits 1950 waren die deutschen Minderheiten in Polen und der Tschechoslowakei praktisch nicht mehr existent.

Obschon 18 Millionen von ihnen nun offiziell Verbündete im Kampf gegen den Imperialismus waren, betrachteten viele Polen und Tschechoslowaken die Deutschen – und zwar alle von ihnen – weiterhin als unversöhnliche Erzfeinde. Folglich provozierte es auch einen Aufruhr, als bekannt wurde, dass die DDR angefragt hatte, ob sie eine Mannschaft zur Friedensfahrt 1950 entsenden dürfe. Viele hielten allein diese Vorstellung für ungeheuerlich, aber im Endeffekt setzten sich die Ideale des neuen Radrennens (und im weiteren Sinne auch die des Kommunismus) durch. Im Mai 1950 nahm erstmals eine DDR-Auswahl an der Friedensfahrt teil.

Die Fahrer aus der DDR wurden von der Konkurrenz deutlich in die Schranken gewiesen, aber das spielte keine Rolle. Angesichts der delikaten geopolitischen Lage wäre ein Sieg eines DDR-Fahrers vermutlich sowieso eher kontraproduktiv gewiesen. Außerdem überschatteten die weiteren Implikationen ihrer Teilnahme alle Fragen nach Platzierungen und sportlichem Erfolg. Denn allein dadurch, dass sie an den Start gehen und mitfahren durften, hatten die sechs Radsportler aus der DDR eine De-facto-Anerkennung ihres Landes errungen. Etwas, was man auf diplomatischem Wege bis dahin vergeblich versucht hatte. Dies war die Friedensfahrt, und bei diesem Rennen gab es weitaus mehr zu gewinnen als Etappensiege, Zuschauerherzen und Blumensträuße.

Die Tageszeitung Neues Deutschland, das Zentralorgan der SED, ignorierte die Feindseligkeit der tschechoslowakischen und polnischen Bevölkerung am Straßenrand weitgehend. Stattdessen griff sie lieber groß die Geschichte des Teammechanikers Otto Frieße auf. Schauplatz der ersten Etappe war Warschau, aber – auch fünf Jahre nach Kriegsende – herrschte dort noch ein solcher Mangel an fast allen Dingen, dass die Offiziellen der einzelnen Mannschaften sich zum Beispiel die Begleitfahrzeuge teilen mussten. Und so erhielt auch Frieße, so wie alle anderen, die mit dem Rennen zu tun hatten, erst mal eine Stadtrundfahrt durch ein Warschau, das immer noch weitgehend in Schutt und Asche lag.

Zusammen mit einem polnischen Mechanikerkollegen schaute er von einem Lastwagen aus zu, wie die Warschauer sich abmühten, ihre zerstörte Stadt wieder aufzubauen, doch der Pole hatte nur einen Blick für die Trümmer. Glühend vor Zorn, dass er die nächsten zehn Tage Seite an Seite mit einem der verhassten Feinde verbringen sollte, konfrontierte er Frieße immer wieder aufs Neue mit dem Ausmaß der Zerstörung. Mal um mal herrschte er ihn an, zeigte mit dem Finger auf eine Ruine und rief: »Nazis – Du!«

Am Ende der Etappe informierte der geknickte Frieße die Leitung der deutschen Delegation, dass er genug habe und auf der Stelle abreisen werde. Er sei kein Nazi, sagte er, noch sei er in irgendeiner Weise für die Zerstörung Warschaus verantwortlich. Er sei nicht bereit, sich noch länger als Schuldigen für ein System schikanieren zu lassen, welches er doch selbst verabscheut hatte. Was könne er dafür, dass er zufällig als Deutscher geboren worden sei? Letztlich konnte man ihn jedoch irgendwie überzeugen, zu bleiben (wie, wurde nie wirklich geklärt), und er verfolgte das komplette Rennen in Gesellschaft des Polen.

Nach der Schlussetappe in Prag, als alle zum Aufbruch Richtung Heimat drängten, war Frieße plötzlich unauffindbar. Klaus Huhn, ein 22-jähriger Sportjournalist beim Neuen Deutschland, wurde losgeschickt, um ihn zu suchen. Nach langer, hartnäckiger Suche stöberte er Frieße schließlich auf: Es war bereits nach Mitternacht, und er fand den Mechaniker in einer Kneipe;sichtlich betrunken und bester Laune saß er dort mit seinem polnischen Kollegen zusammen. Als Metapher für das, was die Friedensfahrt bedeuten sollte, war diese Episode geradezu perfekt, und Huhn gab sein Bestes, dass sie ihren festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen erhielt. Schon zwei Jahre später würde Klaus Huhn der Sportchef des Neuen Deutschlands sein und er würde später auch zu einem der einflussreichsten Ideologen des Blattes werden.

Warschau–Prag hatte binnen zehn Tagen etwas erreicht, was die Parteifunktionäre der SED und ihre sowjetischen Zahlmeister jahrelang vergeblich versucht hatten. Die Anerkennung als eigenständiges Land und souveräne Nation spielte eine entscheidende Rolle, wollte man eine neue ostdeutsche Identität schaffen und bei der nach zwei Jahrzehnten ideologischer Brutalität zutiefst verunsicherten Bevölkerung wieder ein Gefühl von Patriotismus hervorrufen. Dass es nun einem schnöden Sportereignis wie einem Radrennen (und nicht einem Diplomaten in offizieller Mission) tatsächlich gelang, so etwas zu wecken, konnte niemand übersehen, nicht einmal die Partei selbst. Und so fand der Gedanke, dass die besten Athleten aus der DDR sportliche Botschafter ihres Landes sein könnten, immer mehr Anklang in den Köpfen der Mächtigen in Ost-Berlin. Es dauerte nicht lange, und die Idee, die später mit der Redensart von den »Diplomaten in Trainingsanzügen« auf den Punkt gebracht wurde, inspirierte die DDR, das nächste Manöver in einem sportlichen Kalten Krieg zu starten, der rasch zu eskalieren begann.

1951 kam es zur Gründung eines Nationalen Olympischen Komitees der DDR. Das Ziel dieses gewagten politischen Schachzugs war es, zumindest vorgeblich, eine DDR-Auswahl für die Olympischen Spiele vorzubereiten, die im Jahr darauf in Helsinki stattfinden würden. Aber es hing noch viel mehr daran. Zwei Jahre zuvor hatte das IOC den Aufbau eines gesamtdeutschen NOK begrüßt, das keinen Unterschied machte, ob ein Athlet nun aus Dresden oder Düsseldorf kam. Die Sanktionen, die man Deutschland nach Kriegsende auch auf sportlicher Ebene auferlegt hatte, wurden gelockert, die Deutschen fanden wieder Aufnahme im Kreis der weltumspannenden olympischen Gemeinde, es war ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einem friedlichen Nebeneinander der Nationen im Herzen Europas. Vor diesem Hintergrund war die Gründung eines eigenen NOK letztlich vor allem ein Vorstoß der DDR, um eben dies zu verhindern und die Adenauer-Regierung immer weiter in ideologische und diplomatische Scharmützel zu verstricken. In Bonn wiederum war man sich einig, dass Ost-Berlin keine Chance erhalten sollte, durch sportliche Großereignisse einen DDR-Patriotismus zu nähren. Also unternahm man alles, um das IOC zu überzeugen, den neuen »Nachbarn« zu ächten und ihm die Anerkennung zu verwehren. Mit Erfolg: Die bestehende Vereinbarung hielt, und Sportler aus der DDR durften in Finnland nur als Mitglieder einer gesamtdeutschen Mannschaft an den Start gehen. Ihre politische Führung weigerte sich, so etwas überhaupt in Betracht zu ziehen, doch vom IOC gab es die unmissverständliche Ansage: Entweder ihr macht unter diesen Bedingungen mit oder ihr bleibt zu Hause.

Und so kam es dann auch. Unnachgiebig in ihrer Position hatte sich die DDR praktisch selbst zum Feind der olympischen Bewegung erklärt. Alle internationalen Sportverbände unter dem Patronat des IOC wurden angewiesen, entsprechende Schritte einzuleiten, und Ost-Berlin war nun sportlich komplett isoliert. Kurzum: Die DDR hatte den Einsatz erhöht, dabei eine desaströse Niederlage eingesteckt, und nun standen ihre Athleten allein im Regen.

Die Friedensfahrt jedoch war anders. Sie war ein geistiges Kind des Ostblocks. Und vor allem war sie nicht offiziell von der UCI, dem Radsportweltverband, zugelassen und stand deshalb auch außerhalb des Einflussbereichs des IOC. Der Anfrage Ost-Berlins, ebenfalls fester Eckpunkt des Rennens zu werden, wurde stattgegeben, und 1952 wurde aus Warschau–Prag also Warschau–Berlin–Prag. Die Friedensfahrt 1952 war das erste internationale sportliche Großereignis, das nach dem Krieg wieder auf deutschem Boden stattfand, und somit bot sie auch die perfekte Gelegenheit, die Einheit, die Werte und die Identität eines eigenständigen ostdeutschen Staates zu vermitteln. Außerdem war dieses Rennen, insbesondere im Lichte der brüskierenden Zurückweisung durch das IOC, eine ideale Chance, um mit den Mitteln des Sports politische Wirkung zu erzielen.

Klaus Huhn wurde in die Organisationsleitung der Friedensfahrt berufen und war für die Planung und Ausrichtung der vier Etappen verantwortlich, die über ostdeutsche Straßen führten. Also spannte er seine ehedem große Radsportleidenschaft im Sinne seines ideologischen Pflichteifers ein und ging daran, die Friedensfahrt zum Herzstück der ostdeutschen Sportagenda zu machen.

Die Begeisterung der Menschen in der DDR für das Rennen war beispiellos und wurde durch die Sanktionen des IOC eher noch befeuert. Was den internationalen Sport betraf, war die Friedensfahrt das einzige Großereignis, das in der DDR zumindest Station machte, und das Neue Deutschland zog alle Register, um das Interesse zu schüren. Während des Rennens erwiesen sich die besten Amateure aus Italien, Belgien und den Niederlanden als zu stark, und das DDR-Kollektiv war einmal mehr chancenlos. Zum dritten Mal bei der dritten Teilnahme blieb dem Sextett aus der DDR sogar der Trostpreis eines Etappensiegs verwehrt, während ausgerechnet die Engländer es schafften, die Teamwertung zu gewinnen und sich durch Ian Steel auch das Gelbe Trikot zu sichern.

Kurze Zeit später nahm der Weltfußballverband FIFA die DDR in seinem Schoß auf, obschon es noch fünf Jahre dauern sollte, bis deren Nationalelf erstmals ein Pflichtspiel bestreiten konnte. In der Zwischenzeit hatte man sich mit ein paar freundschaftlichen Kräftemessen mit den kommunistischen Bruderstaaten Polen (3 x), Bulgarien (3 x) und Rumänien (4 x) zu begnügen. Die Funktionäre des DDR-Fußballs hatten ihre Pferde zur Tränke geführt, aber sie konnten es vorerst nicht wagen, sie gemeinsam mit dem Klassenfeind daraus trinken zu lassen. Hinzu kam, dass die Friedensfahrt vor dem Hintergrund einer anhaltenden Massenflucht ausgetragen wurde, die immer mehr Menschen die DDR gen Westen verlassen ließ. Das Rennen war ein farbenprächtiges Fest geprägt von Temporeichtum und Gemeinschaftssinn, aber es stand damit im krassen Gegensatz zur vorherrschenden Stimmung im Land.

1953 hatten bereits rund 700.000 Menschen – besorgniserregende vier Prozent der gesamten Bevölkerung – die DDR verlassen. Tag für Tag verlor die Republik gut ausgebildete Akademiker und Facharbeiter an den erklärten Klassenfeind. Im Zusammenspiel mit den Reparationsleistungen an die Sowjets und der Tatsache, dass Investitionen von außen auf beängstigende Weise ausblieben, hatte dieses Ausbluten tiefgreifende Folgen. Diejenigen, die in den Westen gingen, wurden von der Partei als dekadent und ideologisch verblendet gebrandmarkt, aber die Konsumgüter und Autos, die sie in der Bundesrepublik kaufen konnten, waren vermutlich eine hübsche Kompensation für solche Diffamierungen. Kurzum: Wer ging, umarmte den Materialismus mit allem für und wider; wer blieb, nahm in Kauf, für mehr Arbeit immer weniger zu bekommen.

Die meisten Menschen in Ostdeutschland verstanden sehr wohl, dass sie in einem sowjetischen Satellitenstaat lebten, auch wenn der Name DDR etwas anderes nahelegen wollte. Man hatte ihnen Frieden versprochen, und doch wurden elf Prozent des Staatshaushalts für die Militarisierung ausgegeben. Weitere zehn Prozent flossen in Form von Reparationen direkt nach Moskau, derweil die fortschreitende »Sowjetisierung« der Gesellschaft in einer flächendeckenden Kollektivierung von Bauernhöfen und Unternehmen zum Ausdruck kam. Wirtschaftlich drehte sich alles um die Schwerindustrie, was zur Folge hatte, dass die Regale in den Geschäften immer öfter leer blieben. Lebensmittelknappheit stellte sich ein, selbst grundlegende Dinge wie Elektrizität waren rationiert. Der Kommunismus, als Gegenmittel gegen Imperialismus und Völkermord gepriesen, verlangte den Menschen im Alltag sehr reale Opfer ab. Der Preis, den sie bezahlten, war hoch, aber vielleicht noch deprimierender war das wachsende Gefühl, verschaukelt worden zu sein. Man hatte ihnen ihre Selbstbestimmung genommen, sie waren zu Marionetten Stalins degradiert worden. Der sowjetische Diktator, der sich als »Gärtner im Garten des Volkswohls« hatte feiern lassen, starb zwar im März 1953, doch in Ostdeutschland trug die Saat der Desillusionierung längst gallebittere Früchte. Während die sechste Austragung der Internationalen Friedensfahrt nahte, war klar, dass etwas passieren musste, und zwar bald.

Die achte Etappe der Friedensfahrt 1953, die über 226 Kilometer in Richtung Südosten führen sollte, war in hohem Maße symbolisch aufgeladen. Der Start erfolgte in Ost-Berlin, das Ziel befand sich in Görlitz, direkt an der Grenze zu Polen. 1939 war etwas südlich der Stadt, östlich der Neiße, ein vormaliges HJ-Camp in ein Kriegsgefangenenlager umgebaut worden, das Stalag VIII A, wo während des Kriegs tausende Polen und Russen durch Unternährung und Krankheiten den Tod fanden. Als nach dem Friedensschluss die deutsche Ostgrenze neu gezogen wurde, verlor Deutschland alle Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie, insgesamt 23,8 Prozent seines Vorkriegsterritoriums. Görlitz’ Vorstadt am Ostufer des Flusses fiel an Polen und hieß nun Zgorzelec. Die Volksdeutschen, die mit dem Leben davongekommen waren, wurden vertrieben, an ihrer Stelle wurden vorwiegend griechische und mazedonische Flüchtlinge angesiedelt. Kurzum, diese achte Etappe besaß eine symbolische Bedeutung, die niemand übersehen konnte. Die Internationale Friedensfahrt, das Rennen, das den Kommunismus und die herrschenden politischen Verhältnisse im Herzen Europas sportlich verkörperte, war ausdrücklich ins Leben gerufen worden, um den Gedanken der Versöhnung zu propagieren. Am achten Jahrestag der Befreiung würde sie eine Stadt vereinen, die der Faschismus entzweigerissen hatte.

Der Däne Hans Edmund Andresen führte das Rennen vor seinem Teamkollegen Christian Pedersen an. Das dänische Team lag auch in der Mannschaftswertung vorne, wo die DDR vorerst den zweiten Platz belegte. Derweil rangierte ein Fahrer der ostdeutschen Mannschaft, der junge Gustav-Adolf »Täve« Schur, an dritter Stelle des Gesamtklassements, mit 7:31 Minuten Rückstand. Weder er noch einer der führenden Dänen befand sich jedoch in der sechsköpfigen Ausreißergruppe des Tages, dafür hatte es Bernhard Trefflich geschafft, einer aus dem DDR-Sextett, der als guter Sprinter bekannt war. Vor einer gigantischen Zuschauerkulisse bescherte er der DDR ihren so lange ersehnten ersten Etappensieg in der Geschichte der Friedensfahrt. Und das in Görlitz.

Endlich hatten die Ostdeutschen etwas zum Feiern und Jubeln. Hinzu kam, dass Andresen und Pedersen auf den verbliebenen Etappen im Kampf um die Führung in der Einzelwertung keine Verwandten kannten und den Rest ihrer Mannschaft aufrieben. Und so gelang es Trefflich, Schur und Lothar Meister mit vereinten Kräften, den vormals großen Rückstand auf die Dänen noch wettzumachen: Die DDR holte sich 1953 erstmals auch den Sieg in der Mannschaftswertung.

Der Sieger trug auch bei der Friedensfahrt ein Gelbes Trikot, wie man es von der Tour de France kannte, aber davon abgesehen unterschieden sich die Kultur und das Wesen der beiden Etappenrennen wie Tag und Nacht. So erhielt bei der Friedensfahrt zum Beispiel das führende Team in der Mannschaftswertung ein Blaues Trikot, das kolossale Wertschätzung genoss. Schließlich symbolisierte dieses Kleidungsstück nicht nur sportliche Überlegenheit auf der Straße, sondern auch das Ideal des Kollektivs, die gemeinsame Anstrengung für ein übergeordnetes Ziel und die Selbstaufopferung des Individuums – mithin die nobelsten Werte des Kommunismus.*

Der Gewinn des Blauen Trikots befeuerte, unterstützt durch das Charisma und das einnehmende Wesen Täve Schurs, in nie zuvor erlebter Weise die Fantasie der Massen. Das entging auch den Betonköpfen in der Parteizentrale nicht, und das Neue Deutschland stimmte wahre Hymnen an. Ein interner Bericht des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport kam zu dem Schluss, dass in jenen Maiwochen beinahe die gesamte Bevölkerung im Bann der Friedensfahrt und des patriotischen Kampfes für die DDR gestanden habe. Erstmals habe es ein Wir-Gefühl unter den Menschen gegeben, erstmals hätten die Leute von der DDR als »unserer« Mannschaft gesprochen.

Niemand hatte sich vorstellen können, welche Welle des Nationalstolzes dieser sportliche Erfolg auslösen sollte, doch sie war von kurzer Dauer. Nur einen Monat später wurden in der DDR die Arbeitsnormen erhöht. Wer sein Plansoll nicht erfüllte, würde fortan mit Lohnkürzungen bestraft. Daraufhin kam es zu Arbeitsniederlegungen auf Ost-Berliner Großbaustellen, es formierten sich Proteste, die im Aufstand des 17. Juni eskalierten. Russische Panzer rollten nach Ost-Berlin, Leipzig und Dresden hinein, Unschuldige kamen zu Tode, es spielten sich vielerorts entsetzliche Szenen ab, wie sie sich wenig später in ähnlicher Form in Budapest und Prag wiederholen sollten.

Diese beiden Ereignisse, der Aufstand des 17. Juni und die Friedensfahrt, sollten das Leben von mehreren Generationen von DDR-Bürgern entscheidend prägen. Als sich die Dinge beruhigt hatten, bewies die Friedensfahrt ein weiteres Mal, um wie viel wirkungsvoller als jede Ideologie sie doch war, wenn es darum ging, so etwas wie soziale Schwerkraft zu erzeugen und die Bevölkerung auf eine Sache einzuschwören. Während die Menschen von der Politik und den Politikern allmählich die Schnauze voll hatten, konnten sie vom Sport gar nicht genug bekommen. Das warf zwei entscheidende Fragen auf: Wie konnte man dieses Potenzial des Sports weiter mehren? Und auf welche Weise konnte man am besten Kapital daraus schlagen?

* * *

Der Wertekanon des Sozialismus traf kaum Unterscheidungen zwischen Arbeit und Freizeit. Jeder Bürger der DDR stand praktisch immer und überall in der Pflicht, seinen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Folglich sah man in der »Freizeit« nicht wie in den bourgeoisen kapitalistischen Volkswirtschaften eine eigenständige Sphäre, sondern vielmehr einen weiteren Faktor, der zum Gelingen des großen Ganzen beitragen sollte. Die Partei animierte die Bevölkerung zur regelmäßigen Körperertüchtigung (was Walter Ulbricht später die berühmte Losung »Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport« formulieren ließ), aber organisierte Sportaktivitäten sollten nicht allein einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und das physische Wohlbefinden der Menschen haben.

Auch Sport zu schauen, war in der Perspektive des Kommunismus nicht zwangsläufig eine passive, negativ besetzte Freizeitbeschäftigung. Die Zuschauerrolle war auch nichts, was jemand einfach als Individuum einnahm. Vielmehr erforderte sie aktive Beteiligung und soziale Verantwortung. Wenn also nun ein Mal im Jahr die Friedensfahrt durch ostdeutsche Städte und Dörfer rollte, wurde von der örtlichen Bevölkerung erwartet, dass sie dieses Ereignis entsprechend würdigte. Schon Wochen vorher organisierten Schulen Veranstaltungen rund um die Friedensfahrt, der komplette Lehrplan wurde in Vorfreude auf den großen Tag umgestaltet. Den Schülern wurden nicht nur die Grundzüge des Radsports und der Renntaktiken beigebracht, auch die symbolische Bedeutung des Rennens, die Tatsache, dass es hundert unterschiedliche Radrennfahrer aus Ländern rund um den Erdball zusammenbrachte, wurde als Unterrichtsthema begeistert aufgegriffen. Die Lehrer sollten insbesondere den kommunistischen Kontext zur Sprache bringen, in dem die Friedensfahrt stand, und den Kindern vermitteln, dass eine solche Veranstaltung nur im Sozialismus überhaupt denkbar sei. Gern wurden bei dieser Gelegenheit Vergleiche mit der Tour de France gezogen, einem Rennen, das ganz unter dem Diktat kommerzieller Interessen stand. Die Tour, so Botschaft, sei nichts anderes als ein organisierter Verrat der sportlichen Ideale – mit all der Reklame und mit Fahrern, die allein des Geldes wegen antraten.

Die Friedensfahrt ließ sich perfekt instrumentalisieren, um sowohl den Patriotismus als auch die soziale Kontrolle zu fördern. Schulen und Fabriken stellten Lautsprecher auf, aus denen Radioübertragungen des Rennens zu hören waren, und betrachteten es als eine Ehre, einen Beitrag zu den Sachpreisen für die Rennfahrer zu leisten. Am großen Tag der Etappe waren ganze Dörfer und Städte auf den Beinen, Schüler und Fabrikbelegschaften wurden in Bussen an die Strecke gekarrt, um als Teil des Spektakels mitzuwirken und ihm eine angemessene Kulisse zu bescheren. Jeder empfand es als seine persönliche Schuldigkeit, am Straßenrand zu stehen; zumal man damit rechnen musste, dass einem dies als demonstrative Vernachlässigung der Bürgerpflichten angekreidet wurde, wenn man dem Rennen fernblieb. Bürgermeister appellierten an die Bevölkerung ihrer Stadt, in Massen zu erscheinen, und hofften inständig, im Wettbewerb um den farbenprächtigsten nur denkbaren Empfang des Rennens gut abzuschneiden. Obschon es zweifellos Menschen gab, die den Besuch einer Friedensfahrtetappe eher als Zwang empfanden, wurde das Rennen schnell zum Synonym für Spaß, Gemeinschaftsgefühl und zivilen Stolz. Alle waren gemeinschaftlich dabei, die Friedensfahrt war ohne Zweifel der Höhepunkt des Sportkalenders. Nicht zu Unrecht trug sie auch den Beinamen »die Fahrt der Millionen«.

Zuvor hatte die Sportgemeinschaft der Welt die DDR gemieden und wollte möglichst nichts mit ihr zu tun haben, aber die Friedensfahrt entwickelte sich zum Katalysator internationaler Anerkennung. Das Rennen wurde immer größer, so dass man 1954 insgesamt 16 Nationalmannschaften aus aller Welt begrüßen durfte. Auch der amtierende UCI-Präsident Achille Joinard war geladen und zeigte sich beeindruckt von dem, was er geboten bekam. Nie zuvor habe er erleben dürfen, dass man sich in solch mitreißender Weise um die Fahrer gekümmert habe wie bei diesem Rennen, sagte er und hieß die Friedensfahrt begeistert im Schoße des Weltradsports willkommen. Allein die Tour de France, fügte er hinzu, könne es als sportliches Schauspiel mit der Drei-Länder-Fahrt aufnehmen, und dort seien auch lediglich acht Nationen vertreten. Außerdem habe sich der Radsport – oder irgendein anderer Sport – bei keiner anderen Veranstaltung solch hohen moralischen Prinzipien verpflichtet.

Bei der Fußball-WM 1954 in der Schweiz war die DDR nicht vertreten. Westdeutschland hingegen erreichte unerwartet das Endspiel. Vor dem Finale galt die Nationalelf der Bundesrepublik als krasser Außenseiter gegenüber den seit Jahren ungeschlagenen Ungarn, doch irgendwie schaffte sie es, den WM-Pokal zu gewinnen. Das »Wunder von Bern« erwies sich, ebenso wie im Jahr zuvor der Erfolg der DDR-Mannschaft bei der Friedensfahrt, als ein Ereignis, das maßgeblich dazu beitrug, die Idee einer neuen Nation in den Köpfen der Menschen zu verankern. Das Neue Deutschland diskreditierte den WM-Triumph des erklärten Klassenfeindes, wie nicht anders zu erwarten, in schändlicher Manier als einen neuerlichen Sieg des Faschismus. Aber ungeachtet dessen war es der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954, der die Bundesrepublik Deutschland in kultureller und emotionaler Hinsicht für Millionen Menschen erst wirklich Realität werden ließ. Im Herbst 1955 trat die BRD der NATO bei, die DDR dem Warschauer Pakt. Ob es dem gemeinen Volk nun gefiel oder nicht, die Idee eines geeinten Deutschlands rückte in immer weitere Ferne.

Sportlichen Großereignissen wohnt etwas Absolutes inne. Sie liefern eindeutige, unmissverständliche Ergebnisse, jeder kann sehen und nachvollziehen, wer gewinnt. Das machte sie zu sehr authentischen Schauplätzen des ideologischen Klassenkampfs und der geopolitischen Auseinandersetzungen. Die SED-Führung erkannte früh den Zusammenhang zwischen sportlichem Erfolg und politischer Opportunität, und in diesem Sinne musste ihr die Friedensfahrt 1955 wie ein Geschenk des Himmels vorkommen. Täve Schur gewann die Rundfahrt für die DDR und besiegelte seinen überzeugenden Sieg vor den Augen von 100.000 Polen in Warschau. Dass er zum populärsten Sportler in der Geschichte der DDR wurde, ist unbestreitbar. Als bester Amateur-Radrennfahrer seiner Generation ließ er vier Jahre später einen zweiten Gesamtsieg bei der Friedensfahrt folgen, zudem sicherte er sich auch zwei Mal hintereinander den Titel des Straßenweltmeisters. Neun Mal in Serie wurde er zum DDR-Sportler des Jahres gewählt, aber das Phänomen Täve ließe sich nie allein anhand seiner sportlichen Erfolge bemessen.

Welche Mythen sich auch um sie ranken mögen, sind Radsportlegenden wie Fausto Coppi oder Eddy Merckx letzten Endes nicht mehr als sehr berühmte Radrennfahrer. Obschon er im Westen Deutschlands weitgehend unbekannt blieb, war Täve Schur etwas völlig anderes. Durch diesen ersten Sieg bei der Friedensfahrt wurde er nicht nur zu dem Sportidol der Menschen in der DDR, sondern auch zum Vorzeigehelden des Staates DDR als solchem. Als überzeugter Kommunist und SED-Mitglied war er das perfekte Maskottchen für ein einzigartiges soziopolitisches Experiment, für die Errichtung eines idealtypischen Proletariats nach sozialistischem Zuschnitt. Man benannte einen Planeten nach ihm, veröffentlichte zahlreiche Biografien, die zu Bestsellern avancierten, und hielt seinen Namen und alles, wofür er stand, in Ehren. Jedes Jahr im Mai skandierten hunderttausende Kinder seinen Namen. Täve war Karl Marx und Gino Bartali, Elvis Presley und Roy Rogers. Er war Frauenschwarm und Philosoph, Diplomat und Proletarier. Er war einer, der allen Menschen gerecht wurde. Täve Schur war die Personifizierung des »neuen Menschen«. Für die Politik war dieser Mann schlichtweg Gold wert; er war die lebende Synthese der Überlegenheit des Sozialismus. Ein eindrucksvoller Beleg findet sich im Friedensfahrt-Museum in Kleinmühlingen, wo abertausende Briefe aufbewahrt werden, die überschwängliche Menschen an Täve Schur geschrieben haben. Ein Großteil stammte von der weiblichen Bevölkerung. Einige lesen sich überraschend anzüglich (zumindest nach den puritanischen Standards der DDR in den 1950ern), und die meisten gipfeln in Heiratsanträgen.

Nirgendwo sonst auf der Welt war der Sport in dem Maße politisiert wie in der DDR, und Täve Schurs feste politische Überzeugung und sein einnehmender Charakter gehörten zu den machtvollsten Propaganda-Instrumenten, die der SED zur Verfügung standen. Täves Siege gehörten allen: den Arbeitern und Bauern, den Lehrern und ihren Schülern, den Ärzten und Müttern. Vor allem aber gehörten sie dem revolutionären Sozialismus, und sowohl er selbst als auch die Partei wurden nicht müde, diese Tatsache immer wieder zum Ausdruck zu bringen. Es war kein neues Phänomen, dass Diktaturen aller Schattierungen herausragende Sportler politisch instrumentalisierten, aber kein Athlet war je derart wirkungsvoll eingespannt worden wie Täve Schur.

Der Sieger der Friedensfahrt 1956 indes, Stanislaw Królak aus Warschau, wurde von vielen Menschen ausgerechnet aus dem Grund ein Leben lang als Held verehrt, weil er angeblich einen russischen Kontrahenten mit einer Luftpumpe verprügelt hatte. Der Legende nach hatte besagter Russe während des Rennens allgemein den dicken Max markiert und zudem ganz konkret einen Fahrer des polnischen Teams bedroht. Daraufhin habe Królak seinen Mannschaftskollegen (und mithin die Ehre Polens) mit der einzigen Waffe verteidigt, die greifbar war, also mit seiner Luftpumpe. Ganz Warschau feierte seinen Sieg, und eine schnöde Luftpumpe wurde zu dem Symbol der Friedensfahrt in Polen.

Die Episode mit der Luftpumpe entbehrte in Wahrheit jeder Grundlage. Gerade deshalb aber liefert sie einen höchst anschaulichen Hinweis darauf, wie bedeutend die Friedensfahrt war und wie sehr die Geschichten, die sie produzierte, sich verselbstständigen und im Nu ins kollektive Gedächtnis der Menschen einbrennen konnten. Królak betonte wieder und wieder, dass er den russischen Fahrerkollegen nicht geschlagen hatte, aber all seine Beteuerungen stießen auf taube Ohren. Die polnische Öffentlichkeit wollte so sehr daran glauben, dass er der Besatzermacht mutig die Stirn geboten hatte, dass er es irgendwann aufgab, die Sache abzustreiten.

Stanislaw Królak wurde gewissermaßen zu einer Fabelfigur der polnischen Sportsaga, aber sein Gelbes Trikot war auch, ebenso wie das Blaue Trikot der DDR-Mannschaft 1953, ein bedeutendes politisches Ereignis. Abertausende Menschen waren auf den Beinen, um seine triumphale Rückkehr nach Warschau mit eigenen Augen zu erleben, und trugen mit diesem euphorischen Empfang dazu bei, dass die Anti-Moskau-Stimmung, die seit einiger Zeit unter der polnischen Bevölkerung gärte, weiter Fahrt aufnahm. Der bisherige Staatspräsident und Parteichef Boleslaw Bierut, der sich den Beinamen »der kleine Stalin von Polen« verdient hatte, war zwei Monate zuvor gestorben, und der Kampf um seine Nachfolge war voll entbrannt. Das Proletariat wünschte den moderaten Wladislaw Gomulka an der Spitze des Landes, aber die Apparatschiks von der Partei favorisierten einen knallharten Stalinisten namens Edward Ochab. Das Land steuerte auf einen entscheidenden Wendepunkt in seiner Geschichte zu, und Królak und seine Luftpumpe spielten eine nicht unerhebliche Rolle für die Ereignisse, die folgen sollten.

Ende Juni kam es zum Posener Arbeiteraufstand. Zahleiche Zivilisten verloren bei den Kämpfen ihr Leben, unter ihnen ein 13-jähriger Junge namens Romek Strzalkowski. Sowjetische Truppen schlugen die Revolte mit Panzerunterstützung blutig nieder. Die Zensur der kommunistischen Behörden hielt alle Informationen über die Geschehnisse 25 Jahre lang unter Verschluss und unterband alle etwaigen Recherchen, so dass das Ereignis im Westen weitgehend in Vergessenheit geriet. In Polen aber wusste jeder, wer Stanislaw Królak und Romek Strzalkowski waren und wofür sie standen. Kurze Zeit später wurde der Ungarische Volksaufstand auf den Straßen Budapests in ähnlicher Weise niedergeschlagen, und fünf Jahre darauf besiegelte der Bau der Berliner Mauer das Schicksal von Millionen Menschen. Osteuropa wurde hermetisch gegenüber dem Westen abgeriegelt.

1972 gewann der Tscheche Vlastimil Moravec die womöglich größte und symbolkräftigste Ausgabe der Friedensfahrt. In einer Zeit, in der die Menschen in der Tschechoslowakei noch immer ganz unter dem Eindruck der Ereignisse des Prager Frühlings standen, lieferte er sich in der Gesamtwertung einen Kampf bis aufs Messer mit dem sowjetischen Fahrer Wladislaw Neljubin. Vier Mal wechselte im Laufe der Rundfahrt das Gelbe Trikot zwischen den beiden. Schließlich rettete Moravec, unterstützt von einer Koalition der Willigen, zwei Sekunden Vorsprung ins Ziel der letzten Etappe. Das durchschnittliche Tempo dieser Friedensfahrt betrug bemerkenswerte 42,6 km/h. Ungefähr zur gleichen Zeit erreichte Eddy Merckx bei einem Giro d’Italia, bei dem er alle Herausforderer um Längen dominierte, einen Schnitt von gerade mal 36,1 km/h. Radsportfans in aller Welt beschwören bis heute immer wieder die großen Duelle herauf, die sich Merckx mit Gimondi lieferte, Coppi mit Bartali oder Anquetil mit Poulidor. Aber was den Aspekt der Dramatik betrifft, die heimtückischen Manöver und das spannende sportliche Schauspiel, wurde das Radsportpublikum im Westen nie Zeuge eines Duells, das auch nur annähernd an die Friedensfahrt von 1972 heranreichte.

Während Moskau gegenüber Washington die Muskeln spielen ließ und Prag und Warschau unterjochte, während Ost-Berlin sich in einem Dauerzwist mit Bonn beharkte, wurde auch der Friedensfahrt immer mehr geopolitischer Ballast aufgebürdet. Das Rennen mochte sich offiziell noch immer auf den Geist der Détente stützen, doch ebenso sehr gründete es auch seit jeher auf den politischen Auseinandersetzungen, die Europa ideologisch in zwei Hälften teilten, und war aufs Engste mit diesen verwoben. Und so wurde die Friedensfahrt immer mehr zur perfekten Metapher des Ost-West-Konflikts: zum sportlichen Krieg innerhalb des großen Kalten Kriegs. Trotz der schönen utopischen Idee, die sie repräsentierte, war die Friedensfahrt nun nicht mehr als ein Spiegelbild jenes ideologischen Mahlstroms, aus dem heraus sie geboren worden war und der sie irgendwann unweigerlich vergiften musste. Wie hätte es, angesichts des einmaligen Kontextes, in dem dieses Rennen stand, auch anders kommen sollen?

Selbst wenn die Popularität des Radsports in der DDR im Laufe der Jahrzehnte durchaus Schwankungen unterworfen war, blieb die Friedensfahrt bis in die 1980er Jahre ein sportliches Ereignis mit Leuchtturmwirkung. Überdies hatte auch jene Radsportkultur, die in der Zeit nach der Wende große deutsche Radrennfahrer wie Jan Ullrich oder Erik Zabel hervorbrachte, ihre Wurzeln keineswegs im wiedervereinigten Deutschland. Die Saat für die großen Erfolg dieser Fahrer, und auch die zahlreicher ihrer Kollegen, wurde bereits in einer ganz anderen Zeit ausgebracht, in einem Land, das nun nicht mehr existierte. Sie wurden – es lässt sich nicht von der Hand weisen – in der DDR gemacht.

Dies immerhin waren ein paar letzte sichtbare Überreste der einst so großen Radsportherrlichkeit der DDR. Zumindest schien es so.

Als ich die Startliste der Friedensfahrt 1964 durchging, stieß ich auf einen Fahrer, der mir irgendwie bekannt vorkam. Dieter Wiedemann – ich war mir sicher, irgendwo war mir der Name schon mal begegnet. Und tatsächlich, Dieter Wiedemann war, wie sich herausstellen sollte, nicht nur der Cousin von Wolfgang Lötzsch, er hatte auch im Jahr 1967 einmal die Tour de France bestritten. Er fuhr die Frankreich-Rundfahrt damals als Helfer an der Seite von Hennes Junkermann, der größten deutschen Tour-Hoffnung jener Jahre, und er war auch bei der tragischen Etappe dabei, auf der sich Tom Simpson am Mont Ventoux buchstäblich zu Tode fuhr.

Aber die Tour de France 1967 hatte, natürlich, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs stattgefunden als die Friedensfahrt 1964. Die Frankreich-Rundfahrt wurde in jener Zeit von Länderteams ausgetragen, und Dieter Wiedemann hatte sie für die Nationalmannschaft der Bundesrepublik bestritten. Er war die Tour für den kapitalistischen Westen gefahren, für den Klassenfeind, und das schien, angesichts der Tatsache, dass er doch aus dem Osten stammte, technisch, praktisch und bürokratisch ein Ding der Unmöglichkeit. Wir machten uns auf, um ihn aufzuspüren und um herauszufinden, wie er das bewerkstelligt hatte.

Irgendwann gelang es uns, ihn in einer kleinen Gemeinde im Norden Bayerns ausfindig zu machen. Zunächst gab er uns zu verstehen, dass er mit Journalisten nicht über diese Dinge reden würde. Er sagte, er habe bis dahin nie mit der Presse darüber gesprochen, also würde er nun, fünfzig Jahre später, ganz bestimmt nicht damit anfangen. Das erklärt vielleicht, warum sich zum Beispiel im Internet praktisch keinerlei Informationen über ihn fanden und – was die Fragen betraf, die mir unter den Nägeln brannten – auch nicht in irgendwelchen Büchern. Gleichzeitig implizierte es aber auch, dass es vermutlich eine ganze Menge geben müsste, worüber er würde reden können. Also blieb ich am Ball. Irgendwann, nach mehreren Telefonaten und langen Diskussionen innerhalb der Familie Wiedemann, erklärte er sich bereit, mich zu treffen.

Das ist es, was als Nächstes passierte.

* Die erste Ausgabe der Fernfahrt wurde noch von Glos Ludu organisiert, einer 1945 gegründeten Zeitung für die polnische Minderheit in der Tschechoslowakei.

+ Wyscig Pokoju auf Polnisch, Závod Míru auf Tschechisch.

* Vor 1951 gab es ernsthafte Diskussionen, ob man sogar komplett auf ein Gelbes Trikot für den Führenden der Einzelwertung verzichten sollte. Dahinter stand der Gedanke, dass eine solche Auszeichnung Ausdruck des Individualismus sei und somit Werte befördern könnte, die dem Ideal des Kollektivs, dem sich der Sport im Sozialismus verschrieben hatte, konträr entgegenliefen.

Das Rennen gegen die Stasi

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