Читать книгу Ein Anfang am Ende des Hungers - Sylvia Baumgarten - Страница 5

Kapitel 3

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„Jule, Telefon für dich“, meine Mum steht neben meinem Bett.

Telefon … ok … wo ist mein Wecker? Halb zehn … und welcher Tag ist heute?

„Jule, Nina für dich.“ Ich komm mit dem Oberkörper nach oben und streck die Hand aus. Meine Mum gibt mit das Telefon, bleibt noch kurz stehen und als ich sag: „Hi Nina!“, geht sie aus dem Zimmer.

„Mensch Jule. Mein Vater liest grad die Zeitung von gestern und ich hab mal mit reingeguckt “, sagt Nina und klingt total aufgeregt. Ich lass mich nach hinten fallen und seh sie am Frühstückstisch mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder bei Kaffee und Kakao und Brötchen und ganz viel Nutella und denk, ich muss mal wieder bei ihr übernachten … aber mit am Tisch sitzen und nichts essen? Nicht bei Ninas Mum – niemals …

… „Jule, bist du noch da?“

„Ähm – ja, klar.“

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

Hab ich? Ich konzentrier mich. Was hat Nina erzählt?

„Also nicht. Da ist so ein Model gestorben. Ich les dir das mal vor, ok?“ sagt Nina und liest:

Das belgische Model Mia Carol ist tot. Sie starb bereits Mitte November an einer Lungenentzündung. Die junge Frau hatte sich vor einigen Jahren unbekleidet für eine Schockkampagne fotografieren lassen, um auf die Gefahr der Magersucht aufmerksam zu machen. Die Bilder der ausgemergelten, bereits vom Tode gezeichneten jungen Frau hatten damals großes Aufsehen erregt. Wie alt Carol wurde, ist unklar. Ihr Alter wird unterschiedlich zwischen 28 und 30 Jahren angegeben.“

Einen Moment sagen wir beide nichts. Nina nicht und ich nicht und ich frag mich, was ich fühlen soll. Panik, Trauer, Angst?

„Jule?“

„Ja?“

„Was sagst du denn dazu?“

„Mensch Nina“, sag ich, „so mager bin ich doch gar nicht.“

„Das hat diese Mia bestimmt auch gesagt und dann konnte sie vermutlich nicht mehr aufhören und nun ist sie tot. Jule, ich hatte total Angst um dich, als ich das gelesen hab und ein Bild ist auch noch dabei.“

Ich schluck, setz mich wieder auf und seh aus dem Fenster. Es regnet nicht mehr.

„Hast du schon Mathe gemacht?“, frag ich und schlag die Bettdecke zurück.

„Guck ich mir heute Abend noch mal an. Und du?“

„Ich auch“, sag ich und dann frag ich: „Hast du heute Nachmittag Lust auf Kino?“ obwohl ich gar nicht weiß, ob ich Lust auf Kino hab, aber Nina sagt sofort „Klar“, und klingt total erleichtert. „Halb vier am Eingang, ok?“

„Ok“, sag ich, „dann geh ich jetzt mal duschen …“

„… und frühstücken“, sagt Nina und ich sag: „Bis nachher“ und leg auf.

Ich schwing mich aus dem Bett und fahr den Rechner hoch. Doppelklick auf „ich-bin-hungrig“, die Seite geht auf und ich meld mich an … nichts … noch mal das Ganze … wieder nichts, dann ein Fenster: Das Forum ist von Samstag, 20.00 Uhr, bis Sonntag, 18.00 Uhr, geschlossen.

Was zur Hölle…?, denk ich genervt. Wieso machen die einfach zu? Und dann fällt mir ein, dass ich vorgestern noch gar nicht wusste, dass es ein Forum für Magersüchtige gibt, und dass ich da mal rumklicken würde schon gar nicht. Warum reg ich mich also auf?

Aber es könnte ja sein, dass jemand was zu meinem Beitrag geschrieben hat und nun muss ich warten bis Sonntag und das geht irgendwie gar nicht.

Ok – Alternative? Laufen? Lernen? Facebook? Unten röhrt der Staubsauger – meine Mum macht den Wochenendputz, danach gibt’s Frühstück. Laufen, denk ich. Wer nicht da ist, kann nicht frühstücken.

Im Schrank sind nur noch kurze Hosen – zu kalt, denk ich, egal – ich will laufen, jetzt, sofort!

Ich zieh ne Fließjacke drüber und warme Socken, dann geht das schon. Ich schleich mich aus dem Zimmer. Der Staubsauger läuft noch. Gut, denk ich – dann Schuhe an und nichts wie raus. Ich mach grad die Haustür auf, da geht der Staubsauger aus, und es ist still im Haus.

„Jule?“ Meine Mum. Am besten so tun, als hätt ich nix gehört – Tür zu und los.

Ich bin schon aus dem Garten, da geht die Tür wieder auf.

„Jule!“, diesmal klingt sie sauer – ziemlich sauer. Ich lauf weiter und spüre Stiche an den Beinen. Verdammte Kälte, denk ich, lauf schneller und krieg schon wieder Seitenstiche. Langsamer, denk ich, lauf langsamer. Ich versuch kräftig auszuatmen – jetzt bloß nicht stehen bleiben, dann lauf ich nicht wieder los.

Verdammt, verdammt, verdammt …Was für eine Scheiße! Geht hier eigentlich gar nix mehr? Ich atme ruhiger, die Seitenstiche gehen weg.

Kalt, denk ich, meine Füße und Beine sind wie tot, meine Hände auch. Ich lauf zurück, versuch den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber ich kann ihn nicht richtig festhalten. Er fällt runter, ich bück mich, da geht die Tür auf – meine Mum.

Ich greif nach dem Schlüssel, steh auf und er rutscht mir wieder aus der Hand. Diesmal hebt meine Mum ihn auf, greift nach meinem Arm, zieht mich in den Flur, macht die Tür zu, lehnt sich dagegen und guckt mich an. Wütend, denk ich, sie ist wütend, und warte, dass sie schreit.

„Jule, was soll das?“, sagt sie dann leise und ich hab Angst, dass sie erstickt, weil sie vielleicht lieber schreien würde, und überleg, ob ich was sagen soll oder lieber den Mund halte.

„Kannst du mir mal erklären, warum du hier bei dieser Schweinekälte halbnackt draußen rumrennst?“

Einen Augenblick ist es still, ganz still, und dann schreit sie doch:

„Jule, verdammt noch mal, rede mit mir!“

Ich guck sie an und es ist mir peinlich, dass meine Mum so die Fassung verliert. Meine Hände und Beine fangen an zu kribbeln. Ich will duschen und zu Nina.

Meine Mum legt sich die Hände vors Gesicht und dann fährt sie durch ihre Haare und kippt den Kopf in den Nacken. Ihre Lippen zittern und bestimmt brennen ihre Augen auch, denk ich, und dann klingelt das Telefon.

Ich überleg, ob ich los lauf und ran geh, aber meine Mum sagt: „Nicht jetzt.“ und als das Telefon aufhört zu klingeln, klingelt im Wohnzimmer ihr Handy. Ich hör am Klingelton, dass es ihr Redakteur ist und nun geht sie doch ran. Ich warte und hör wie sie sagt:

„Kann das nicht Andreas … ? Ach so … und wann? Ok, ich bin halb sieben da …“ und bevor sie wieder in den Flur kommt, renn ich die Treppe hoch direkt ins Bad, schließ die Tür ab, reiß mir meine Klamotten runter, mach das Wasser an und zieh den Vorhang zu.

Zu heiß, denk ich, als das Wasser über meine Arme und Beine läuft. Ich dreh die Temperatur zurück und stell mich komplett unter die Dusche. Das Wasser läuft und läuft und dann hör ich, wie meine Mum an die Tür klopft. Ich leg meine Hände über meine Ohren, aber ich hör trotzdem, dass sie „Jule“ ruft.

Irgendwann geht sie wieder, denk ich. Ich stell das Wasser aus und lausch – alles ruhig, na bitte. Ich greif nach dem Duschbad, verreib es zwischen den Händen und auf meinem Körper und spür meine Knochen - direkt unter meiner Haut.

Ich guck an mir runter und seh meine Kniegelenke. Sie sehen total riesig aus und mein Körper fühlt sich so hart an, als würde ich nur aus Knochen bestehen.

Ich hör auf, mich weiter einzuseifen, dusch den Schaum ab und greif nach meinem Handtuch. Mir ist immer noch kalt und ich wickel mich fest ein. Als ich aus der Dusche steige, stoß ich an die Waage und frag mich, wann ich mich eigentlich zuletzt gewogen hab. Ich stell mich gleich drauf, so wie ich bin, mit dem Handtuch, und dann seh ich die Zahl, mein Gewicht, und geh wieder runter. Ich setz mich hin, auf die Matte direkt vor der Dusche und starr die Waage an.

Es ist nur eine Zahl, denk ich, nur eine Zahl, Jule. Aber die Zahl ist ein Gewicht, mein Gewicht, und dafür ist sie zu niedrig.

Verdammt, wie spät ist es? Ich spring auf, trockne mich ab, föhn kurz meine Haare, mach mir nen Zopf und dreh den Schlüssel im Schloss. Ich warte kurz und lausch. Alles ruhig – und wenn meine Mum noch draußen steht? Vorsichtig mach ich die Tür auf, aber es ist niemand da. Ich husch in mein Zimmer, greif mir die Klamotten von gestern, zieh mich an, pack mein Handy und mein Geld in meine Tasche und geh die Treppe runter.

Meine Mum telefoniert.

„Thomas, ich bitte dich, lass mich mit deinen Erklärungen in Ruhe. Du hattest immer eine Erklärung für Überstunden und Dienstreisen … darum geht es doch jetzt gar nicht … Jule ist auch deine Tochter …“

Dad, denk ich, sie telefoniert mit meinem Dad.

„Moment mal Thomas … Jule?“

Ich zieh hastig Stiefel und Jacke an, nehm meinen Schlüssel vom Schrank, ruf:

„Ich geh ins Kino mit Nina“, zieh die Tür hinter mir zu und renn schon wieder durch den Garten zur Straße.

An der Bushaltestelle stehen jede Menge Leute. Ich stell mich dazu und denk, die starren mich an. Ich will in die Gesichter gucken, aber ich trau mich nicht, weil ich nicht weiß, wo ich hingucken soll, wenn sie echt starren, aber dann kommt schon der Bus. Ich steig ein und während er durch die Straßen fährt, frag ich mich, warum meine Mum mit meinem Dad telefoniert, und ob jetzt alle spinnen.

Die Haltestelle ist direkt vorm Kino und als ich aussteig, wartet Nina schon auf mich.

„Mensch Jule, ich dachte, du kommst nicht mehr.“ Sie nimmt mich in den Arm und ich nehm sie in den Arm und dann gehen wir rein. Wir kaufen die Tickets und Nina kauft sich Popcorn und Cola und ich ein Wasser.

Der Kinosaal ist dunkel und es laufen schon die Trailer für die neuen Filme. Wir suchen uns nen Platz und sitzen gerade ein paar Sekunden, als der Film anfängt.

Ich guck auf die Leinwand, nipp an meinem Wasser und hör Nina und die anderen lachen, aber ich hab keine Ahnung, worüber sie lachen, weil ich andere Bilder sehe als sie - die Zahl auf der Waage und meine Mum, und ich hör, wie sie schreit, und wie sie mit meinem Dad telefoniert, und dann seh ich Leute, die mich anstarren und mich gruselig finden …

„Jule? … Jule!“ Ich zuck zusammen, als ob mich jemand aus dem Tiefschlaf geweckt hätte. Auf der Leinwand laufen Buchstaben vorbei, der Film ist zu Ende. Nina steht auf, geht aus der Reihe und wartet im Gang. Als ich auch aufsteh, hab ich die Wasserflasche noch in der Hand und wunder mich, dass fast nix raus ist. Ich stell sie in eine Halterung neben nem Kinosessel und geh zu Nina.

„War nicht der Knaller für dich der Film, oder?“, fragt sie. Ich schüttel mit dem Kopf und geh mit ihr nach draußen.

„Schon halb sechs“, sagt Nina, „ich muss nach Hause. Mathe, du weißt ja. Ist das ok?“

„Klar“, sag ich und denk, ich muss noch Zeit totschlagen, meine Mum geht erst um sechs, da kommt schon Ninas Bus. Sie steigt ein, setzt sich ans Fenster, winkt mir zu und weg ist sie wieder.

Ich kann zu Fuß gehen, denk ich und geh los, und dann fällt mir ein, dass die Website ab sechs wieder offen ist. Ich geh schneller, weil ich wissen will, ob mir jemand geantwortet hat und als ich in unsere Straße komm, fährt meine Mum gerade aus der Garage. Ich stell mich hinter ne Hecke, damit sie mich nicht sieht und könnt glatt kotzen deswegen.

Als ich reinkomm, ist es kurz nach sechs. Ich renn nach oben, fahr den Rechner hoch und meld mich an. Diesmal klappt es sofort. Im Forum ist schon richtig was los. Ich klick auf „Neu hier“ und les den ersten aktuellen Beitrag.

Kenn ich, denk ich, ich wollt auch nur ein paar Pfund – ok, nicht wegen nem Kerl – wegen ner Hose, aber immerhin hab ich keine Appetitzügler genommen …

Ich les weiter und hör auf zu lesen, weil ich nicht aushalten kann, was ich les, weil Tami von ihrem Onkel missbraucht wird und hofft, dass er sie in Ruhe lässt, wenn sie ganz dünn ist, und wenn nix anderes hilft, schreibt sie, dann verhungert sie halt.

Total entsetzt les ich die Antworten - sie soll nicht aufgeben, sich Hilfe suchen und ihren Onkel anzeigen und ich seh die Links von den Beratungsstellen und Telefonnummern und Ansprechpartner.

Meine Hände werden kalt und zittern. Ich wisch sie an der Jeans ab, spür meine knochigen Beine und komm mir schäbig vor, weil ich wegen ner Hose dünner werden wollte, während andere hungern, weil man ihnen weh tut.

Ich muss wieder essen, denk ich, weil mir sonst auch egal wird, dass ich verhunger und dann seh ich den Beitrag von Sternenzelt, ganz unten auf der Seite, direkt über meinem. Ich les, was sie schreibt und merk, sie schreibt an mich.

Ich stürz mich auf ihre Antwort, damit ich das Entsetzen nicht mehr aushalten muss, und bin mit jedem Satz enttäuschter, weil Sternenzelt schreibt, dass ich mir bei meiner Lehrerin, meinem Hausarzt oder bei einer Beratungsstelle Hilfe suchen soll, und weil ich finde, dass das ne brave Standardantwort ist.

Nen Moment sitz ich da und frag mich, ob Tami ne Frau Kramer oder nen guten Hausarzt kennt, oder ob sie die Kraft hat, eine von den Nummern in ihr Handy zu tippen.

Ich fühl mich total im Stich gelassen und überleg, ob ich mich abmelde und einfach nicht mehr auf die Seite geh, weil ich keinen Bock auf „Hilfesuchen“ hab, sondern ne fertige Lösung brauch, aber dann hör ich Nina, wie sie anruft und von dem toten Model erzählt und ich überleg es mir anders, schreib an Sternenzelt, dass ich keine brave Standardantwort, sondern ne „eigene“ will und schick die Nachricht ab.

Ich fahr den Rechner runter und pack meine Sachen für morgen. Meine Hände sind noch kalt, aber das Zittern lässt langsam nach, dafür knurrt und rumpelt es in meinem Magen, weil ich nix gegessen hab.

Ich frag mich, ob das Rumpeln aufhört, wenn man Appetitzügler nimmt, und warum ich das noch nicht ausprobiert hab, aber dann fällt mir ein, dass ich mal irgendwo gelesen hab, wie gefährlich das Zeug ist.

Vielleicht hilft es ja schon, wenn ich nur ne Kleinigkeit esse. Ich steh auf, geh nach unten und überleg bereits auf der Treppe, welche „Kleinigkeiten“ keine Kalorien haben.

In der Küche liegt ein Zettel: „Warte nicht mit dem Essen, wird spät, Bussi, Mum.“

Ich mach den Kühlschrank auf und wieder zu - greif nach dem Obstkorb auf der Arbeitsfläche, schieb ihn wieder weg - mach die Kühlschranktür wieder auf, greif nach nem Joghurt, nehm nen Löffel aus der Besteckschublade, geh nach oben, reiß den Deckel auf und fang schnell an zu essen, weil ich den Becher sonst ungeöffnet irgendwo stehen lasse. Damit ich nicht noch mehr esse, putz ich gleich Zähne, geh ins Bett, deck mich zu, dreh mich auf die Seite und hör, wie mein Magen weiter knurrt und rumpelt.

Genervt dreh ich mich auf den Rücken und leg die Hände auf meinen Bauch - fühlt sich hart an und leer, denk ich, und merk, dass ich wütend werd, weil ich nicht einschlaf und das Gerumpel nicht aufhört. Ich überleg, ob ich das Licht wieder anmach und noch mal aufsteh, aber dann geht leise die Tür auf und meine Mum flüstert meinen Namen. Ich frag mich, warum ich nicht gehört hab, wie sie reingekommen ist und versuch, gleichmäßig zu atmen.

„Jule?“, fragt sie noch mal und ich denk: Nein, Mum! Geh raus! Ich will nicht reden, nix erklären, nix versprechen und auch nicht wissen, warum du mit Dad telefoniert hast – geh endlich, damit ich einschlaf und das Gerumpel aufhört - und dann geht sie tatsächlich. In meinem Bauch rumpelt es weiter und irgendwann schlaf ich ein.

Ein Anfang am Ende des Hungers

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