Читать книгу Hochsensibel ist mehr als zartbesaitet - Sylvia Harke - Страница 7
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HOCHSENSIBILITÄT
1. Was ist Hochsensibilität?
Allgemeine Merkmale
Hochsensibilität wird in der Psychologie als eine Veranlagung des Temperaments beschrieben, die Menschen und Tiere zu einer feineren Wahrnehmung befähigt. Eine grundlegende Eigenschaft von Hochsensiblen besteht in der sorgfältigen Informationsverarbeitung. Das bedeutet, dass sie gründlich über alles nachdenken, bevor sie handeln. Die intensive Verarbeitung von Umweltreizen befähigt sie zu einer ausgeprägten Empfindungsfähigkeit und einer differenzierten Wahrnehmung für andere Lebewesen. Man schätzt, dass ca. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel sind. Da Hochsensible deutlich mehr wahrnehmen, fühlen sie sich schneller von Eindrücken überreizt. Sie brauchen Rückzug und Ruhe, um Erfahrungen zu verarbeiten. Hochsensible verspüren starke emotionale Empfindungen und reflektieren ihre Lebensereignisse überdurchschnittlich. Dabei können sie zum Grübeln neigen. Etwa 70 Prozent der Hochsensiblen sind introvertiert veranlagt, eher schüchtern und gehemmt. Sie neigen zu Perfektionismus und Gründlichkeit bei der Erledigung von Aufgaben. Viele Hochsensible sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und interessieren sich für Spiritualität. Sie engagieren sich, motiviert durch ihre Naturverbundenheit, für den Tier- und Umweltschutz oder in sozialen Projekten. Bildlich gesprochen, haben Hochsensible feine Fühler, mit denen sie kleinste Details und größere Zusammenhänge erkennen. Sie sind interessiert an Kunst, Literatur, Philosophie, Natur und Meditation.
Hochsensible Kinder
In der Schule fallen hochsensible Kinder durch ihre Liebe zum Detail auf, sie nehmen feine Dinge wahr und sind phantasievoll. Diese Kinder sind sehr naturverbunden. Sie lieben es, sich mit Naturmaterialien, bei Bäumen und am Wasser in ihre eigene Welt zu vertiefen. Auffallend können Begabungen in den Bereichen Malerei, Musik, Sprache und in der emotionalen Intelligenz sein. Hochsensible Kinder sind gerechtigkeitsliebend und setzen sich gern für Schwächere in der Klasse ein. Sie haben weniger Freunde, pflegen ihre Freundschaften dafür umso intensiver. In lauten Spiel- und Lernsituationen sind sie schneller reizüberflutet und brauchen Rückzugsmöglichkeiten, um sich wieder zu regenerieren. Sie können durch Schüchternheit und Ängstlichkeit auffallen, da Hochsensible sehr vorsichtig sind und Risiken genauer abwägen. Schon früh stellen sie metaphysische Fragen, etwa nach dem „lieben Gott“, nach dem „Himmel“ oder „Engeln“, besonders wenn Familienmitglieder versterben.
Hochsensible im Berufsleben
Hochsensible finden sich häufig in sozialen und kreativen Tätigkeitsfeldern. Sie arbeiten sehr gewissenhaft und stehen sich dabei selbst im Weg. Durch ihre Detailverliebtheit brauchen sie länger für die Erledigung von Aufgaben als andere Kollegen. Viele erwachsene Hochsensible verspüren in sich den aufrichtigen Wunsch, mit ihrer Arbeit etwas Positives in der Welt bewirken zu wollen. Vielfach engagieren sie sich ehrenamtlich. Sind sie am richtigen Platz, können Hochsensible zu sehr wertvollen Mitarbeitern eines Unternehmens werden. Durch ihre Empathie und Sozialkompetenz bringen sie sich unterstützend, kommunikativ und kreativ ein. Wann immer es einem Kollegen nicht gut geht, sind sie die Ersten, die das bemerken und gerne helfen.
Elaine Aron als Pionierin auf dem Gebiet
Weltweit bekannt wurde der Begriff „Hochsensibilität“ durch die US-amerikanische Psychotherapeutin Dr. Elaine Aron. Im Jahr 1997 begann sie, durch Interviews eine wissenschaftlich fundierte Skala zur Hochsensibilität zu entwickeln. Daraus entstand ein Fragebogen, der zuverlässig Auskunft darüber gibt, ob eine Person hochsensibel ist. Im Verlauf der Forschung fand man heraus, dass Hochsensibilität eine Veranlagung der Persönlichkeit ist und keine Krankheit. Die Abkürzung „HSP“ leitet sich aus dem Englischen ab, was so viel wie „hochsensible Person“ (highly sensitive person) bedeutet. Die Studien von Dr. Aron auf dem Gebiet der Hochsensibilität lösten bis heute ein weltweites Interesse und Folgeuntersuchungen zum Thema aus. Von 2014-2015 produzierte die Psychotherapeutin und Forscherin einen großen Kino-Dokumentarfilm mit dem Titel „Sensitive. The untold Story.“ (1), der im September 2015 in San Franzisco, Kalifornien, erstmals im Kino gezeigt wurde.
2. Wie kann ich sicher sein, ob ich wirklich hochsensibel bin?
Hier finden Sie einen ausführlichen Test, der in großen Teilen mit den Fragen aus meinem Buch „Hochsensibel – Was tun?“ (1) übereinstimmt. Ich habe ihn um einige Aspekte erweitert, die auf meinen praktischen Erfahrungen mit hochsensiblen Klienten basieren. Der Vorteil der nach Themen sortierten Punkte besteht darin, Ihre Schwerpunkte bei der Ausprägung von Hochsensibilität schneller zu erkennen. Möchten Sie zusätzlich den Test von Elaine Aron machen? Sie finden ihn im Internet (2). Er wurde an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz entwickelt.
Test für Erwachsene:
Überstimulation und Rückzug
1. Wenn ich mich unter vielen Menschen aufhalte, zum Beispiel bei Einkäufen, auf Partys oder Konzerten, kann es passieren, dass mir das zu anstrengend wird. Ich habe den Eindruck, dass viele Reize mich überfluten.
2. Laute Geräusche (Sirenen von Rettungswagen, Züge, Autos, Maschinenlärm) sind mir unangenehm.
3. Ich reagiere leicht schreckhaft.
4. Schon seit der Kindheit suche ich regelmäßig Rückzug und Ruhe, um alles zu verarbeiten, was ich erlebe.
5. Filmszenen, in denen Gewalt Vorkommen, versuche ich zu vermeiden, weil sie mir unangenehm sind.
6. Manchmal fühle ich mich beim Autofahren oder Reisen überfordert, insbesondere in großen oder fremden Städten.
Gefühle und Gedanken
7. Meine Gefühle sind sehr intensiv und vielschichtig.
8. Ich erinnere mich häufig an meine Träume. Sie sind mir wichtig.
9. Ich bin nah am Wasser gebaut und weine bei Filmen.
10. Ich denke über das Leben nach und mache mir viele Gedanken um andere.
11. Wenn ich wichtige Entscheidungen treffe, neige ich zum Grübeln, weil ich Angst habe, mich „falsch“ zu entscheiden.
Starke Empathie
12. Ich kann fühlen, wie es anderen geht.
13. Von den Gefühlen anderer Personen fühle ich mich leicht beeinflusst.
14. Ich habe einen guten Draht zu Kindern und erspüre ganz schnell, was sie brauchen und wie sie sich gerade fühlen.
15. Ich liebe Tiere und leide mit, wenn es ihnen schlecht geht.
Soziale Interaktion
16. Ich bin sehr harmonieliebend und konfliktscheu.
17. Häufig fühle ich mich einsam und unverstanden von meinem Umfeld.
18. Im Kontakt mit fremden Personen bin ich eher schüchtern und zurückhaltend.
19. Ich bin sehr gerechtigkeitsliebend.
20. Meine Wahrnehmung ist überwiegend nach außen orientiert.
21. Im Berufsalltag arbeite ich gründlich, zuverlässig und perfektionistisch.
22. Freunde und Arbeitskollegen schätzen mich, weil ich gut zuhören kann und meist einen guten Rat weiß.
Gefühl von Verbundenheit
23. Wenn ich in die Natur gehe, fühle ich mich in meiner Seele berührt und finde zu mir.
24. Häufig erlebe ich Phänomene von Telepathie, insbesondere mit Menschen, die mir nahestehen.
25. Ich habe das Bedürfnis, anderen zu helfen und engagiere mich sozial.
26. Ich mache mir Sorgen um andere, die Erde und die Zukunft der Menschheit.
Flow
27. Ich bin fasziniert von Kunst. Musik, Filme und Bilder berühren mich tief.
28. Ich genieße es, das Gefühl von Zeit zu verlieren, wenn ich male / singe / schreibe / musiziere / töpfere / meditiere / wandere usw.
29. Ich habe einen Blick für Schönheit in meiner Umgebung. Es bringt mich in gute Stimmung, wenn meine Kleidung, meine Wohnung usw. in harmonischen Farben, Formen und Klängen geordnet sind.
30. Ich bin sehr phantasievoll, ideenreich und visionär veranlagt.
Körperliche Bedürfnisse
31. Auf Medikamente reagiere ich eher ungewiss. Teilweise brauche ich eine niedrigere Dosis, oder ich reagiere gar nicht / zu stark auf das Medikament.
32. Wenn ich Hunger habe, fühle ich mich unwohl und nicht mehr belastbar. Wenn ich regelmäßig esse, geht es mir besser.
33. Ich habe bestimmte Kontaktallergien.
34. Mein Körper spricht positiv auf sanfte therapeutische und medizinische Impulse an.
Sinnsuche und Spiritualität
35. In schwierigen Situationen kann ich anderen Personen Kraft geben, weil ich nach dem Sinn hinter einem Ereignis suche.
36. Schon als Kind fragte ich mich nach dem Sinn des Lebens.
37. Ich fühle eine tiefe Verbundenheit mit dem Leben und glaube an eine höhere Kraft, die mich leitet.
38. Ich habe mystische, unerklärliche Erfahrungen erlebt.
Auswertung
Wenn Sie mehr als 15-mal mit „Ja“ antworten konnten:
Es ist unwahrscheinlich, dass Sie hochsensibel sind. Überprüfen Sie noch einmal, in welchen Kategorien Sie besonders viele Zustimmungen geben konnten. Lesen Sie den Abschnitt „Die vier Hauptmerkmale von Hochsensiblen“ und finden Sie heraus, ob Sie sich in einem oder mehreren Erklärungen wiederfinden. Zusätzlich können Sie darüber nachdenken, ob die hochsensibel wirkenden Eigenschaften, die Sie jetzt an sich beobachten, bereits in der Kindheit aufgetreten sind. Sollte dies nicht der Fall sein, können Sie durch eine intensive Erschöpfung oder kritische Lebensereignisse empfindlicher geworden sein als früher. Dies trifft insbesondere zu, wenn Sie überwiegend negative Auswirkungen, wie Reizbarkeit, mangelnde Stressresistenz und Überforderung mit hochsensiblen Wahrnehmungen in Zusammenhang bringen.
Wenn Sie mehr als 22-mal mit „Ja“ antworten konnten:
Vermutlich sind Sie hochsensibel. Überprüfen Sie das Ergebnis mit Ihrem allgemeinen Lebensgefühl. Viele Menschen fühlen sich bereits durch den Begriff der Hochsensibilität in ihrem Innersten bestätigt, nur fehlte ihnen bisher die Gewissheit dafür. Um ganz sicher zu sein, ob Sie tatsächlich hochsensibel sind, lesen Sie den nachfolgenden Abschnitt „Die vier Hauptmerkmale von Hochsensiblen“ und finden Sie heraus, ob Sie in jedem der Bereiche eine Bestätigung aus Ihrer Lebenserfahrung finden.
Wenn Sie mehr als 30-mal mit „Ja“ antworten konnten:
Sie können gewiss sein, dass Sie eine ausgeprägte Hochsensibilität haben, die sich in allen Bereichen Ihres Lebens widerspiegelt. Sicher sind Ihnen beim Lesen der Punkte bereits viele Begebenheiten aus Ihrer Biografie wieder ins Bewusstsein gekommen. Viele Hochsensible fühlen sich bereits in der Kindheit anders und können nicht genau verstehen, was dieses „anders“ bedeutet. Nun haben Sie die Erklärung. Beginnen Sie jetzt damit, Ihre Hochsensibilität als eine Gabe anzuerkennen und wertzuschätzen.
Wenn Sie mehr als 33-mal mit „Ja“ antworten konnten:
Sie sind zweifellos hochsensibel. Sicher sind Ihnen beim Lesen der Punkte bereits viele Begebenheiten aus Ihrer Biografie wieder ins Bewusstsein gekommen. Manchmal kann es sich erschreckend anfühlen, sein eigenes Leben in einem solchen Test wiederzufinden. Machen Sie sich bewusst: Sie sind nicht allein. Viele Hochsensible fühlen sich bereits in der Kindheit anders und können nicht genau verstehen, was dieses „anders“ bedeutet. Jetzt wissen sie es. Beginnen Sie damit, Ihre Hochsensibilität als Gabe anzuerkennen und wertzuschätzen. Sollten Sie im Bereich der mystischen Erfahrungen viele Punkte mit „Ja“ beantwortet haben, werden Sie am Ende dieses Buches noch mehr darüber erfahren. Mystische Erlebnisse entstehen aus einer starken Verbundenheit mit dem Leben.
Die vier Hauptmerkmale von Hochsensiblen
Elaine Aron hat vier kardinale Eigenschaften definiert, die Hochsensibilität prägnant beschreiben. Lesen Sie sich diese vier grundlegenden Merkmale durch und überprüfen Sie, ob Sie diesen Schilderungen zustimmen können.
1. Gründliche Informationsverarbeitung
Dazu gehört das tiefsinnige Nachdenken über Ereignisse, die eigene Biografie, den Sinn des Lebens und die Beschäftigung mit Ethik und Werten. Hochsensible neigen dazu, über Alltagserlebnisse mehr als gewöhnlich nachzudenken. Bei Entscheidungen verstärkt sich das Bedürfnis, alles gründlich abzuwägen, was zu Entscheidungsschwierigkeiten führen kann. Hinzu kommt ein Hang zur Spiritualität und Religiosität oder das intensive Traumleben.
2. Übererregung
Durch Überreizung entsteht bei Hochsensiblen ein hohes Erregungsniveau im vegetativen Nervensystem, das zu Stressreaktionen führt, wie nassen Händen, erhöhtem Puls oder zum Beispiel die Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Chronische Übererregung kann zu Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen und zu Erschöpfung führen. Veränderungen im Job, Wohnungswechsel, Heirat, Elternschaft usw. können ebenso zu einem erhöhten Stresserleben beitragen. Im Laufe ihrer Biografie lernen Hochsensible, Überreizung zu vermeiden, indem sie sich zurückziehen, um zu regenerieren, oder bestimmten Stressfaktoren aus dem Weg gehen.
3. Emotionale Intensität
Hochsensible reagieren auf Lebensereignisse mit intensiveren Emotionen als normal sensible Menschen. Dabei ist es egal, ob es sich um positive oder negative Gefühle handelt. Sie sind nah am Wasser gebaut und weinen schneller: aus Freude, Rührung, Sehnsucht, Enttäuschung und Trauer. Besonders soziale Gefühle, wie Scham, Schuld, Mitgefühl oder Angst vor dem Verlassenwerden, erleben sie besonders intensiv. Aufgrund ihrer Gefühlsintensität sind die meisten HSPs von allen möglichen Kunstarten fasziniert. Sie lieben die Musik, Malerei, Literatur, Tanz oder das Theater. Filme, Musik oder Bücher können einen starken Eindruck bei Hochsensiblen hinterlassen. Darüber hinaus lieben sie es, sich durch diese Kunstformen auszudrücken.
4. Sensorische Empfindlichkeit
Hochsensible nehmen alles sehr genau wahr und haben eine hohe Empfindungsfähigkeit. Sie hören, riechen, fühlen, schmecken und sehen sehr intensiv. Deshalb kann ihnen schnell etwas zu viel werden: etwa die Geräusche in einem Café, das Kratzen eines Schilds im Ausschnitt eines T-Shirts, Berührung oder grelles Licht. Bei der Einnahme von Medikamenten oder berauschenden Lebensmitteln (Tee, Kaffee) reagiert ein Hochsensibler empfindlicher oder irritierter auf Dosierungen, die für andere Menschen kein Problem darstellen. Deshalb sind sie prädestiniert, auf sanfte Heilverfahren positiv anzusprechen. Die sensorische Empfindlichkeit führt dazu, dass Hochsensible überdurchschnittlich unter Kontaktallergien leiden. Ebenso lässt sich festhalten, dass die Schmerzschwelle bei HSPs niedriger ist, was sich besonders auffällig beim Zahnarzt, bei Verletzungen oder in Geburtssituationen zeigt.
3. Ist Hochsensibilität eine Krankheit?
Herzlichen Glückwunsch, Sie sind nicht verrückt, sondern hochsensibel!
Der aktuelle Stand der Forschung geht davon aus, dass Hochsensibilität ein Temperament ist und keine Krankheit darstellt. Sie tritt unabhängig davon auf, ob jemand eine glückliche oder beschwerte Kindheit hatte. Deshalb werden Sie in einer Arztpraxis oder beim Psychologen „Hochsensibilität“ nicht als Diagnose erhalten. Seien Sie froh darüber. Diagnosen werden für Krankheiten und nicht für Persönlichkeitseigenschaften gegeben. Für therapeutische Gespräche ist die Einordnung in die Gruppe der Hochsensiblen jedoch sinnvoll, um die besonderen Herausforderungen zu verstehen, die sie in unserer Gesellschaft zu meistern haben. Da Hochsensible prozentual in der Minderheit sind, fühlen sich viele so, als würde mit ihnen etwas nicht stimmen. Häufig müssen sie sich wegen ihrer Vorlieben und Abneigungen vor anderen rechtfertigen und zweifeln an sich. Auf diese Weise kann sich ein negatives Selbstbild entwickeln. Die Fehldeutung der eigenen Veranlagung lässt sich leicht mit einem erfahrenen HSP-Coach oder Therapeuten auflösen. Jetzt können Sie Ihr Leben rückblickend neu bewerten. Legen Sie nun die Brille ab, die Ihnen gesagt hat, dass mit Ihnen etwas nicht in Ordnung sei, und setzen eine neue auf. Diese ist verständnisvoll und heißt: „Ich bin hochsensibel.“ Durch diese neue Brille werden einige Szenen aus Ihrer Biografie verständlicher.
Lassen Sie sich nicht verrückt machen!
Leider gibt es immer wieder Presseberichte und Wortmeldungen anderer Experten, die das gesamte Konzept der Hochsensibilität in Frage stellen und Parallelen zu verschiedenen Erkrankungen sehen. Im Laufe dieses Buches erfahren Sie weitere Details, wie Sie Hochsensibilität beispielsweise von Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, ADHS oder Asperger-Autismus unterscheiden können. Vielfach wird alles in einen Topf geworfen. Hochsensiblen unterstellt man teilweise, sie würden nur eine Ausrede suchen, um sich besonders zu fühlen. Sie würden ihre narzisstischen Bedürfnisse nach Beachtung und Sonderbehandlung erfüllen. Doch das stimmt nicht. Menschen, die in bestimmten Situationen des Alltags anders fühlen und denken, die empfindsamer sind, um Rücksicht bitten oder den Status quo einer Gesellschaft (Familie, Firma) in Frage stellen, sind unbequem. Dadurch werden sie zu Außenseitern und zur Zielscheibe von Spott. Hochsensible, die in ihrer eigenen Familie kein Verständnis finden und immer nur platte Sprüche hören, dass doch alles gar nicht so schlimm sei, können die Überzeugung entwickeln, mit ihnen stimme etwas nicht. Hochsensibilität ist keine Krankheit, doch Hochsensible, die ihre Veranlagung nicht erkennen und gegen ihre Natur leben, laufen Gefahr, krank zu werden! Deshalb gibt es einen nicht unerheblichen Teil von HSPs, die in ihrem Leben eine Depression durchmachen, Burnout erleben oder eine Stresserkrankung entwickeln. Sie erkranken nicht an ihrer Hochsensibilität, sondern an einem leistungsorientierten, verständnislosen und empathiearmen Umfeld! Die weiterhin steigende Anzahl von psychischen Erkrankungen allgemein sollte uns nachdenklich darüber stimmen, was mit unserer Gesellschaft nicht stimmt. Warum explodieren die Krankheitstage wegen Burnout und Depression? Wieso quellen die psychosomatischen Kliniken über vor lauter Hilfesuchenden? Warum sind Psychotherapeuten ausgebucht? Viele Menschen brauchen Therapie, das hat mit Hochsensibilität allein nichts zu tun.
4. Ich möchte in keine Schublade, gesteckt werden. Was bringt es mir, mich als hochsensibel zu bezeichnen?
Abwehrhaltung gegenüber Hochsensibilität von Männern und Frauen
In Vorträgen und persönlichen Gesprächen werde ich immer wieder mit dieser Befürchtung konfrontiert. Ich verstehe Ihre Vorbehalte! Viele wehren sich dagegen, in eine Schublade gesteckt zu werden. Was verbirgt sich dahinter? Besonders Männer fühlen sich durch die Bezeichnung „hochsensibel“ stigmatisiert. Sie fürchten, als Weichei dazustehen, und möchten ungern in ihrer männlichen Rolle infrage gestellt werden. Dies hat mit unserer Gesellschaft zu tun, die für Männer ein starres Bild entwickelt hat, wie sie zu sein haben. Diese Strukturen weichen zwar gerade etwas auf, doch im Berufsalltag weht häufig noch ein rauer Wind, in dem Emotionalität und Sensibilität als Schwäche interpretiert werden. Sind Sie ein hochsensibler Mann? Dann gratuliere ich Ihnen von Herzen! Hochsensible Männer können in unserer Gesellschaft wertvolle Impulse einbringen. Wir brauchen mehr Männer mit emotionaler Intelligenz, mit kreativen Ideen und Empathie in Schlüsselpositionen. Je mehr Sie sich selbst über Ihre Veranlagung und über Ihre Stärken bewusst werden, umso leichter werden Sie im zweiten Schritt Wege finden, diese Talente zum Ausdruck zu bringen. Auch Frauen können Angst davor haben, hochsensibel zu sein, denn wir alle möchten am liebsten normal sein.
Akzeptanz der Andersartigkeit als Schlüssel zur Selbsterkenntnis
Mit der Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität bestätigt sich zunächst einmal die Andersartigkeit. Damit ist bei den meisten HSPs eine tiefe Verletzung verbunden. Die Erfahrung, anders zu sein, von Freunden und Verwandten nicht verstanden zu werden, sitzt tief. Viele Hochsensible haben es geschafft, sich über die Jahre mehr oder weniger erfolgreich an die Gesellschaft anzupassen. Sie möchten nicht mehr aus der Reihe tanzen. Sie tragen eine Maske, mit der sie sich nach außen präsentieren. Es gibt Hochsensible, die sehr individuell veranlagt sind. Es ist ihnen unangenehm, sich in einer Gruppe einsortiert zu sehen. Das Gefühl der Einzigartigkeit ist ihnen wichtig. Jetzt sollen sie sich mit anderen in einen Topf werfen? Das kann nicht sein! Die Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität stellt keinerlei Einschränkung dar. Diese Veranlagung legt die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen nicht fest. Jeder Hochsensible ist einmalig, denn es gibt noch andere Charaktereigenschaften und Prägungen in jeder Biografie, die uns einmalig machen. Jeder hochsensible Mensch hat seine eigenen Vorlieben, Interessen und Fähigkeiten. In bestimmten Bereichen ähneln sich alle Hochsensiblen. Diese Gemeinsamkeiten zu erkennen, kann ein wohliges Gefühl von Zugehörigkeit erzeugen. Es geht nicht darum, alle Hochsensible gleichzumachen, sondern es besteht die Chance, durch das Erkennen der eigenen Hochsensibilität selbstsicherer zu werden. Was bedeutet das für Sie als Leser? Als bewusster Hochsensibler werden Sie sicherer bei Entscheidungen, in Beziehungen und im Berufsleben. Sie erkennen Ihre Stärken und Schwächen und beginnen, Ihr Leben endlich so einzurichten, dass es zu Ihren Bedürfnissen passt. Sie brauchen nicht länger um Ihre Identität zu kämpfen, im Gegenteil. Mit der Anerkennung der eigenen Veranlagung lebt es sich leichter. Viele Hochsensible gehen überdurchschnittlich über die Grenzen ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit hinaus. Durch die Beschäftigung mit sich selbst werden Sie erfahren, dass Sie Ruhe und Erholungsphasen dringend benötigen, um sich von Reizüberflutung zu erholen. Diese zentrale Eigenschaft haben alle Hochsensiblen gemeinsam. Es gibt noch viele weitere Übereinstimmungen. Durch den bewussten Umgang mit den hochsensiblen Bedürfnissen kann das Leben für Sie leichter, kreativer und erfüllter werden. So können Sie die Kraft entwickeln, sich besser von anderen abzugrenzen und sich bedingungslos zu lieben.
5. Welche Eigenschaften haben Hochsensible?
das verstärkte Wahrnehmen von Details
Genauigkeit und Sorgfalt
Reizoffenheit
Geräusch-, Temperatur- und Geruchs- und Schmerzempfindlichkeit
intensive Gefühlswelt
Phantasie und Kreativität
Anfälligkeit für Stresskrankheiten
Überreaktion auf Alkohol und Koffein
Hungergefühle und Müdigkeit beeinträchtigen das Wohlbefinden
Empathie und Intuition
Einfühlungsvermögen
Hilfsbereitschaft
telepathische Phänomene
sehr großes Harmoniebedürfnis
Übertragungen von Stimmungen aus dem sozialen Umfeld
Sie sind gute Zuhörer
Gerechtigkeitssinn
Sinnsuche
Naturerlebnisse und Kunst haben einen großen Einfluss
Verbundenheitsgefühle mit Mensch, Tier und Natur
6. Was ist untypisch für Hochsensible?
Eine gute Möglichkeit, um hochsensible von durchschnittlich sensiblen Menschen zu unterscheiden, ist die Beobachtung ihrer Gewohnheiten. Lesen Sie sich die folgende Liste mit Aktivitäten durch und überlegen Sie genau, ob Ihnen das als HSP angenehm wäre oder ob Sie dazu überhaupt in der Lage wären:
einen großen Freizeitpark und am Tag x-verschiedene Karussells und Attraktionen besuchen, inklusive Achterbahn
einen Actionfilm mit schneller Bildabfolge anschauen, inklusive Szenen mit Gewalt
im Urlaub spontan an einer Risikosportart teilnehmen, etwa Fallschirmspringen, Wildwasserrafting, Höhlenklettern, Tiefseetauchen usw.
ein Kasino besuchen und spontan Geld für Glücksspiele ausgeben
auf eine Weltreise gehen ohne Plan, mit dem Ziel, möglichst viele Länder zu bereisen
an einem Strand eine Party machen und hinterher den Müll einfach liegen lassen
einfach „Nein“ sagen, wenn Verwandte und Freunde um etwas bitten, ohne viel darüber nachzudenken, wie der andere sich fühlt
„egoistisch“ an sich selbst denken, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben
2 Tage und Nächte in lauten Discos durchmachen, Party feiern und nicht schlafen
einfach so das Leben leben, ohne über den Sinn nachzudenken
irgendwo Essen einkaufen, ohne sich über die Herkunft und Herstellung der Nahrung Gedanken zu machen
sich keine Gedanken über das Leid von Tieren oder der Natur machen
oberflächlichen Smalltalk führen auf einem Klassentreffen, einer Party bei Freunden, ohne über tiefgehende Themen, Philosophie oder Gefühle zu sprechen
Wie geht es Ihnen bei dieser Vorstellung? Fühlen Sie sich wohl oder kommt schon bei dem Gedanken ein gewisses Unbehagen auf? Viele dieser Aktivitäten wirken auf Hochsensible eher unattraktiv. Haben Sie sich dabei ertappt, einige dieser Vorschläge als interessant zu bewerten? Dann gehören Sie vielleicht zur Gruppe der „High Sensation Seeker“. Sie können mehr in der Frage Nr. 28 über diese brisante Mischung nachlesen.
7. Wie denken Hochsensible?
Grübeln & Entscheidungsschwierigkeiten
Durch die Angewohnheit, Dinge gründlich zu überdenken, können Hochsensible leichter in Zustände des Grübelns gelangen. Dadurch haben sie Schwierigkeiten mit Entscheidungen.
Suche nach dem Sinn des Lebens und einem tiefen Verstehen der Welt
Die Denkstrukturen von Hochsensiblen sind interessant und komplex. Häufig denken sie schon früh über den Sinn des Lebens nach. Sie gehen den Dingen auf den Grund und möchten gern verstehen, warum etwas so ist, wie es ist. Philosophie, Religion oder Naturwissenschaften sind Themen, mit denen sich die meisten HSPs ein Leben lang beschäftigen können. Dabei stellen sie häufig Etabliertes in Frage.
Ideenflut
Hochsensible, die kreativ veranlagt sind und assoziativ denken, können in kurzer Zeit eine erstaunliche Fülle an Ideen, Gedanken und Visionen entwickeln. Im Zustand des Flow erleben Sie Momente voller Lebensfreude, einfach indem sie ihren Gedankengängen innerlich nachgehen. Besonders die sogenannten Scanner unter den Hochsensiblen mit ihren vielen Interessen und Hobbys kennen diese Zustände, die aus dem assoziativen, kreativen Denken entstehen. Sie können sich begeistern für neue Geschäftsideen, Hobbys, Berufszweige, für neue Urlaubsziele oder für philosophische Überlegungen. Diese Form von Ideenflut kann sich in der Sprache von Hochsensiblen widerspiegeln.
Denken ohne Mitte
Aufgrund ihrer Veranlagung, Informationen gründlich zu verarbeiten, können sie geschickt darin sein, eine Situation aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Es fällt ihnen leicht, den Standpunkt zu wechseln. Vielfach verlieren sich Hochsensible bei komplexen Denkvorgängen. Sie blenden sich selbst in ihrer Wahrnehmung aus und verlieren so ihr Zentrum. Dabei vernachlässigen sie ihre eigenen Bedürfnisse. Bei sehr begeisterungsfähigen Hochsensiblen kann das dazu führen, dass sie in einen Arbeitsrausch geraten und darüber die Ruhezeiten vergessen, die sie dringend benötigen. Sobald Hochsensible lernen, sich selbst beim Denken nicht zu vergessen, sind sie Meister darin, für komplexe Situationen und Probleme eine gute Lösung zu finden.
Was denken andere über mich? Sich selbst durch die Augen anderer sehen
Ein weiterer, wichtiger Aspekt des Denkens ohne Mitte ist bei Hochsensiblen die Angewohnheit, sich selbst durch die Augen anderer Menschen zu sehen. Dabei haben sie vor allem Angst vor Bewertung und Ablehnung. Die Lösung dieses Problems, das viel inneren Druck erzeugt, liegt darin, den Fokus zurück auf die eigenen Bedürfnisse zu lenken und das Selbstwertgefühl zu stärken. Deshalb ist es in Konflikt- und Entscheidungssituationen für Hochsensible besonders wichtig, diese alte Angewohnheit loszulassen. Wenn Hochsensible den Fokus zu sich selbst zurückholen und die anderen in ihrer eigenen Welt lassen, können sie lernen, sich abzugrenzen.
Sich über Freunde und Verwandte viele Gedanken machen, Gedanken telepathisch aufschnappen
Durch ihr gesteigertes Empathievermögen sind sie sehr gut darin, sich in andere Personen hineinzuversetzen und zu verstehen, was Menschen aus ihrem Umfeld fühlen, brauchen oder wohlmöglich denken. Dazu gehören Phänomene von Telepathie, bei denen HSPs überdurchschnittlich begabt zu sein scheinen. Viele berichten davon, die Gedanken und Stimmungen von Personen aus ihrem Umfeld unbewusst aufzuschnappen. Durch ihr genaues Wahrnehmungsvermögen nehmen sie mehr nonverbale Signale aus der Körpersprache ihres Gegenübers auf und liegen meist richtig mit ihren Einschätzungen.
8. Welche Stärken haben Hochsensible?
hoher EQ (emotionale Intelligenz)
in sozialen Situationen vermitteln
komplexes Denken, analysieren
Gerechtigkeitssinn
ausgeprägte Empathie (zu fühlen, was andere fühlen)
harmonieliebend
Sinn für Ästhetik
Kreativität, Ideen, Phantasie
Sorgfalt, Genauigkeit
geschärfte Sinne
Blick für Details
Frage nach dem Sinn des Lebens
der aufrichtige Wunsch, sich hilfreich in die Gesellschaft einzubringen
Gefühle tief empfinden und zulassen
Suche nach tiefer Spiritualität und ethischen Werten intuitives Erfassen / Erfühlen von Situationen, Menschen und Ereignissen
starke Naturverbundenheit und Mitgefühl für Tiere und Menschen
hohes Verantwortungsbewusstsein
gute Risikoeinschätzung: Sinn für Sicherheit
vorausdenken, planen, Entwicklungen vorhersehen
Menschenkenntnis
viele Begabungen und Interessen
Engagement für Schwächere
Achtsamkeit und Rücksichtnahme
Dinge hinterfragen und neue Ideen entwickeln (Innovationskraft)
Hochsensibilität ist eine Gabe. In einer Umfrage, die ich selbst durchgeführt habe, schrieben Hochsensible über ihre positiven Eigenschaften Folgendes:
Ich bin froh, hochsensibel zu sein,
weil meine Fähigkeit zu großer Freude, tiefem Empfinden und Lieben zu mir gehören
weil ich mein Leben dadurch viel intensiver erlebe
weil ich Stimmungen sehr schnell wahrnehme und auf die Bedürfnisse meiner Mitmenschen leichter reagieren kann
weil ich mich besonders gut in Kinder hineinversetzen kann und spüre, was sie brauchen
weil mir Leute nicht so schnell etwas vormachen können: Ohne dass sie es merken, weiß ich ganz genau, ob jemand lügt
weil ich meinen Körper intensiv spüre und wahrnehme
weil ich einen Draht zu Tieren habe und ihnen helfen kann
weil ich durch Farben, Düfte und Klänge zu Kunstwerken inspiriert werde
weil ich mich mit dem Leben verbunden fühle
weil ich einen Blick für die Schönheit der Natur habe
weil ich zu tiefen Gefühlen fähig bin
weil ich tiefsinnige, philosophische Lebensfragen für mich kläre
weil ich als hochsensibler Mann tiefe Gefühle und Nähe zulassen kann
weil ich es als ein Geschenk empfinde
Meine hochsensible Gabe ist,
Empfindsamkeit
zuhören zu können
Empathie
telepathische Verbundenheit
Intuition
360-Grad-Antennen für mein Umfeld zu haben
das Erkennen von Gefahrensituationen
ein offenes Herz
Kreativität
die Bedürfnisse von Kindern zu erspüren
in Ausnahmesituationen der Fels in der Brandung zu sein
hinter die Kulissen und Masken der Menschen zu blicken
Tierkommunikation
Kommunikation mit der Natur
Ereignisse vorherzuahnen
Andere Begriffe für Hochsensibilität sind:
Empfindsamkeit
zart fühlend
zart besaitet
feinsinnig
erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit
Durchlässigkeit
Hochempathie
Mitgefühl
Einfühlungsvermögen
Verbundenheit
tiefsinnig
9. Sind eigentlich alle Menschen hochsensibel und können es nur nicht zeigen?
Menschen haben unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale
Dies ist eine sehr beliebte Annahme bei Menschen, die sich selbst als hochsensibel erkennen. Hintergrund dieser Frage ist die Vorstellung, dass alle Menschen gleich sein müssten. Das ist sicherlich nur ein Ideal und entspricht nicht der Realität. Als die Psychologie als Wissenschaft anfing, professionell zu werden, war es das Militär, das begann, psychologische Tests zu entwerfen, um herauszufinden, welche ihrer Rekruten für bestimmte Tätigkeiten am ehesten geeignet waren. Besonders Führungskompetenz und Dominanz, für Befehlshaber innerhalb einer Armee unerlässlich, waren beliebte Persönlichkeitseigenschaften, die man herausfiltern wollte. Aus dieser Historie entwickelte sich innerhalb der Psychologie eines der wichtigsten Felder, die sogenannte Persönlichkeitspsychologie. Aktuell ist es die Bundeswehr-Universität in Hamburg, die in diesem Fachgebiet eine große wissenschaftliche Studie zum Thema Hochsensibilität durchführt. Viele Modelle der Persönlichkeitspsychologie haben sich längst im Berufsalltag, an Schulen und Kindergärten als nützlich erwiesen. Große Unternehmen führen im Rahmen von Bewerbungsverfahren sogenannte Assessment-Center durch, bei denen potentielle Mitarbeiter durch eine Reihe von psychologischen Tests begutachtet und bewertet werden.
Vergleich mit der Intelligenz- und Stressforschung
Auch im Bereich der Intelligenzforschung fand man heraus, dass es innerhalb der Bevölkerung vorhersehbare Prozentanteile von Menschen gibt, die eine durchschnittliche, hohe oder sehr hohe Intelligenz haben. Wir könnten noch viele Beispiele Zusammentragen, etwa in Bezug auf Begabungen für Mathematik, Kunst, Sprache usw. Überall finden wir Menschen mit unterschiedlichen Ausprägungen. Dasselbe trifft auf die Hochsensibilität zu. Nicht jeder Mensch ist hochsensibel! Im Gegenteil, die Hirnforschung bewies bereits, dass es Menschen gibt, die im Hirnareal für Mitgefühl fast keine Regung zeigen, wenn man ihnen Bilder von Gewalt oder Not präsentiert. Ganz anders bei Menschen mit normaler oder hoher Sensibilität. Die Reaktion bestimmter Hirnareale auf solche Bilder ist bei HSPs aufgrund ihrer ausgeprägten Empathie stark erhöht. Es geht nicht darum, anderen Menschen Gefühle abzusprechen, sondern anzuerkennen, dass Hochsensible über ein besonders intensives Gefühls- und Wahrnehmungsvermögen verfügen. In der Stressforschung konnte man bereits nachweisen, dass hochsensible Kinder dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel aufweisen. Hochsensible lassen sich klar von „Normalsensiblen“ unterscheiden.
Nicht alle Menschen sind gleich, jedoch alle sind wertvoll
Hinter der Vermutung, dass alle Menschen hochsensibel seien, könnte sich eine hochsensible Wahrnehmung verbergen. Wir können uns nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die emotional weniger empfindungsfähig sind und vielleicht sogar skrupellos. Wir möchten nicht, dass andere benachteiligt zu sein scheinen. Wir wünschen uns, normal zu sein. Hochsensibilität sollte normal sein! Alles sollte (gleich) gerecht verteilt sein. Wir gehen einfach von unserem Weltbild aus und glauben, dass die anderen genauso empfinden, denken und handeln wie wir selbst. Doch das ist eine Illusion! In vielen Gesprächen mit meinen Coachingklienten war die Erkenntnis, dass andere eben nicht genau gleich sind, der Schlüssel, um Missverständnisse und Konflikte mit nicht hochsensiblen Partnern und Freunden besser zu verstehen. Die Anerkennung der eigenen Veranlagung hilft uns, genau den Platz im Leben zu finden, der zu uns passt. Wir lernen, zu unterscheiden, ohne zu bewerten. Hochsensible sind nicht besser oder schlechter als der Rest, sondern einfach anders.
10. Ist „Hochsensibilität“ nur eine Modewelle?
Im Oktober 2014 erschien ein interessanter Artikel im Magazin „natur & heilen“: „Beseelte Medizin für jedes Temperament“ (1). Darin fand ich wertvolle Hinweise auf eine jahrtausendealte Tradition. Philosophen, Ärzte und Heiler haben in allen Ecken der Welt Menschen in verschiedene Typen eingeteilt, um sie dadurch besser therapieren zu können. Der Wiener Theologe und Philosoph Dr. Karl Steinmetz belebte das alte europäische Wissen der Temperamentenlehre neu und veröffentlichte das Buch „Medizin der Temperamentenlehre“ (2) im Jahr 2012. Darin beschreibt er die traditionelle europäische Medizin (TEM), die ihre Wurzeln in Griechenland, Italien, Ägypten und aus den keltischen Kulturen bezieht. Die Temperamentenlehre wurde erstmals von Hippokrates von Kos (460 bis 370 v. Chr.) formuliert. Er unterteilte, ähnlich wie in der Ayurvedaheilkunde aus Indien, vier Temperamente in Verbindung mit Körpersäften: 1. sanguis (Blut), 2. cholé (Gelbgalle), 3. melancholé (Schwarzgalle), 4. phlegma (Schleim). Bei dieser Einteilung handelt es sich um die sogenannte 4-Säftelehre, die noch bis zum 19. Jahrhundert in der europäischen Ganzheitsmedizin gelehrt wurde. Daraus entstand die Klassifizierung für vier Charaktertypen, die bis heute namentlich bekannt sind:
der Sanguiniker,
der Choleriker,
der Melancholiker und
der Phlegmatiker.
Jeder weiß ungefähr, was damit gemeint ist, da sich diese Archetypen in unserem kollektiven Bewusstsein bis heute gehalten haben. Im Mittelalter war es die Hl. Hildegard von Bingen, die ebenfalls mit Hilfe der Temperamentenund Säftelehre umfangreiche Behandlungspläne und Heilmaßnahmen niederschrieb. Auch der bekannte Arzt Paracelsus, der Homöopath Samuel Hahnemann, Rudolf Steiner (Begründer der Anthroposophie, der Waldorfschulen und biologisch dynamischen Landwirtschaft) und Pfarrer Sebastian Kneipp standen in der Tradition der TEM.
Der Melancholiker als Vorläufer des Hochsensiblen
Den introvertierten Hochsensiblen könnte man am ehesten mit dem sogenannten Melancholiker vergleichen. Hier gibt es sehr große Übereinstimmungen in der Beschreibung der Eigenschaften. Der Melancholiker wird als introvertierter Denker beschrieben. Man sagt, er habe künstlerische Begabungen, eine gute Intuition, Menschenkenntnis, einen Blick für Ästhetik und Details, er denke gewissenhaft, tiefsinnig und neige zum Grübeln. Ebenso wird der Melancholiker als (über-) empfindlich beschrieben, mit Rückzugstendenzen und Neigung zu depressiven Verstimmungen. All dies wird Ihnen bekannt vorkommen! Diese Beschreibung trifft haargenau auf die Klassifizierung eines introvertierten Hochsensiblen zu. Wie im Ayurveda geht man bei der TEM davon aus, dass jeder Mensch ein Mischtyp ist und auch Aspekte der anderen drei Typen in sich tragen kann. Dennoch hat jeder eine Grundkonstitution, die angeboren ist. Wie Sie sehen, ist das Ganze keine neue Idee, doch erst durch die moderne Wissenschaft der Psychologie und Hirnforschung lassen sich diese alten Traditionen durch Untersuchungen belegen und bestätigen. Mit den Informationen zur Hochsensibilität stehen heutige Berater und Therapeuten in einer sehr alten Tradition, die Jahrtausende zurückreicht.
11. Ist der Begriff „Hochsensibilität“ wissenschaftlich anerkannt?
Pioniere auf dem Forschungsgebiet der Hochsensibilität in den USA
In unserer modernen Zeit der Naturwissenschaften war es zunächst die bereits vorgestellte amerikanische Psychologin Elaine Aron, die 1997 begann, durch Interviews das Phänomen der Hochsensibilität objektiv zu untersuchen. Nach der Orientierungsphase entwickelte sie zusammen mit ihrem Ehemann und Forschungskollegen Art Aron an der Universität von Kalifornien, Santa Cruz, einen Fragebogen. Dieser wurde an einer Stichprobe von 604 Studenten getestet. Aus den 60 Fragen filterte Aron im weiteren Verlauf 27 Punkte heraus, die heute als HSP-Skala bekannt sind. Aufgrund ihrer statistisch abgesicherten Vorgehensweise bereitete Elaine Aron einen wissenschaftlich anerkannten Boden für alle weiteren Forschungsprojekte, die bis heute ihre Kreise ziehen. Der Begriff der Hochsensibilität ist auf jeden Fall in Fachkreisen der Psychologie eine wachsende Größe. In einem Interview mit Elaine Aron vom 1.3.2015 mit dem Titel „Hochsensibilität ist keine Krankheit“ berichtete „Die Welt“ (1), dass aktuell 50 Universitäten zum Thema Hochsensibilität forschen. Rechnet man die Studien über hochsensible Kinder hinzu, sind es über 100 aktuelle Forschungsprojekte.
Untersuchungen zur Hochsensibilität in Deutschland
In demselben Artikel nimmt Aron Bezug zu dem deutschen Forscher Max Wolf, einem Biologen, der durch Grundlagenforschung mit Computersimulationen zeigen konnte, wie sich bei Tieren und Menschen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale innerhalb der Evolution herausbilden. Dabei habe sich gezeigt, dass ein Teil der Population die Fähigkeit entwickle, seine Umwelt genauer wahrzunehmen und sich vorsichtiger zu verhalten. Hier wurde erneut bewiesen, dass auch Tiere hochsensibel sein können. An der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg im Bereich Persönlichkeitspsychologie forscht derzeit Dipl.-Psychologin Sandra Konrad im Rahmen ihrer Doktor-Arbeit zum Thema. Im September 2015 erschien erstmals in der deutschen „PSYCHOLOGIE HEUTE“ (2) ein umfassender Bericht mit dem Titel „Feinfühlig“ über den aktuellen Forschungsstand zur Hochsensibilität. Darin kommt die Psychologin im Rahmen eines Interviews zu Wort. An der Universität Bielefeld hat Dipl.-Psychologin Franziska Borries eine Doktorarbeit zur Hochsensibilität geschrieben. Sie befragte 898 Personen (darunter 73% Frauen) mit Hilfe von Fragebögen. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass es Hochsensibilität tatsächlich gibt. Sie ermittelte, dass 17,5% ihrer Stichprobe hochsensibel sind.
Hochsensibilität noch nicht flächendeckend bei Experten be- und anerkannt
Trotz der umfangreichen Forschungsprojekte hat sich das Thema in der Praxis noch nicht so etablieren können, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Noch heute wissen viele Ärzte, Lehrer und Psychologen nichts darüber, besonders wenn sie schon länger berufstätig sind, weil sie in ihrem Studium nichts dazu erfahren haben. Andere Experten halten das Thema Hochsensibilität für einen „übertriebenen Hype“ (3). Deshalb kann es sein, dass Sie zunächst auf Unverständnis stoßen, wenn Sie beispielsweise über die Hochsensibilität Ihres Kindes mit dem Klassenlehrer oder der Hausärztin sprechen wollen. Viel zu schnell wird die gesunde Veranlagung mit Krankheitsbildern verwechselt. Deshalb ist noch immer eine Menge Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit notwendig, bis sich der Begriff Hochsensibilität als anerkannte Größe im Bewusstsein der Gesellschaft und Wissenschaft etabliert hat.
Affirmationen zur Hochsensibilität im Allgemeinen
Ich erkenne meine Hochsensibilität an.
Ich bin dankbar für meine hochsensiblen Talente und Begabungen.
Ich bin einzigartig.
Ich achte auf meine hochsensiblen Bedürfnisse.
Ich bin in Ordnung, so wie ich bin.
Ich akzeptiere meine Individualität.
Ich liebe mich selbst bedingungslos.
Ich bin dankbar für mein Leben.
Ich vertraue mir selbst.