Читать книгу Ab 40 wird's einfach nicht schwer - Sylvia Kling - Страница 10
3. Kapitel 14 Tage – Er
Оглавление»Der Kaffee ist fertig, klingt das net unglaublich lieb.«
Peter Cornelius
Die ersten Tage vergingen wie im Rausch. Silke ging zur Arbeit, hatte Mühe, sich zu konzentrieren und beeilte sich, nach Hause zu kommen, wo jemand auf sie wartete. Jemand, der mit ihr träumen wollte. Peter erwies sich als großartiger Hausmann. Sie musste nichts mehr tun, außer sich ihm und ihren gemeinsamen Interessen zu widmen. Die erste Woche war berauschend schön. Als sie zum ersten Mal miteinander schliefen, eröffneten sich ihr neue Welten. Er war zärtlich und auf seltsame Weise besonders. Peter hatte beinahe etwas Feminines an sich, etwas Fragiles. Sie mochte keine Muskelprotze oder zu großen Männer. Die machten ihr Angst. Er spielte mit ihr und sie spielte mit ihm, mit ihrer Erotik. Jene, die sie wiederentdeckte. Manchmal dauerte es ihr fast zu lange. Sie war solch eine Ausdauer seit Jahrzehnten nicht mehr gewohnt. Silke erlebte himmlische Orgasmen, oft mehrere nacheinander und manche Male musste sie sich anstrengen, noch genügend Luft zu bekommen. Wenn ein Orgasmus besonders intensiv war, verdrehte sie ihre Augen und Peter lachte.
»So etwas habe ich noch nie gesehen! Ich dachte, du stirbst!«
Nur mit Harry, mit Harry vollzog sich in diesen Tagen eine Veränderung, ein unerwarteter Rückzug. Sie sah ihn nicht mehr im Spiegel. Auch Martina ließ sich nicht mehr blicken. Was war geschehen? Machte sie etwas falsch?
Peter brachte sie zum Lachen. Er hatte eine herrlich erfrischende Art und lag mit Silke auch hier auf einer Wellenlänge. Er konnte unglaublich witzig, dabei aber auch eloquent sein. Dieser Mann war eine Offenbarung! Als sie am Dienstag der zweiten Woche nach Hause kam, grub Peter ihr Beet um. Dabei zuckte sein Kopf hin und her. Sie stand hinter ihm und wusste nicht, was das war, bis sie seine Ohrstöpsel sah. Ach, er hörte nur Musik. Was glaubte sie denn? Dass er spastische Anfälle hatte? Er war psychisch krank, nicht körperlich. Was hatte er, wie hieß diese Krankheit gleich? Es fiel ihr nicht mehr ein. Vielleicht, weil es ihr nicht wichtig war. Er erzählte ihr, mehrfach in der Psychiatrie gewesen zu sein. Aber jetzt, nachdem er sich endgültig auf die Flucht vor Beate begeben hatte, ginge es ihm immer besser. Sie hörte Beates Namen in seinen Berichten so oft, dass sie glaubte, sie selbst hätte mit ihr gelebt, sie selbst hätte das alles durchgestanden. Welch eine schreckliche Frau musste das sein, die ihren Mann so behandelte?
»Hey, du bist aber wieder fleißig«, sagte sie und tippte ihm zart auf die Schulter. Er erschrak und drehte sich zu ihr um, richtete sich aus der hockenden Stellung auf und riss sich die Ohrstöpsel aus den Ohren.
»Musst du mich so erschrecken?«, sagte er in ungewohnt scharfem Ton. Silke zuckte zusammen und sah ihn aufmerksam an. Seine Augen, sie waren wieder so groß. Was war das nur bei ihm mit diesen Augen?
»Entschuldige, aber wie sollte ich mich sonst bemerkbar machen?«, entgegnete sie.
»Schon gut, hast ja recht. Ich war nur so erschrocken. Hach, morgen habe ich bestimmt eine Schreckblase an den Lippen und du, du musst mich pflegen. Das wird der Vorteil sein«, lachte er, zog sich die Handschuhe aus, nahm Silkes Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich auf den Mund. Sie schmolz dahin. Alles war vergessen, der scharfe Ton, die Bauchschmerzen, die sie trotz dieser unvergleichlich schönen Woche seit Neuestem hatte.
»Das mache ich doch gern, mein Liebling«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Und noch mehr. Er nahm sie an die Hand und zog sie hinter sich her ins Haus. Im Korridor küssten sie sich leidenschaftlich und rissen sich die Sachen vom Leib. Er drehte sie um, sie stand mit dem Gesicht zur Wand. Dann ging er auf die Knie und streichelte langsam ihre Beine hinauf, zu ihrer Mitte, um sie dort bewusst oberflächlich zu berühren. Er wusste, wie rasend sie das machte. Dann stellte er sich leise hinter sie und berührte von hinten ihren Busen, streichelte die längst aufgerichteten Knospen. Silke stöhnte und wand sich.
»Mehr, mehr«, bettelte sie.
»Immer schön langsam, du geiles Weib!«, flüsterte er ihr ins Ohr und knabberte an ihrem Ohrläppchen, dabei mit der rechten Hand von ihrer Brust hinabgleitend zum Bauch. Sie wusste es, sie wusste, was kommen würde und stöhnte laut.
»Na, bist du heiß?«, raunte Peter ihr zu.
»Ich bin nicht nur heiß, ich will …«
Sie kam nicht weiter, denn jetzt ließ er seine Finger langsam zu ihren Schamlippen gleiten und rieb ihre Klitoris. Sie konnte es kaum noch ertragen. Seine andere Hand berührte ihren Po, erst sanft, dann fester. Er holte aus und schlug auf ihre Pobacke.
»Na, meine kleine, heiße Stute, auf zum Galopp, oder?«
Ehe sie antworten konnte, schob er einen Finger in sie hinein, bewegte ihn darin und rieb dabei mit der anderen Hand ihre Klitoris weiter. Ihr Atem wurde immer schneller, bis sie aufschrie. Sie hechelte, schrie. Und wieder von Neuem das süße Spiel.
»Soll ich zwei Finger nehmen?«, fragte er, höchst erregt. Sie spürte sein steifes Glied an ihrem Hintern.
»Ja, nimm zwei.« Peter lachte laut auf.
»Ich bin aber kein Bonbon!« Darauf konnte sie nicht eingehen, sie war zu erregt.
»Oh, wie schön nass du bist, du tropfst ja regelrecht. Sicher könntest du auch squirten.«
Äh, was bitte? Sie wusste es nicht. Es war ihr auch gerade egal. Hauptsache, es war nichts Brutales. Ihr Bauch, verdammt noch mal. Was war mit dem los? Peter war perfekt, der Sex mit ihm war der Hammer! Warum also dieser bohrende Zweifel?
»Fick mich!«, bettelte sie. »Steck mir deinen Schwanz rein, jetzt!«
»Oh, du schmutziges Weib! Ja! Das tu ich«, keuchte er, drehte sie zu sich um und küsste sie, knetete ihre Brüste und sie hob ihr rechtes Bein an.
»Was sagtest du vorhin, ich könnte auch squir…, was?«, fragte sie ihn, als sie verschwitzt auf ihrer Couch lagen, sich aneinanderschmiegten und streichelten.
»Das heißt Squirting. Kennst du das nicht?«
Peter lächelte.
»Würde ich es kennen, müsste ich nicht fragen.«
»Stimmt, mein Schatz. Also, was viele nicht wissen: Auch eine Frau kann ejakulieren. Bei der weiblichen Ejakulation fließt etwa ein Teelöffel voll Flüssigkeit aus der Harnröhre. Manche Frauen aber ejakulieren viel mehr – das wird auch Squirten, also Spritzen genannt. Ich könnte mir vorstellen, dass du zu diesen Frauen gehörst, du bist immer so schnell erregt und extrem nass.«
Er grinste sie an. Oh, là, là! Da musste sie so alt werden, um derartig ausgefallene Sachen zu erfahren?
»Hm, das klingt sehr technisch. Muss man aus einem Liebesakt eine technische Beschreibung machen? Ist das heute modern? Für mich hat Sex etwas mit Gefühl, mit Hingebung zu tun – mit Liebe.«
»Muss ich dich an dein Vokabular beim Akt erinnern? Das war nicht von Gefühl oder Liebe geprägt, sondern von purer Geilheit. Frag mich danach noch einmal, ob die Beschreibung des Squirtings modern ist …«
Peter kniff sie liebevoll in den Arm.
»Ich widerspreche dir. Mein Vokabular hat nichts mit ›modern‹ zu tun, sondern mit Vertrauen. Ich vertraue dir, darum benutze ich dieses Vokabular. Einen Mann, dem ich nicht vertraue, lasse ich auch nicht in meine geheimen sexuellen Wünsche und Begierden eintauchen, dem gebe ich mich nicht so hin«, erklärte sie ernst und küsste ihn auf die Wange. Sie lagen noch lange so da und erzählten sich aus ihrem Leben und von ihren Träumen, bis sie einschliefen.
Silke erwachte von einem eigenartigen Geräusch. Lief da jemand auf dem Dachboden auf und ab? Das konnte doch nicht sein! Sie schaute auf die Seite neben sich. Peter war nicht da. Angestrengt horchte sie nach oben. Wieder hörte sie oben etwas. Den Bademantel übergeworfen, der neben ihr auf dem Fußboden lag, tastete sie nach dem Lichtschalter. Licht beruhigte sie. Nachdem sie sich im Wohnzimmer orientiert hatte, stand sie auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging langsam die Treppe zum Dachboden hinauf.
»Peter? Hallo? Bist du es?«
Das war vielleicht blöd! Wer sollte es sonst sein? Es kam keine Antwort. Noch einmal rief sie ihn beim Aufstieg und kam auf dem Boden an. Da stand er, vollständig angezogen, mit ernstem Gesicht und starrte auf eines ihrer gemalten Bilder; ›Tränen auf Eis‹.
»Was machst du hier mitten in der Nacht?«
Besorgt sah sie ihn an. Sah diese extrem weit aufgerissenen Augen. Vielleicht sollte sie ihn damit beim »Supertalent« anmelden?
»Ich sehe mir dein Bild an, was sonst?«
Seine Stimme klang kalt. Silke fror, obwohl es auf dem Dachboden noch ungewöhnlich warm war für diese Uhrzeit.
»Warum jetzt?«
»Ich konnte nicht schlafen. Irgendetwas stört mich daran.«
»Woran bitte?«
Silke ahnte es. Ihr Bauchgefühl, es war bisher noch immer ein verlässlicher Indikator gewesen. Oder übertrieb sie?
»An dem Bild. Es hat etwas Aggressives. Hat dir das schon mal jemand gesagt? Deine Farben hier …«
Er deutete auf die Mitte des Bildes, auf dem Eisblau in ein Nachtblau verlief, aus dem Auge heraustropfend.
»Es ist mein Bild, es sind meine Gefühle, es ist mein Werk. Was hast du damit zu tun!? Was daran ist bitte schön aggressiv?«
Das ging ihr zu weit. Er ging ihr zu weit.
»Kümmere dich nicht um mich. Ich sagte dir auch nur meine Meinung, nicht mehr und nicht weniger, Beate!« Beate? Silke zuckte zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Mit ihm nicht.
Ein Schwert waren seine Worte; nicht mehr und nicht weniger. Scharf, böse. Und seine Haltung unterschwellig angriffslustig. Sie konnte seine Anspannung spüren.
»Gut, dann gehe ich jetzt wieder schlafen. Viel Spaß noch, Jens«, sagte sie, leise, aber bestimmt; verstimmt. Wenn sie Beate war, hieß er eben Jens. Aber ob er es überhaupt bemerkte? Peter drehte sich zu ihr und bevor sie sich anschickte, den Dachboden zu verlassen, sah sie es wieder. Als ob seine Augäpfel aus den Augenhöhlen treten würden. Sie fror. Wieder. Und ging nach unten. Bis zum Morgen lag sie wach. Ein Gefühl von Angst beschlich sie und sie schalt sich.
»Er hat eben seine Anwandlungen, wird ja nicht grundlos in Rente sein. Wer weiß, was er durchmachen musste, der arme Kerl«, sprach sie sich selbst zu.
Viele andere Ausreden fand sie für sein Verhalten. Sie wechselten sich ab mit dem lauten Grummeln in ihrem Bauch und mit dem ungekannten Gefühl Angst.
Peter schlief in dieser Nacht überhaupt nicht und war am Morgen hellwach. Irgendwann musste sie noch einmal eingenickt sein, in einen sehr leichten Schlaf. Als sie Geräusche in der Nähe hörte, schreckte sie auf.
»Guten Morgen, mein Schatz, möchtest du einen Kaffee?«, tönte es gut gelaunt aus der Küche.
»Ja, gern!«, rief sie ihm zu. Und schluckte schwer.
Dieser Tag verlief ruhig, aber Peter wirkte immer noch seltsam angespannt. Er musste ständig etwas zu werkeln haben. Einmal rannte er zum Beet, obwohl es wie aus Kannen schüttete, dann kam er durchnässt ins Haus, ging wortlos ins Schlafzimmer, zog sich um und verkündete fröhlich:
»Einmal im Monat in den Regen gehen, das ist ein Muss. Vielleicht wachsen meine Haare nach!« Er lachte über seinen eigenen »Witz« und erklärte Silke, dass ihre Lampenschirme dringend geputzt werden müssten und er sie morgen von der Arbeit abholen wolle, um mit ihr shoppen zu gehen.
»Mir ist aufgefallen, dass wir ruhig mal unter Leute gehen sollten, mein Schatz!«, schmetterte er überdreht.
Silke wurde immer unruhiger. Das Ganze gefiel ihr nicht. Am nächsten Tag holte er sie tatsächlich von der Arbeit ab und lud sie zum Essen ein. Im Restaurant plapperte er unentwegt, was er noch alles vorhatte. Im Kaufpark drängelte er sie in die Parfümerie Douglas.
»Mein Schatz, welches Parfüm möchtest du gerne haben? Such dir eins aus!«
Wie großzügig. Sie verdiente zwar nicht viel, aber durch den Wegfall der Kredite für ihr Haus stand ihr genug zur Verfügung, um selbstständig zu sein. Sie brauchte keinen Mann, der ihr – grundlos mitten in der Woche – ein Parfüm kaufte. Oder war sie den Feministenpredigerinnen aufgesessen? Sie wollte ihren Frieden. Irgendetwas an seinem Verhalten seit der vorigen Nacht auf dem Dachboden alarmierte sie. Nur nichts Falsches sagen! Sie schnupperte sich durch, bis sie nicht mehr wusste, welches Parfüm wie roch, und griff nach dem billigsten. Peter war nicht dumm.
»Das Billigste also, dachte ich mir. Meine Traumfrau!«, meinte er laut und theatralisch. »Wie wäre es mit diesem hier?« und hielt ihr Chanel No. 5 vor die Nase. Frieden, einfach nur Frieden.
»Oh! Das ist ein himmlischer Duft«, rief sie aus. Neben ihr stand eine junge Frau, die sie pikiert fixierte und sicher dachte: Tussi. Wohlhabende, verwöhnte Tussi. Silke atmete tief durch. In Ordnung. Bin ich das eben heute. Nur heute. Für den Frieden. Peace, yes!
»Ja, Liebling, das nehme ich sehr gern«, flüsterte sie ihm zu und er grinste wie ein Honigkuchenpferd. Als sie den Laden verließen, glühten Silkes Wangen. Ihr war speiübel.
»Meine liebste Silke, brauchst du noch etwas?«
Peter sah sie an. Mit diesen tellergroßen Augen. Also doch Supertalent.
»Nein, ich habe alles, was ich brauche«, versuchte sie glücklich strahlend von sich zu geben.
»Natürlich, ich bin ja auch bei dir!«, und er lachte sein Ich-lache-über-mich-selber-am-lautesten Lachen.
»Hihi, das stimmt, Peter.«
Sie sprach seinen Namen aus. Und dann auch noch so trocken, dass sie selbst erschrak. Vielleicht hatte er es nicht bemerkt?
»P-e-t-e-r?«, wiederholte er gedehnt, »seit wann das?«
Er blieb abrupt stehen und glotzte, ja, glotzte, sie an. Ohne zu lächeln.
»Na, so heißt du schließlich.«
»Ja, sicher, aber du sprichst ihn mit keiner positiven Schwingung aus!«
Er sah sie an. Mit diesen schrecklichen Augen. Immer wieder. Herrje! Man konnte doch nicht ständig seinen Partner mit diesen schrecklich abgedroschenen Kosenamen ansprechen! Schatzi, Mausi, Hasi, Mausebär, Blubsibär – wie albern. Allein bei Schatz drehten sich im Discounter mindestens zehn Männer auf einmal um. Und Tiernamen, nun ja, die kommen nicht mal bei Franzosen an, geschweige denn bei den Deutschen. So verrückt schienen nicht mal Deutsche zu sein, dass sie sich tierisch fühlten.
Aus ihren Gedanken, die Silke amüsierten, holte sie ihr Fettschwanzmaki. Nun war es so weit, er bekam doch einen Tiernamen. Silke begann lauthals zu lachen. Es erwischte sie. Sie bückte sich, hielt sich mitten im Kaufcenter den Bauch und hockte sich auf eine Bank, um ihrem Lachrausch zu frönen. In ihrer ganzen inneren Anspannung sah sie nun dieses Tierchen vor sich, über das sie kürzlich eine Doku gesehen hatte: Fettschwanzmaki. Riesengroße Augen, flauschiger Schwanz. Sie blickte auf und in Peters Gesicht. Ihr Lachen erreichte den Höhepunkt. Er stand vor ihr, der Schritt vor ihren Augen. Flauschiger Schwanz. Ihre Augen tränten. Hoffentlich war ihre Schminke nicht verlaufen. Wenigstens daran dachte sie, wenn schon nicht an das arme, jetzt hilflos vor ihr stehende Peterlein.
»Ich würde zu gern in dein Lachen einstimmen«, sagte er gereizt und Silke fiel auf, wie gestelzt er manchmal sprach, der Möchte-gern-Intellektuelle, der nicht mal sein Studium zu Ende gebracht hatte. Woher kam plötzlich ihr Sarkasmus? Der war es nicht allein. Sie fühlte Abscheu vor ihm in sich aufsteigen.
»Das glaube ich allerdings nicht«, entgegnete sie, sich langsam beruhigend, und holte einen Spiegel aus ihrer Handtasche, hielt ihn sich vors Gesicht, tupfte die verlaufene Mascara unter den Augen weg, legte schnell Puder nach und sah Peter nicht mehr an. Um sich – und vor allem ihm – einen erneuten Lachanfall zu ersparen.
»Meine Liebe, meine gute Laune ist jetzt nicht nur marginal abgeklungen. Fahren wir nach Hause!«, sprach er pathetisch und mehr befehlend als vorschlagend oder gar bittend. Nicht nur marginal, aha.
»Okay, gern.« Am besten, du zu dir und ich zu mir. Doch sie sagte es nicht. Sie hatte ohnehin den Bogen schon überspannt. Peace!
Der restliche Tag und Abend verlief mit kühler Atmosphäre und einer merklichen Spannung zwischen ihnen, beinahe lauernd sahen sie sich an und schwiegen die meiste Zeit. Silke war froh, als es endlich Zeit wurde, schlafen zu gehen.
Mitten in der Nacht wachte sie von Gerumpel auf. Sie schrak hoch und binnen weniger Sekunden tauchte vor ihrem geistigen Auge ihre jahrelange, immer wiederkehrende Angst vor Einbrechern auf, bis ihr gewahr wurde, dass sie nicht allein lebte – gerade. Peter! Sie sah auf »seine« Seite. Leer. Was zur Hölle … Aus dem Bett taumelnd zog sie sich den Bademantel an und ging die Treppe nach unten, dem Geräusch folgend. Dabei sah sie auf die Uhr im Treppenhaus. Vier Uhr dreßig. Mitten in der Nacht. Samstag. Sie könnte ausschlafen. Während der Woche stand sie jeden Morgen um sechs Uhr auf, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Mist verdammter! Der Krach kam aus der Abstellkammer, die sie mit einem erstaunlich munteren Ruck öffnete. Peter stand inmitten von Kisten und Regalen, vollkommen konzentriert.
»Was zum Teufel machst du da?«, fragte sie so streng, wie sie auch wollte. Er sah überrascht auf, musterte sie mit seinen Glubschaugen, die im Halbdunkel noch beängstigender wirkten und sagte monoton:
»Ich räume die Abstellkammer auf.«
»Mitten in der Nacht?«, kreischte sie.
»Es ist ein Morgen, meine Liebe.«
Wieder diese Arroganz in der Stimme, diese Gleichgültigkeit; Monotonie, die ihr die Härchen auf den Armen aufstellte.
»Sag mal, geht es noch? Das ist mein Haus, meine Abstellkammer, mein Schlaf!«
Sie nahm die nächstbeste Kiste, hob sie an und warf sie gegen die Wand, direkt neben Peter kam sie auf. Schluss mit Beherrschung! Er schien kein wenig erschrocken zu sein. Mit stoischer Ruhe nahm er die Kiste, aus der Nägel, Taschenlampen und alte Handys fielen, und packte den Krempel wieder hinein. Silke stapfte wütend davon. Dieser Mann war keine Offenbarung. Er war eine Katastrophe!
Sie konnte nicht mehr schlafen. Die Morgensonne schien durch die Fenster. Silke wartete nur darauf, endlich aufzustehen und schob den Vorhang beiseite, der ihr den Blick auf den Kirschbaum verwehrt hatte. Er stand in voller Blüte. Ob Frau und Herr Schröder schon wach waren? Sicher kochte er ihr wieder den Kaffee und wenn sie noch schlief, so brachte er ihn an ihr Bett. Er stellte das Tablett auf ihrem Nachtschrank leise ab und küsste sie auf die Stirn, wie er es immer tat. Seit Jahrzehnten. Frau Schröder hatte es ihr kürzlich erzählt.
»Nach so vielen Jahren! Stellen Sie sich das vor«, hatte sie geschwärmt.
Vor ihrem Fenster rekelten sich die Blüten. Und sie?
Sie fühlte sich, als wäre sie aus Glas.
Silke hörte ein Lied. Direkt neben sich. War das ein Traum? Sie blinzelte und wollte wach werden. Oder lieber nicht. Während dieser Überlegungen sang ein Mann neben ihr:
»Der Kaffee ist fertig, klingt das net unheimlich zärtlich.
Der Kaffee ist fertig, klingt das net unglaublich lieb.
Wenn die ersten Sonnenstrahl’n auf meine Aug’n niederfall’n, dann hör’ i dei’ Stimm’, die wie Glock’n klingt …«
Es erinnerte sie – woran nur? Die Augen wieder geschlossen, fiel es ihr ein. Peter Cornelius, der Mann unter den Hochsensiblen. »Ein Diamant verbrennt«, ein alter Schinken, aber sie weinte jedes Mal, wenn sie das Lied hörte. Woher kam dieses Kaffeelied? Sie traute sich, ihre Augen wieder zu öffnen, folgte der Musik und setzte sich im Bett auf. Da sah sie es. An ihrem Fußende stand ein Radio. Im Moment des Erkennens trat Peter feierlich in ihr Schlafzimmer, auf dem Tablett eine dampfende Tasse Kaffee und auf dem Gesicht ein schrecklich breites Lächeln, als hätte er in der Nacht eine Gesichtslähmung erlitten. Spontan fiel Silke der Spruch ein: »Liebe, lache, lebe. Wenn das nicht funktioniert: Lade, ziele, schieße.«
Ob sie ihr altes Luftgewehr noch fand? Es war doch im Keller? Ihr Kapiervorgang zu diesem Mann war schon seit Tagen abgebrochen. Sie sah ihn an, versuchte sich in einem nicht ganz so bekloppten Lächeln, zeigte aber immerhin ihre schönen, gepflegten Beißerchen; und sie fühlte sich elend.
»Einen wunderschönen guten Morgen, mein Engelchen!«, säuselte das abgemagerte, glatzköpfige Honigkuchenpferd.
»Moin«, entgegnete sie kurz und knapp.
»Hast du gut geschlafen?«, raspelte er weiter Süßholz und sie überlegte wieder – plötzlich auf den Geschmack eines wundervollen Gedankens gekommen –, nämlich den, wo denn nun ihr altes Gewehr war. Immerhin war sie wenige Jahre zuvor noch Schützenkönigin von Bärwalde gewesen. Da sollte doch was gehen? Oder besser schießen.
»Geht so!«, antwortete sie muffig. Du Homo novus, was fragste denn so nen Scheiß, nach der Nacht, hä?, dachte sie, diesmal im gewollt sächsischen Dialekt, und kochte innerlich. Ihre Wut ballte sich immer mehr zusammen. Schlimmer aber war die Angst, die er ihr einjagte, um sie am darauffolgenden Tag mit einem vor Schmalz triefenden, uralten Song zu wecken und sich zu trauen, ihren geliebten und heiligen Kaffee auch nur anzusehen und sie dabei anzuglotzen wie ein zu groß geratener Daumenlutscher seine Mama, damit sie ihm die Brust freimachte.
»Nimm den Kaffee wieder mit runter. Ich komme gleich«, blaffte sie ihn an. Warum sollte sie kuschen, in ihrem eigenen Haus? Widerrede oder seine arroganten, gestelzten Wortkreationen erwartend, bei denen man ein Fremdwörterbuch verschluckt haben musste, um sie zu verstehen, stellte sie sich darauf ein zu schießen. Erst einmal mit Worten.
Aber Peter zog eine Schmollschnute und sah zum Brüllen aus. Der war ja auch noch feige! Das war auch so einer, der vor einer Frau einen auf dicke Hose machte und dann kniff. Super. Richtig gut. Als Peter ihr Schlafzimmer verlassen hatte, war Silkes gedankliches Schimpfwörterrepertoire vorerst aufgebraucht. Hastig zog sie sich ihren Bademantel über und lief nach unten. Normalerweise kämmte sie sich erst die Haare. Sie war so eitel, dass sie sich vorm Sterben noch einen Friseurtermin geben lassen würde. Es störte sie aber nicht im Geringsten, jetzt wie ein aufgeplatzter tasmanischer Teufel auszusehen. Den Mann wollte sie ohnehin nicht heiraten.
Wieder verspürte sie dieses eigenartige Grummeln in der Magengegend. In ihrem Wohnzimmer angekommen, sah sie ihn. Er lief, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, durch den Raum, von einem Ende zum anderen. Wie ihr Großvater, der seine Arme hinter den Rücken legte, weil er eine Kriegsverletzung hatte und der rechte Arm ihn so weniger schmerzte. Dieser Mann hier hatte wohl auch eine Verletzung, die aus einem anderen Krieg stammte. Angestrengt und die Mundwinkel nach unten gezogen, starrte er vor sich hin. Er schien nichts wahrzunehmen. Sie wollte diesmal keine Angst haben. Einen frischen Kaffee eingegossen, schlürfte sie provokant laut daran. War das schön! Er konnte es nicht leiden, es wäre gegen die Etikette. Welche bitte? Sie schlürfte nur in ihrem Haus, draußen wusste sie sich zu benehmen. Und verdammt noch mal – ja! In ihrem Haus furzte sie auch, wenn es sein musste; rannte in Jogginghose herum und pfiff auf Lagerfeld, den armen Kerl, der jetzt gar nichts mehr tragen durfte. Alles für die Katz. Da hatte sie es besser.
»Peter, ich möchte, dass du gehst. Und nicht wiederkommst!«
Basta, du Vogel. Es wird Zeit, dass du davonfliegst, ehe ich dir die Federn aus den Flügeln reiße und mein Haar damit schmücke. Er blieb nicht stehen, sondern lief weiter.
»Hörst du mich? Hast du heimlich was geraucht, oder was ist mit dir?«, rief sie ihm laut und mit ihrer ganzen seit Tagen angestauten Aggression zu.
»Mache ich«, sagte er und lief weiter, diesmal nach oben, um seine Reisetasche zu packen. Sein Werkzeug aus der unverschämt aufgeräumten Abstellkammer nahm er auch mit. Er sah sie durch seine komische Brille nicht einmal mehr an. Ihr Korridorlicht warf ihm einen Lichtstrahl auf die Glatze. Der Heiligenschein war es nicht. Aber er sah jetzt auf dem Kopf aus wie ihr Deoroller, wenn sie ihn rollte und er ihr neue glänzende Flüssigkeit anbot.
»›Wenn einer weggeht, muss man die Tür schließen. Es wird sonst kalt‹, sagte schon Brecht«, murmelte sie in sich hinein und ging vergnügt in ihr Bad, um zu duschen. Der Dreck musste runter. Unbedingt.