Читать книгу Ab 40 wird's einfach nicht schwer - Sylvia Kling - Страница 12
5. Kapitel Seltsame Überraschungen
Оглавление»Ja, wie dir sicher nicht entgangen ist, tu ich das oft;
mich mit Essen trösten.«
Martha
Chef senior hatte Urlaub. Dafür hampelte der Junior wie ein Aufziehmännchen durch das Büro. Ganz so junior sah er zudem nicht mehr aus, wie er vorzugeben versuchte. Die Überproduktion seiner Schweißdrüsen war offenbar ein Gendefekt. Als Silke direkt vor ihm stand und er sie fragte, ob sie den Beschluss des Amtsgerichts zur letzten Klage der Schüsslers für den Versand bereit hätte, stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Vor ihrem inneren Auge erschien das fatale Versäumnis des vergangenen Sommers, als sie vergessen hatte, einen Rest Gulasch zu entsorgen, bevor sie für zwei Wochen in den Urlaub gefahren war. Bei der Rückkehr war der Gestank in ihrer Küche betäubend gewesen. Und genau solche Partikel wehten ihr nun vom Juniorchef entgegen. Vielleicht erhöhte der Ärger über die Familie Schüssler seine Schweißproduktion. Diese Familie hatte es sich zum Hobby gemacht, vor Gericht zu klagen – und sei es um die abgebrochene Nase eines Gartenzwergs. Der Gedanke: Bei jedem Atemzug, den ich mache, stirbt ein Mensch, traf hier wohl zu. Ob die Stuten-Martha ihn noch küsste? Silke schüttelte sich.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte der Junior, fast schon besorgt, und wieder erreichte sie der Müllkippenwind. Indes kam die liebe Martha hereingeeilt. Sie rauschte an ihrem Angetrauten vorbei und beachtete ihn nicht im Geringsten.
»Martha, schön, dass du da bist«, hörte sie in tadelndem Ton den ehemaligen Heißsporn rufen. Nun war sie gespannt.
»Könntest du so nett sein und mir einen Kaffee bringen?«
Gerade wollte sie schnurstracks in Richtung ihres Arbeitsplatzes gehen, da drehte sich Martha abrupt um.
»Natürlich, gern!«
Das sprach sie in dem Tonfall von »Du Arsch!« aus. Ihre Augen funkelten. Als sie an Silke vorbei auf die Küche zusteuerte, hörte sie Martha wütend zischen:
»Zu Hause fragst du nicht so freundlich!«
Aha, da lag der Hase im Pfeffer. Zu gern wollte Silke wissen, wer oder was noch im Pfeffer lag. Sie wartete eine Minute, um dann aufzustehen und gemächlichen Schrittes die Küche aufzusuchen, die sich nur zwei Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt befand. Martha hatte da etwas im Blick, was sie stutzig machte. Das war nicht nur ein kleiner Ehestreit, nicht nur eine kleine Wut. Da war mehr. Oder alles? Unauffällig ging sie auf die Küche zu und lehnte sich an den Türrahmen. Marthas aggressive Stimmung war im Raum beinahe greifbar. Sie faltete hektisch den Kaffeefilter, der Silke beinahe leidtat, und schüttete einen Großteil Wasser nicht in den dafür vorgesehenen Behälter, sondern daneben, fluchte, wischte das vergossene Wasser mit fahrigen Bewegungen weg und – weinte.
»Langsam, warte, ich helfe dir«, sagte Silke leise. Martha drehte sich erschrocken um. Sie war so mit ihrer Wut beschäftigt gewesen, dass sie Silke nicht bemerkt hatte.
»Geht schon!« Martha schniefte.
»Nein, es geht eben nicht. Ich mache den Kaffee für deinen Mann.«
Silke nahm einen Stuhl vom Küchentisch, stellte ihn verkehrt herum in die Küche und schloss die Tür.
»Komm. Setz dich bitte. Mach mal eine Pause und atme tief durch. Das hilft manchmal.«
Martha blinzelte sie erstaunt, aber dankbar an. Zwischen ihren Wimpern glitzerten Tränen. Betont ruhig setzte Silke die Kaffeemaschine in Gang. Dann holte sie zwei ihrer Lieblingsjoghurts aus dem Kühlschrank und reichte Martha einen davon, setzte sich neben sie und gab ihr einen Löffel. Martha lächelte. Ein gutes Zeichen!
»Manchmal muss man einfach etwas essen, oder?« Silke legte der verzweifelten Frau kurz die Hand auf die Schulter.
»Ja, wie dir sicher nicht entgangen ist, tu ich das oft; mich mit Essen trösten.«
Silke dachte: Du wolltest Müllkippen-Junior doch unbedingt haben …, aber sie verkniff es sich, etwas zu sagen. Martha tat ihr leid. Und dann, als hätte die Frau Silkes Gedanken gehört, sprudelte es aus ihr heraus:
»Ich wollte den Sohn vom Stinkerwilli ja unbedingt haben. In den Arsch beißen könnte ich mich dafür, der ja jetzt genug Platz für die Bisse einer ganzen Nation hat!«
Sie lachte ein verzweifeltes Lachen, um gleich danach wieder in Tränen auszubrechen.
»Unser Sohn leidet auch unter ihm.«
Ach stimmt, da war ja noch so ein kleiner Kugelblitz. Silke war immer der Meinung gewesen, hässliche Kinder gäbe es nicht, ebenso wie keine hässlichen Erwachsenen. Es gab Menschen, die besonders aussahen, ungewöhnlich. Hässlich wurden sie nur durch ihre Art, ihren Charakter, ihr Auftreten. So auch diese kleine Hüpfburg. Silke hatte ihn ein einziges Mal erlebt und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dieses Kind nie wiedersehen zu müssen. Er schrie nicht; nein, er krähte, rannte durch das Büro, zog alle Schubläden auf, krachte sie wieder zu, riss nacheinander alle Türen auf, knallte sie zu und kreischte dabei ununterbrochen wie ein Zalando-Model. Und die Eltern? Martha war dem Kind hilflos hinterhergerannt und hatte einen puterroten Kopf bekommen. Der Junge machte unbeeindruckt weiter. Er habe ADHS, so lautete die kleinlaute Erklärung der Ex-Büro-Pink-Schönheit. Silke sah Martha nachdenklich an.
»Worunter leidet der Junge bei deinem Mann, Martha? Magst du darüber reden?«
Diese schluchzte immer noch.
»Ich weiß nicht, ob das gut ist, mit dir darüber zu sprechen. Immerhin ist er dein Chef«, gab sie zu bedenken.
»Martha, kennst du mich inzwischen ein bisschen?«
Sie nickte und es flossen neue Tränen.
»Am Anfang war er nett, ungefähr das erste Jahr. Dann ging er in den Puff und sah sich heimlich Pornos an. Okay, dachte ich, damit müssen andere Frauen auch leben.«
Mussten sie das? Silke zweifelte daran. Vielleicht gab es doch noch Männer, die sich mit einer Frau zufriedengaben? Egal, sie wollte alles wissen. Es wurde gerade richtig interessant.
»Dann aber«, Martha stockte kurz, »… begann er, immer mehr von mir zu verlangen. Nicht nur im Bett, auch im Haushalt. Er macht inzwischen gar nichts mehr. Ich rotiere, vor allem, seit unser Sohn geboren ist. Der Herr geht nur noch shoppen oder herumhuren. Er beleidigt mich zu Hause, jagt mich durch die Gegend, erteilt Befehle. Er ist ein Arsch, der größte, den ich kenne.«
Pause.
»Außer meinen.«
Silke wollte nicht lachen, nein, auf keinen Fall! Nicht lachen! Aber als Martha sie durch ihre tränenverschleierten Augen verschmitzt ansah und sie regelrecht aufforderte, genau das zu tun, gab es keinen Halt mehr. Martha stimmte in das befreiende, herzhafte Lachen mit ein. Sie hielt sich dabei an Silkes Arm fest, eine ungewöhnliche Situation. Ihr Lachen schallte durch das Büro, und es kam, wie es kommen musste. Die Tür wurde aufgerissen und der gewichtige Kotzbrocken stand im Rahmen mit weit aufgerissenen Augen – sie erinnerten Silke an den Träumer Hans. Beinahe hätte sie noch weiter und viel lauter gelacht, wenn nicht der erstarrten Martha der Schrecken im Gesicht gestanden hätte.
»Was gibt es hier zu lachen? Haben die Damen keine Arbeit?«, fauchte er die beiden an, sah aber dabei zu Martha.
»Ach, wissen Sie, haben Sie schon mal etwas von einer guten Arbeitsatmosphäre gehört? Sie soll die Leistungsfähigkeit steigern. Ihr Herr Vater hat Sie doch sicher adäquat in die Leitungsebene eingearbeitet?«
Ruhe. Silke saß entspannt und ruhig auf ihrem Stuhl und tastete mit der linken Hand nach Marthas, fand sie und streichelte sie kurz.
»Aha. Na dann, an die Arbeit, nicht wahr? Da kommt ja jetzt Konstruktives!«
Er klatschte in die Hände und zeigte ins Büro. Inzwischen hatte sich Martha die Tränen abgewischt und lief rotwangig an ihren Arbeitsplatz zurück. Zwei Stunden später machte sie Feierabend, um den Sohn aus der Kindertagesstätte abzuholen. Beim Verlassen des Büros reichte sie Silke einen Zettel, auf dem stand:
Ich weiß nicht, wie ich das verdient habe, dass du so nett zu mir bist. Du hast mir den Tag gerettet, auch den meines Sohnes. Denn heute werde ich nur noch lachen. Ich sage einfach nur DANKE.