Читать книгу Ab 40 wird's einfach nicht schwer - Sylvia Kling - Страница 9
2. Kapitel Hans, der Träumer
Оглавление»Leben! Das strahlen deine Bilder aus.
Leben und Sinn, ja, sogar Sinnlichkeit!«
Peter Meyer
An einem sonnigen Mittwochvormittag war es so weit. Silkes Kater Whiskey schlich ihr zuvor die ganze Zeit um die Beine, als ob er mit ihr gemeinsam aufgeregt wäre.
»Mensch, Tier, störe mich jetzt nicht! Ich muss perfekt aussehen, verstehst du? Und mach mich jetzt nur nicht mit Katzenhaaren voll!«
Rote Katzenhaare auf einer weißen Sommerjeans, welch ein Grauen. Whiskey schien zu verstehen. Beleidigt zog er sich in den Flur zurück und starrte sie aus der Ecke heraus an. Silke überprüfte ihr Make-up, puschte ihre vollen Haare immer wieder auf und stellte fest, dass sie wieder mal zugenommen hatte. Egal jetzt. Darum konnte sie sich später kümmern.
Endlich klingelte es. Sie ging betont langsam zur Tür. Whiskey schlängelte sich an ihren Hosenbeinen an ihr vorbei und während sie die Tür öffnete, sagte sie laut:
»Geh weg, du Doofer!«
»Was für eine zauberhafte Begrüßung!«, lächelte sie der Träumer an.
»Nein, nein, ich meinte Whiskey …«, stotterte Silke, peinlich berührt, auf den davonlaufenden Kater zeigend.
»Und was für ein zauberhafter Name für einen Kater!«, konterte er wieder. Das Eis war gebrochen. Silke lachte. Sie erinnerte sich an die Bemerkung des Nachbarn von gegenüber, als sie eines Abends ihr Tier ins Haus rufen wollte.
»Whiskey!? Whiskey!? Wo ist mein feiner Whiskey, ja, wo ist er denn?!«
Der Nachbar, der mit ein paar Freunden gegrillt hatte, schrie rüber:
»Bist wohl schon zum Alki mutiert, hä?«, und seine Gäste hatten sich schiefgelacht. Aber das wollte sie dem träumenden Hans vielleicht später erzählen. Sie hatten ja Zeit. Hoffentlich.
»Komm erst mal rein.« Mit einer einladenden Geste öffnete sie die Tür.
»Gern doch, sehr nett«, entgegnete er galant und trat ein. Während sie ihn in ihr Wohnzimmer führte, betrachtete sie ihn genauer. Er war einige Zentimeter größer als sie, auf jeden Fall über eins achtzig, und von sehr schlanker Gestalt. Das gefiel ihr. Wie bei vielen Männern dieses Alters musste er sich keine Mühe mehr beim Haarekämmen geben, denn da war nicht viel zu richten und wie sie an den wenigen Muzeln, die sich wie ein Kranz um seinen Kopf legten, erkennen konnte, war sein Haar rot. Was ihr aber besonders ins Auge fiel, war seine ausgesprochene Blässe, typisch für Rothaarige. Die Nickelbrille passte zu ihm. Während sie ihn musterte, betrachtete er ihr Wohnzimmer.
»Schön hast du es hier, wirklich sehr geschmackvoll«, lobte er und sah sich sehr genau um.
»Setz dich doch«, meinte sie. Jetzt wäre es angebracht, sich gemütlich zu unterhalten.
»Bitte sei nicht böse, lass mich noch einige Minuten stehen. Ich saß gerade eine Stunde im Auto«, bat er und betrachtete den Inhalt der Glasvitrine an ihrer antiken Kommode an.
»›Warum wir hemmungslos verblöden‹, ›Einigkeit und Recht und Doofheit‹ und ›Generation Doof‹ – ich habe es gewusst.« Er lächelte versonnen.
»Was hast du gewusst?«, fragte sie nach.
»Das passt. Es passt zu deiner Beschreibung im Profil. Ich bin begeistert.«
Silke stutzte. Okay, fein. Das hätten wir geklärt. Jetzt bin ich dran, dachte sie und startete.
»Na, komm, setz dich jetzt mal und wir unterhalten uns. Immerhin lasse ich dich in mein Haus und kenne noch nicht einmal deinen richtigen Namen.«
Sie wollte lächeln, aber eigentlich auch nicht, denn sie meinte das ernst. Und es saß. Er beendete abrupt seine Vitrinen-Beschau.
»Entschuldige, natürlich hast du recht. Wie unhöflich von mir. Ich bitte, es mir nachzusehen, denn ich bin geflasht.«
Sie setzte sich auf ihre Couch und deutete auf den Platz neben sich. Der Träumer folgte ihr.
»Ich heiße Peter. Peter Meyer.«
Na, das war ja schon mal ein Anfang.
»Schön, angenehm«, versuchte sie, die Situation zu entschärfen und reichte ihm die Hand.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Ja, sehr gern, wenn ich dich begleiten darf. So kann ich wieder ein paar Schritte gehen.«
Er lächelte sein Träumerlächeln.
»Klar, du darfst.«
Gemeinsam gingen sie in die Küche und er half ihr, als sei es das Selbstverständlichste. Es fühlte sich gut an. Silke konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann ihr jemand zum letzten Mal beim Kaffeekochen zur Hand gegangen war. Während der Kaffee lief, holte sie zwei Tassen, Milch und Zucker hervor und stellte alles auf den Couchtisch. Beim Kaffeetrinken schien der letzte Eisbrocken zu schmelzen. Eine Unterhaltung kam in Gang, so vertraut, wie sie es das letzte Mal mit Harry hatte erleben dürfen. Sie schwelgte nicht in Erinnerungen an ihren Mann, sie befand sich im Hier und Jetzt, bei Peter. Beim Träumer. Und träumte mit ihm.
Peter erzählte von sich, der Trennung von seiner langjährigen Lebenspartnerin Beate. Fast dreißig Jahre waren sie zusammen gewesen.
»Ich möchte gleich ehrlich zu dir sein. Ich bin Erwerbsunfähigkeitsrentner.«
Er sah sie erwartungsvoll an. Dachte er, sie würde in Ohnmacht fallen? Silke war so gefesselt von ihm, dass ihr das nichts ausmachte. Warum auch? Was sagten ein Beruf oder ein sozialer Stand schon über einen Menschen aus?
»Du sagst das, als sei es etwas Verwerfliches«, meinte sie und sah ihm tief in seine klaren, blauen Augen.
»Nun ja, offenbar ist es das in dieser Gesellschaft. Du glaubst nicht, wie viele Frauen sich nicht mehr meldeten, wenn ich diese Botschaft verkündete!«
Seine Augen vergrößerten sich, drückten mehr aus, als sein Mund sagte. Sie stutzte kurz. Um gleich darauf dahinzuschmelzen.
»Verstehe ich nicht!« Das war alles, was sie zunächst sagen konnte. »Warum bist du erwerbsunfähig? Magst du es mir erzählen?«
Er mochte.
»Als junger Mann studierte ich, wollte Ingenieur werden. Doch ich schaffte es nicht. Darüber ärgere ich mich bis heute. Dann war ich viele Jahre als Optiker tätig. Irgendwann lief meine Beziehung zu Beate nicht mehr gut, um es vorsichtig auszudrücken. Sie war, mit Verlaub gesagt, eine Bestie. Ich weiß nicht, warum es so war, aber ich konnte mich nie angemessen gegen sie wehren. Sie attackierte mich, nichts war ihr recht; sie beschimpfte mich. So bekam ich Depressionen, die leider über mehrere Jahre anhielten. Aus der Beziehung zu ihr konnte ich mich nicht mehr befreien. Ich war zu schwach. Zunächst ging ich noch arbeiten, immer mal wieder. Dann aber kam der Zeitpunkt, da stellte man eine psychische Erkrankung fest und ich wurde in Erwerbsunfähigkeit geschickt. Keine gute Vita, ich weiß.«
Er senkte den Blick. Silke wurde es heiß und kalt. Sie verstand die Menschen schon lange nicht mehr, aber nun vor allem nicht das Verhalten dieser Beate. Ihr schossen Tränen in die Augen. Oh mein Gott! Sie jammerte um ihr Schicksal und dieser ehrliche und liebe Mann konnte sich gegen eine Frau nicht wehren! Gegen eine Frau! Er war in allem, was er sagte, so klar und kompetent. Und was er alles wusste! Hinter seinem Allgemeinwissen konnte sie sich nur verstecken. Ein kluger Kopf. Er wirkte traurig und sie überlegte, wie sie ihn ein wenig ablenken könnte von seinen Erinnerungen, die ihn bedrückten.
»Darf ich dir etwas zeigen?«, fragte sie ihn und lächelte ihr schönstes Lächeln.
»Ja gern«, antwortete Peter dankbar. Sie ging mit ihm auf den Dachboden, um ihm ihre gemalten Bilder zu zeigen.
»Wow! Die sehen ja wundervoll aus!«, staunte er, schritt zwischen den Bildern umher und bewunderte ausgiebig jedes einzelne, sinnierte halblaut über die Farben und die Pinselführung.
»Leben! Das strahlen deine Bilder aus. Leben und Sinn, ja, sogar Sinnlichkeit!«, rief er begeistert aus. Silke schwebte auf Wolke sieben. Er hatte sie im Sturm erobert, der Träumer.
Im Wohnzimmer angekommen, sagte Peter:
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich meine Gitarre hole und ein wenig spiele?«
»Nein, gar nicht!« Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Er ging kurz zu seinem Auto hinaus und kehrte mit einer außergewöhnlichen Gitarre zurück, einer Minarik Guitar. Silke kannte sich schließlich aus. Die fanden vor allem im Heavy Metal Verwendung. Hut ab! Sein Spiel war eher gewöhnungsbedürftig, passte kein wenig zur Gitarre. Als er kurz unterbrach, sah er sie erwartungsvoll an.
»Und?«
Sie schluckte.
»Gefällt es dir?«
Für den Träumer schwindelte sie.
»Ja, schöööööön! Was ist das eigentlich, was du spielst?«
Das wollte sie schon wissen.
»Ich improvisiere nur. Kennst du Estas Tonne?«
Natürlich kannte sie den. Da kippten die Spirituellen, Yoga-Tanten und Reismilchfanatiker reihenweise um. Sie nicht.
»Ja, den kenne ich.«
Wenigstens war das nicht gelogen.
»Estas ist mein großes Vorbild«, schwärmte er und seine Augen wurden wieder größer, schienen sich im Radius zu verdoppeln. Wie machte er das? Okay, das alles war ein Minuspunkt, aber eben nur einer. Jeder hatte seine Macken.
Als er endlich zu spielen aufhörte und Silkes Ohren zu rauschen begannen, der Kaffee ausgetrunken war und es draußen zu dämmern begann, schwiegen sie. Silke legte ihren Kopf an seine Schulter. Wenige Minuten später neigte Peter seinen Kopf in ihre Richtung. Sie sah zu ihm auf und ihre Lippen fanden sich. Es war besiegelt. Der Träumer und die Träumerin hatten sich gefunden. Peter blieb. Vierzehn Tage lang.