Читать книгу Der will ja mich! - Sylvia Reim - Страница 5
ОглавлениеTag eins
Sie würde sich mit absoluter Sicherheit nicht vierzehn Tage mit Handschellen an einen wildfremden Mann ketten lassen! Ihr Chef musste seinen ohnehin nur mäßig vorhandenen Verstand nun vollkommen verloren haben. Der Typ konnte immerhin Quasimodos kleiner Bruder oder auch ein blutrünstiger Nachfahre von Jack the Ripper sein!
„Das mach ich nicht!“, murmelte Lila und schüttelte dabei so heftig den Kopf, dass sie mit ihrem schwingenden Pferdeschwanz eine Glasfigur vom Regal fegte, diese mit einem Knall auf dem Boden landete und in tausend Teile zersprang.
Nur kurz hatte sich Programmdirektor Leo Klugner durch den Aufprall des Glases ablenken lassen, bevor er seinen Monolog fortsetzte.
„Schau Lila, wir haben die Aktion seit Wochen bei uns auf Sendung beworben, zahlreiche Zeitungen haben darüber berichtet. Wir sind momentan der heißeste Radiosender! Die ganze Stadt wartet mittlerweile darauf, dass wir loslegen, wir können da keinen Rückzieher mehr machen. Keiner konnte ahnen, dass Susanne heute Nacht einen Blinddarmdurchbruch haben würde und damit ausfällt! Das siehst du doch hoffentlich ein!“
Leo Klugner saß zurückgelehnt in seinem schwarzen Drehsessel und wippte vor und zurück. Sein dunkler Anzug saß wie immer völlig korrekt, und nichts deutete darauf hin, dass er auch nur einen Hauch unsicher wäre, sein Ziel zu erreichen. Ihm war längst klar, dass er Lila an der Angel hatte und er diese nur noch einholen musste. Er warf einen weiteren Köder aus.
„Und, Lila, dir ist schon klar, dass du danach ein Star sein wirst? Wir werden täglich bei uns auf Sendung darüber berichten und etliche Zeitungen und auch einige TV-Stationen haben jetzt schon ihr Interesse gezeigt, darüber Beiträge zu bringen. Du wirst also täglich in den Medien präsent sein, das ist mit Geld gar nicht zu bezahlen! Danach bist du ein Star, Lila, ein Star! Willst du das nicht?“ Er beugte sich ein kleines Stück vor und versuchte Lilas Blick festzuhalten.
Warum ich? Lila suchte verzweifelt nach einem Ausweg, war aber nicht imstande, auch nur einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Vor ihr tanzten blitzende Pünktchen einen entfesselten Tango. Hastig kniff sie die Augen zusammen. Sie wollte kein Star sein, sie wollte ihre Radiosendungen moderieren und dabei ein Gesicht haben, das von keinem auf der Straße erkannt wurde. Warum nur hallte das Wort „Star“ so laut in ihrem Kopf?
„Warum kann es denn kein anderer machen?“, stieß sie hervor und versuchte noch einmal das bereits knapp über ihrem Kopf baumelnde Damoklesschwert abzuwenden.
„Ich hab alle, die in Frage gekommen wären, gefragt“, erwiderte der Programmdirektor und konnte dabei nur noch mühsam sein siegessicheres Lächeln unterdrücken, „aber alle anderen haben glaubhafte Erklärungen, warum sie nicht können. Hochzeitstag, bereits gebuchter Türkei-Urlaub, Krankenhausaufenthalt, was weiß ich. Außerdem“, und jetzt gab er seiner Stimme einen etwas dunkleren Ton, „bist du mit deinem hübschen Gesicht die Person, die dafür am besten geeignet ist. Alle fahren ab auf deine langen, blonden Haare und deine unglaublich grünen Augen. Du brauchst nur noch so entzückend zu lächeln, wie du das immer tust, und schon kann dir keiner widerstehen!“ Jetzt grinste er vollends über das ganze Gesicht.
„Schau“, fuhr er fort, „wir haben deinen Handschellenpartner bereits gezogen, er wird in einer halben Stunde hier sein. Wir brauchen dich, du kannst uns nicht im Stich lassen!“
Mit diesen Worten schob er ihr den Vertrag über den Tisch und reichte ihr gleichzeitig den Kugelschreiber. „Unterschreibe, Lila! Es ist deine große Chance!“
Lila fühlte sich wie eine winzige Maus in einer dunklen Ecke, vor der sich eine riesige, fette Katze mit blitzenden Zähnen aufgebaut hatte. Würde er sie feuern, wenn sie sich weigerte? Würde sie ihren heiß geliebten Job verlieren? Wie in Trance nahm sie den Stift und setze ihre Unterschrift unter das Papier.
Ungläubig starrte sie auf ihren Namen. Langsam dämmerte ihr, was sie damit besiegelt hatte: Sie würde zwei Wochen lang Tag und Nacht mit Handschellen an einen wildfremden Mann gekettet sein! Kleine Schweißperlen traten ihr auf die Stirn und ihre goldblonden Haare begannen daran zu kleben. Wieso hatte sie sich so leicht rumkriegen lassen? Warum hatte sie nicht mehr Widerstand geboten? Da tat sie immer so selbstbewusst, und dann ließ sie sich mit den miesesten Tricks einfangen: Wir brauchen dich, du bist die Beste! Da fiel aber auch nur sie drauf rein! Wütend über sich selbst, schmiss sie den Kugelschreiber auf den Tisch.
„Und was passiert jetzt?“, fragte sie resigniert.
„Also hat er dich rumgekriegt“, grinste Jimmy, der Morgenshow-Moderator, als Lila ins Studio kam. „Hast wohl Lust auf zwei Wochen Handschellen? Von dieser Seite kannte ich dich ja gar nicht!“
Lila schickte ihm den giftigsten Blick, den sie vorrätig hatte.
„Halte dich bereit, wir machen gleich einen Live-Einstieg, sobald dein Fesselpartner da ist“! Wieder konnte Jimmy ein Grinsen nicht unterdrücken.
Nervös begann Lila auf ihrer Unterlippe zu kauen.
Ella, die Co-Moderatorin der Morgenshow, kam auf sie zu und umarmte sie mitfühlend. „Aber schau, das ist doch nicht so schlimm! Nach dieser Aktion wird dich jeder in der Stadt kennen, das ist doch eine coole Sache!“ Sie wedelte mit den Armen, um ihre Aussage zu unterstützen, und ihre dünnen Armreifen klirrten dabei. „Außerdem sieht der Typ, den die Assistentin vom Chef ausgesucht hat, auf dem Foto, das er geschickt hat, echt schnuckelig aus.“
Ärgerlich zog Lila ihre Augenbrauen zusammen, sodass eine steile Falte zwischen ihren Augen entstand. Als ob das die Sache besser machen würde! Zwei Wochen in Handschellen waren zwei Wochen in Handschellen! Egal welcher Typ da an sie gekettet werden würde, sie würde ihn zwei Wochen lang Tag und Nacht ertragen müssen. Oh Gott! Ihr fielen Dutzende Dinge ein, bei denen sie garantiert keinen fremden Mann an ihrer Seite haben wollte: Sie würde mit ihm im selben Bett schlafen müssen, irgendwie würde sie duschen müssen, und da war auch noch die Sache mit der Toilette. Wie sollte sie das nur überstehen?
Sie wollte sich gerade ein bisschen in ihre Panik hineinsteigern, als sie Lärm vom Gang hörte.
Eine kleine Gruppe Menschen stand vor der gläsernen Studiowand. Ihr Chef, seine Assistentin, zwei weitere Kolleginnen – beide mit breitem Grinsen – und der Typ, der anscheinend als ihr Spielpartner gezogen worden war. Er hatte Lila den Rücken zugewandt: groß, schmale Hüften, athletische Figur, die nach viel Sport aussah. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger und reichten im Nacken ein Stück über den Kragen, dazu trug er ein schwarzes T-Shirt und lässige Jeans, die am Po doch sehr knackig saßen. Lila ärgerte sich über sich selbst, dass ihr Blick ausgerechnet dort haften blieb.
Als sich die Truppe in Bewegung setzte, stand ihr nerviger Chef so ungünstig, dass er ihr wieder den Blick auf den Mann versperrte, der in wenigen Minuten mit Handschellen an sie gefesselt werden würde. Die Studiotür ging auf und die Gruppe marschierte im Gänsemarsch herein, wobei ihr Chef als Obergänserich als Erster eintrat. Die Anzugjacke hatte er geöffnet, und seine etwas zu lang gebundene, rot gestreifte Krawatte baumelte heftig, als er mit einer weit ausholenden Armbewegung hinter sich deutete. „Schau, Lila, das ist der Mensch, der dir in den nächsten zwei Wochen am nächsten kommt!“
In dieser Sekunde erstarrte Lila zur Salzsäule. Sie erstickte beinahe, ihr Atmen funktionierte einfach nicht mehr. Wild und unrhythmisch hämmerte ihr Herz.
Vor ihr stand David Reichmann.
Sie musste einen Kreislaufkollaps haben, so fühlte es sich zumindest an. Nur mühsam gelang es ihr, nach Luft zu schnappen. So böse konnte es das Schicksal nicht mit ihr meinen! Von all den Menschen auf der großen weiten Welt, warum ausgerechnet der? Es schien ihr unerträglich heiß im Studio. Warum lief die Klimaanlage nie, wenn man sie brauchte?
Auch David Reichmann sah verdammt danach aus, als hätte ihn eben der Blitz gestreift. Sie starrten sich an.
In diesem Moment öffnete Jimmy das Mikro, und das Rotlicht ging an. „Endlich ist es so weit. Seit Wochen warten wir auf den Moment, jetzt ist er da. Meine Kollegin Lila Rauch wird sich für zwei Wochen mit Handschellen an einen wildfremden Mann ketten lassen, und zwar rund um die Uhr. Und das aus gutem Grund: Der Preis für ihren Handschellen-Partner beträgt hunderttausend Euro. Dafür muss er zum einen Lila ertragen …“ Er prustete mit seinem eigenartigen, gackernden Lachen laut los und benötigte ein paar Sekunden, bevor er weitersprechen konnte. Mit dem Handrücken wischte er sich die Lachtränen aus den Augen. „Und zum zweiten werden die beiden mehrere Aufgaben bewältigen müssen, und wir werden selbstverständlich live davon berichten.“
Er wandte sich an David.
„Sag, warum wolltest du denn mitmachen?“
David starrte Lila noch immer an, als wäre sie eine Marienerscheinung. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er antwortete: „Mein Mitbewohner dachte, ich könnte das Geld gut gebrauchen.“ Sein Blick blieb auf Lila kleben.
„Geld können wir doch alle gebrauchen, oder?“, frage Jimmy und war wieder knapp vor einem Lachanfall. „Wofür brauchst du es denn im Speziellen?“
Endlich gelang es David, seine Augen von Lila zu lösen. Er schob sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn und drehte sich zu Jimmy. „Ich studiere Medizin. Wahrscheinlich hatte mein Mitbewohner mein ewiges Gejammer über meine Geldknappheit satt, und darum hat er mich einfach hier angemeldet. Außerdem hofft er wahrscheinlich, dass ich ihm vom Gewinn etwas abgebe.“ David gelang ein gequältes Grinsen.
„Und was sagst du nun zu deiner Handschellen-Partnerin? Hätte schlimmer kommen können, oder?“ Jimmy kicherte bereits wieder los.
„Kaum“, presste David zwischen den Zähnen hervor.
„Wie bitte? Ich hab dich nicht ganz verstanden.“
„Bestens“, murmelte David.
Jimmy drehte sich feixend zu Lila. „Und was ist mit dir? Du sagst ja gar nichts. Hat es dir die Sprache verschlagen? Mit so einem attraktiven Typ hast du nicht gerechnet, oder?“
Normalerweise hatte Lila als Radiomoderatorin keine Hemmungen, in ein Mikrofon zu sprechen, live vor Hunderttausenden Menschen zu reden war ihr Beruf und machte ihr normalerweise auch Spaß. Doch jetzt klebte ihre Zunge pelzig am Gaumen, und sie schaffte es nur mit schier übermenschlicher Anstrengung ihre Lippen zu einem verzweifelten Grinsen zu verziehen. Alle rund um sie warteten darauf, dass sie endlich etwas sagte.
Schließlich versuchte Jimmy die Situation zu retten. „So kenn ich dich ja gar nicht! Sonst hast du doch dauernd die Klappe offen! Aber offensichtlich bist sogar du manchmal sprachlos!“ Wieder donnerte er mit seinem markanten Gepruste los. „Wie auch immer. Ab jetzt geht es los: Gleich werden die Handschellen angelegt, die ihr vierzehn Tage tragen müsst. Unser Reporter Basti wird immer wieder bei euch vorbei kommen, live über euch berichten, und er wird euch auch die Aufgaben bringen. Für hunderttausend Euro kann man schon etwas tun, oder?“ Er zwinkerte David vielsagend zu.
Lila nickte nur, ihr ganzer Körper war völlig taub, wie abgestorben. Sie hätte sich ein scharfes Küchenmesser in den Oberschenkel rammen können, ohne etwas zu spüren.
Leo Klugner trat vor. In seinen Händen hielt er die Handschellen, die im Studiolicht silbrig glänzten: „An welchem Arm möchtest du sie haben, David?“
David reagierte, als ob er sich eben selbst ein Narkosemittel verabreicht hätte. Sein Kopf war gesenkt und seine Antwort so leise geflüstert, dass man sie kaum verstehen konnte. „Ich bin Linkshänder, also ist mir die rechte Hand lieber.“
Lilas Chef nickte, legte David einen Teil der Handschelle um das rechte Armgelenk und ließ sie zuklicken.
Lila zuckte zusammen, als wäre eine Silvesterrakete neben ihr explodiert.
„Bleibt für dich nur noch die linke“, sagte Leo Klugner und fischte bereits unsanft nach ihrem Arm.
Mit einer schnellen Bewegung – die verdächtig danach aussah, als hätte er jahrelang bei der Polizei schwere Jungs festgenommen – legte er Lila den zweiten Teil der Handschellen an und ließ sie zuschnappen. Das „Klick“, mit dem die Fessel einrastete, dröhnte so entsetzlich laut, dass sie beinahe reflexartig die Hände auf die Ohren geschlagen hätte. Nun saß sie endgültig fest. Sie kam sich vor wie ein Tier, das mit einem Bein in einer Falle gefangen war, ohne Chance auf Rettung, völlig hilflos. Was hatte sie nur getan? Tausende Fragen rasten durch ihren völlig verwirrten Kopf: Wie sollte sie das ihren Eltern erklären? Und vor allem, wie sollte sie es Flo sagen? Flo! Wie hatte sie nur eine Sekunde nicht an ihn denken können? Es gelang ihr kaum noch zu atmen.
Wie durch eine dicke Watteschicht hörte sie, wie alle noch einmal über einen von Jimmys Scherzen lachten. Sie hatte gerade noch Zeit, sich ihre Handtasche zu schnappen, und schon wurde sie unter heftigem Winken von Ella aus dem Studio geschoben, weiter zum Senderausgang. Dort öffnete Leo Klugner die Tür, um sie hinauszulassen.
„Also, Lila, wir schicken euch Basti gleich morgen vorbei. Er ruft euch vorher an, damit er weiß, wo er euch findet. Da bekommt ihr dann auch die erste Aufgabe, bis dahin könnt ihr euch näher kennenlernen!“ Er lachte so laut auf, als wäre ihm eben ein preisverdächtiger Witz gelungen.
Noch bevor Lila auch nur einen Pieps von sich geben konnte, krachte die Tür ins Schloss. Die Sonne strahlte, und für einen Maitag war es schon ziemlich warm, doch Lila war plötzlich eiskalt.
Der Parkplatz, auf dem ihr Auto parkte, war gleich schräg gegenüber vom Sender.
„Darf ich wissen, wo du mich gerade hin zerrst?“, fragte David mit einem grimmigen Unterton, als Lila begann, schnurstracks in Richtung ihres Autos zu gehen.
„Wir sind auf einem Parkplatz. Was denkst du denn?“, fuhr sie ihn an.
„Dir ist schon klar, dass wir nur mit meinem Auto fahren können? Außer du möchtest auf meinem Schoß Platz nehmen!“, schnaubte er sie an und versuchte dabei sie in eine andere Richtung zu bugsieren, ohne ihre Hand dabei zu berühren.
Mist! Das hatte sie sich gar nicht überlegt. Er war an ihre linke Hand gekettet, er konnte also nur links von ihr sitzen. Sie mussten tatsächlich sein Auto nehmen. Das fing ja gut an.
„Und wo steht dein blödes Auto?“
Widerwillig ließ sie sich von ihm führen, nicht ohne dabei möglichst gelangweilt hinter ihm her zu trotten, wobei sie mit ihren flachen Riemchensandalen schlürfende Geräusche am Asphalt machte. Als sie vor einem Auto Halt machten und David einen Schlüssel zückte, traf Lila fast der Schlag. „Diese alte Rostlaube ist dein Auto?“
Vor ihr stand ein Fahrzeug von undefinierbarer Farbe, der Rost hatte ganze Arbeit geleistet und die Karosserie war an mehreren Stellen abgeschliffen und verkittet worden, ohne dass sich dann auch noch jemand die Mühe gemacht hätte, diese Stellen zu lackieren.
„Wenn du nicht einsteigen willst, kannst du gerne auch neben mir herlaufen. Ich verspreche dir auch, nicht schneller als fünfzig zu fahren!“, knurrte er und sperrte die Fahrertür auf.
Obwohl sie sich beinahe die Zunge abbeißen musste und bereits ein bisschen Blut in ihrem Mund schmeckte, würdigte sie ihn keines weiteren Kommentars. Sie würde sich einfach nicht auf dieses Niveau herablassen!
Langsam setzte sie sich auf den Fahrersitz und rutsche dann vorsichtig auf die Beifahrerseite hinüber, wobei sie sich zuerst den Kopf am Türrahmen heftig anstieß und sich dann noch einen blauen Fleck an ihrem rechten Knie schlug, als sie versuchte, über die Handbremse zu klettern. Als sie endlich richtig saß, hatten sich einige blonde Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und ihr kurzer gelber Rock war nach oben gerutscht. Hastig versuchte sie ihre leicht gebräunten Oberschenkel etwas weiter zu bedecken. Sie wollte keinesfalls, dass dieser Esel neben ihr auch nur einen Blick in Regionen riskierte, die ihn definitiv nichts angingen. Warum hatte sie auch ausgerechnet heute diesen verflucht kurzen Rock angezogen, wo sie doch sonst meist nur ihre geliebten Jeans trug?
„Und? Was machen wir jetzt?“, frage Lila und starrte dabei geradeaus durchs Fenster, um ihn nicht ansehen zu müssen.
„Ich habe Hunger, und da ich keine Lust habe, mit dir einkaufen zu gehen und zu kochen, werde ich mir einfach einen Burger kaufen.“ Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete, wobei der Motor doch tatsächlich sofort ansprang.
„Sicher nicht!“ Lila konnte man mit Fast Food jagen.
„Sicher doch! Es ist mein Auto, ich sitze hinter dem Steuer und damit ist alles geklärt!“
„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich jetzt in den nächsten vierzehn Tagen nur so Blödsinn esse!“
„Was du isst, ist mir absolut egal, Miss Strawberry“, antwortete er völlig unbeeindruckt, während er aus der Parklücke fuhr.
Entgeistert starrte Lila ihn an. Miss Strawberry? Wie kam er bitte auf die Idee? Sie blickte an sich hinab. Ach so! Sie trug heute ein weißes T-Shirt, auf dem vorne eine große, knallrote Erdbeere prangte. Kopfschüttelnd versuchte sie sich zu beherrschen. Er war es einfach nicht wert, sich so über ihn aufzuregen. Musste sie halt ausnahmsweise dieses völlig ungesunde Fast Food essen, das ihr normalerweise nicht auf den Teller kam. Ihre einzige kleine Ernährungsschwäche waren Gummibärchen, die sie immer in ihrer Tasche hatte und von denen sie täglich mindestens eine Handvoll verdrückte. Und gerade jetzt sehnte sie sich verzweifelt nach zwei, drei Bärchen.
Sie schafften es, unerkannt ihre Bestellungen aufzugeben, doch als sie mit ihren zwei Tabletts, voll beladen mit Burgern, Salaten und zwei offenen Getränkebechern, in Richtung eines Tisches gingen und die Kette der Handschellen dabei leise, klirrende Geräusche von sich gab, sahen bereits die Ersten aufmerksam zu ihnen hinüber.
„Das ist genau das, was ich vermeiden wollte“, zischte Lila David an, der eben versuchte, sich gleichzeitig mit ihr zu setzen, um die vollen Becher nicht zum Kippen zu bringen.
„Das hätte sich das Fräulein früher überlegen müssen“, sagte er, während er bereits begann, seinen Burger auszupacken.
„Ich konnte mir gar nichts überlegen! Ich mach das hier nicht freiwillig!“
„Ach nein? Wie haben sie dich denn dazu gezwungen? Wärst du sonst zu Radio Eriwan versetzt worden?“
Kurz überlegt sie, ihm ihr Getränk samt Eiswürfeln über den Kopf zu leeren. Die nächsten vierzehn Tage würden die Hölle werden, so viel war ihr jetzt schon klar! Eigentlich war sie nur sehr schwer aus der Ruhe zu bringen, aber kaum war sie ein paar Minuten an diesen Mann gekettet, war sie zornig wie ein alter Bär, den man versehentlich aus seinem Winterschlaf geweckt hatte.
David aß seelenruhig seinen Burger und bekam offenbar nichts von ihren Seelenqualen mit. Schon wieder stieg Zorn in ihr hoch. Wieso bitte musste sie sich so ärgern, während ihn das alles offenbar gar nicht tangierte? Lustlos stocherte sie in ihrem Salat.
Als David fertig gegessen hatte, schob er das Tablett mit den leeren Verpackungen von sich. „Und? Wo werden wir die nächsten zwei Wochen wohnen?“, fragte er und lehnte sich zurück.
„Bei mir natürlich!“, antwortete Lila spontan.
„Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Na, wegen Flo!“
„Wer ist Flo? Deine Katze oder was?“
„Nein, Flo ist mein kleiner Sohn Florian. Dem kann ich ja wohl schlecht zumuten, dass er zwei Wochen in einer anderen Wohnung leben muss.“
David setzte sich kerzengerade auf.
„Du hast einen Sohn?“, fuhr er sie an.
„Und was stört dich daran?“
David schnappte gerade nach Luft, um zu antworten, als ihm jemand auf die Schulter tippte.
„Du? Seid ihr die zwei aus dem Radio, die da dieses Spiel spielen?“
Vor ihnen standen zwei Mädels im Alter von etwa dreizehn Jahren, die von einem Bein auf das andere traten und bereits begannen, ihre Handys auf Lila und David zu richten, um ein paar Fotos zu schießen.
„Komm“, rief die eine laut quer durch den Raum und drehte sich dabei, um eine weitere Freundin herzuwinken, „das sind die zwei aus dem Radio, die mit den Handschellen!“
Immer mehr Gäste schauten neugierig zu ihnen, es entstand ein Raunen und Tischgeschiebe, einige standen bereits auf, und schön langsam bildete sich eine immer größer werdende Traube um sie. Plötzlich waren Dutzende Handys auf Lila und David gerichtet, und im Sekundentakt wurden Fotos geschossen.
Obwohl Lila bereits seit einiger Zeit Moderatorin war und es bereits kannte, wenn sie in der Öffentlichkeit von völlig fremden Menschen angesprochen wurde, war sie doch jedes Mal aufs Neue davon überrascht und wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wollte die Leute, die jedes ihrer Worte im Radio verfolgten und sie als echte Freundin betrachteten, nicht vor den Kopf stoßen. Nach einem kurzen Zögern setzte sie sich aufrecht hin und versuchte möglichst professionell in die Kameras zu strahlen.
„Musst du so übertrieben grinsen?“, fuhr David sie an. „Du siehst aus, als würdest du für einen Zahnarzt Werbung machen!“
„Na und? Dafür siehst du aus, als würdest du für ein Bestattungsunternehmen arbeiten!“
„Mir reicht es jedenfalls!“
Als David aufstand, versuchte er erst gar nicht, seine miese Laune zu verbergen. Er bahnte sich mit bestimmten Schritten eine Schneise durch die Menge, ohne dabei nach links und rechts zu sehen, und zog Lila, die dabei den Menschen ringsum freundlich zunickte, an den Handschellen hinter sich her.
Am liebsten wäre sie im Erdboden verschwunden. Wie konnte man nur so unhöflich sein! All die Leute wollten sie einfach nur sehen, sie waren die Attraktion, keiner wollte ihnen Böses. Wenn man keine Aufmerksamkeit wollte, dann durfte man halt nicht bei einem Radiospiel mitmachen, bei dem man klarerweise von der Öffentlichkeit beäugt wurde. So ein Mistkerl!
Obwohl der Verkehr auf dem Weg zu Lilas Wohnung mörderisch war, brauchten sie nicht allzu lange und sie standen vor dem frisch renovierten dreistöckigen Stadthaus, in dem sie und auch ihre Eltern wohnten. Sie im dritten Stock, ihre Eltern im Erdgeschoss, was sich immer als supergünstig erwies, wenn Lila arbeitete oder etwas zu erledigen hatte und Flo einfach schnell zu seinen Großeltern im selben Haus geben konnte.
Lila öffnete gerade die schwere Hauseingangstür, als ihr eine ältere Dame mit einem entenförmigen Hut auf dem Kopf entgegenkam.
„Guten Tag, Frau Lamberti!“, grüßte Lila höflich und versuchte dabei möglichst unauffällig die Handschellen zu verbergen, indem sie Davids Hand schnell hinter ihren Rücken zog. Doch so schlecht Frau Lamberti auch hörte, ihre Augen waren tadellos.
„Was hast du denn da für eine eigenartige Kette an deiner Hand?“, murmelte sie mit ihrer hellen, schon etwas zittrigen Stimme und versuchte dabei einen Blick auf die verborgene Hand zu erhaschen.
Lila fluchte innerlich. Einmal wollte man unerkannt nach oben kommen, und da musste man doch tatsächlich Frau Lamberti in die Arme laufen.
„Das sind nur Handschellen!“, sagte Lila möglichst gleichgültig und hörte dabei selbst, wie eigenartig das klang.
Frau Lamberti war gleich ganz aufgeregt. „Ja, was hast du denn angestellt?“
„Nichts! Das ist nur ein Spiel“. Lila versuchte ihre unbeeindruckte Miene zu bewahren, obwohl sie bereits leicht zu schwitzen begann.
„Mit Handschellen gefesselt zu werden, ist doch kein Spiel!“ Die alte Dame schüttelte verständnislos den Kopf, wobei die kleine Ente auf ihrem Kopf bedrohlich ins Wanken geriet.
Lila war klar, dass es sich für eine achtzigjährige Dame tatsächlich seltsam anhörte, sich vierzehn Tage an einen fremden Mann ketten zu lassen. Und wenn sie es sich genau überlegte, hörte es sich nicht nur für achtzigjährige Damen seltsam an.
„Wie geht es Ihnen denn?“, fragte Lila, um das Thema unauffällig auf ein etwas unverfänglicheres Terrain zu lenken.
„Nein, ich war schon einkaufen!“, rief Frau Lamberti und ging mit ihrem schwankenden Entenhut auf dem Kopf weiter.
Gleich als Lila die Tür ihrer Wohnung öffnete, schlug ihr ein Hauch des blumigen Parfums entgegen, dass sie sich in der Früh aufgesprüht hatte, kurz bevor sie völlig nichts ahnend in den Sender und damit in ihr Unglück gefahren war. Immer noch konnte sie nicht glauben, auf was sie sich da eingelassen hatte. Sie, Lila, die sicher nicht dazu neigte, irgendwelche Kopflosigkeiten zu veranstalten. Und dann das: Handschellen! Das Unangenehmste daran war, dass sie keinesfalls an Davids Hand ankommen wollte. Sorgfältig achtete sie darauf, die circa zwanzig Zentimeter lange Kette der Handschellen immer ein bisschen gespannt zu halten, was nicht leicht war, da sie sich so gut wie nie ansahen und sie somit nicht genau wusste, wie weit seine Hand von ihrer Hand entfernt war. Manchmal waren es nur noch Millimeter, und Lila spürte bereits die Wärme seiner Haut, dann riss sie schnell an der Kette, um das Ärgste zu verhindern. Hatte sie nicht noch Desinfektionstücher im Bad? Die hatte sie besorgt, als Florian einmal eine üble Magen-Darm-Geschichte gehabt hatte. Mit diesen Tüchern konnte sie sich nach jeder Berührung ihre mit Reichmann’schen bösen Bakterien verseuchte Hand abwischen. Kurz überlegte sie, verwarf es dann aber fürs Erste wieder.
Während der Fahrt hatte David seinen Mitbewohner angerufen und ihn gebeten, ihm ein paar Sachen in einen Koffer zu werfen. „Egal welche, die Sache hier will ich einfach so schnell wie möglich hinter mich bringen.“
Wer da was hinter sich bringen wollte! Lila starrte gerade in Richtung ihrer offenen Schlafzimmertür und wollte den Gedanken, der sich dabei auftat, gar nicht zu Ende denken. Sie – mit dem – in einem Bett! Er hatte bestimmt die Krätze oder eine andere ekelige Krankheit. Warum hab ich blöde Nuss mich auch darauf eingelassen? Zum ungefähr tausendsten Mal stellte sie sich diese Frage, und das, obwohl sie erst knapp drei Stunden an ihn gekettet war.
Sie begann gerade damit sich zu überlegen, wie sie tatsächlich schlafen sollten, als es an der Tür klopfte.
Vor der Tür stand Christoph, Davids Mitbewohner, und brachte ihm den Koffer. „Mach’s gut, Alter! Du schaffst das schon! Du musst da einfach durch, denk an die Knete!“, sagte er und drückte David dabei so fest, als würde der in den Krieg ziehen.
Lila kannte Christoph noch von der Schule. Er war nicht allzu groß, etwas mollig, und seine welligen dunklen Haare hingen ihm immer ein bisschen über die Augen. Obwohl er seit Ewigkeiten mit David befreundet war, war er in der Schule immer ganz nett zu ihr gewesen.
„Fräulein Rauch“, grüßte er grinsend in ihre Richtung und zwinkerte zunächst ihr und dann David zu.
Was sollte das? Was gab es da geheimnisvoll zu zwinkern? Auch David bedachte ihn mit einem Kopfschütteln und schob ihn sanft zur Tür raus.
„Werd’s schon überleben“, sagte er, „und schau, dass unsere Wohnung in den vierzehn Tagen, in denen ich nicht da bin, nicht endgültig zum Schweinestall wird.“ David kannte seinen Mitbewohner wohl, denn der zog entschuldigend seine Schultern hoch und verstärkte sein Grinsen.
„Mach ich!“, rief er und warf die Tür ins Schloss.
„Wohin damit?“, fragte David und hob den Koffer hoch.
„Am besten zum Fenster raus“, ätzte Lila und meinte es tatsächlich ernst.
„Mach ich, mir egal. Wenn ich allerdings deine alte Dame treffe und ihr damit die Ente vom Kopf fege, zahlst du das Schmerzensgeld!“ David schaute sie herausfordernd an.
Sie wollte gerade kontern, von wegen, mit diesem alten Pappkoffer konnte man nicht einmal aus dem dreißigsten Stock ein Küken plattmachen, als es wieder klopfte.
Lila zerrte David, der den Koffer einfach mitten im Zimmer stehen ließ, mit sich zur Tür.
Blöderweise hatte sie vorher keine einzige Sekunde darüber nachgedacht, wer denn da vor der Tür stehen konnte, und so traf sie fast der Schlag, als sie das Gesicht ihrer Mutter sah. Und Florian.
Lilas Mutter trug Jeans und eine Wickelbluse, über die sie einige bunte Ketten geschlungen hatte. Ihre kurzen mittelbraunen Haare waren zerzaust und vorne mit etwas Gel aufgestellt. Das Markanteste an ihr waren aber ihre etwas schrägen grünen Augen, die denen von Lila verdammt ähnlich sahen. Und genau diese grünen Augen starrten Lila entsetzt an. Barbara Rauch hatte eben ansetzen wollen, etwas zu sagen, als sie David knapp hinter Lila stehen sah. In der Sekunde wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.
Florian stand einfach nur da und schaute interessiert auf den fremden Mann, der da hinter seiner Mama stand.
Was hab ich ihm bloß angetan? Was soll er nur im Kindergarten erzählen? Meine Mama ist an einen fremden Mann gefesselt? Lila war plötzlich unendlich verzagt.
„Wer ist das, Mama?“, fragte Florian völlig unbefangen und kam dabei langsam auf sie zu, die blauen Augen hinter seiner Brille weit aufgerissen. Mit einer Hand schob er sich eine lästige blonde Strähne aus dem Gesicht, um den Mann, der da bei seiner Mama stand, näher begutachten zu können.
Lila hockte sich hin und drückte ihn an sich, wobei die Handschellen unangenehm laut rasselten.
„Also, Florian Schätzchen, das ist so …“ Sie suchte nach den richtigen Worten, die ihr überhaupt nicht einfallen wollten. „Also, bei mir im Radiosender haben wir uns ein lustiges Spiel ausgedacht. Ich soll mit dem Mann hinter mir vierzehn Tage lang mit diesen Ketten – sie klapperte etwas mit den Handschellen – zusammengebunden sein. Und wenn wir das schaffen, dann gewinnt der Mann viel Geld. Verstehst du?“
„Und was bekommst du?“, fragte Florian und starrte dabei weiter den fremden Mann hinter seiner Mama an.
Mit dieser Frage hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Was bekam sie? Du bist danach ein Star! Das hatte ihr Chef zu ihr gesagt, aber wollte sie das überhaupt? Wieder fragte sie sich, wie sie so dumm sein konnte, sich auf diesen Deal einzulassen. „Na, komm schon, Florian“, setzte sie etwas verzweifelt an, „es wird sicher lustig!“
Als Lila den Kopf ein Stück hob und direkt in das Gesicht ihrer Mutter blickte, war sie sich mit einem Mal ganz sicher, dass die das ganz und gar nicht lustig fand.
Barbara Rauchs Gesicht war völlig versteinert, und ihre Lippen waren zu einem so dünnen Strich zusammengekniffen, dass sie beinahe verschwanden.
„Wieso er?“, fragte sie, und ihre sonst so weiche und melodische Stimme, mit der sie während ihrer Arbeit als Psychologin immer sanft mit ihren Klienten sprach, klang plötzlich scharf wie eine noch nie verwendete Rasierklinge. Lila fröstelte. Ihre Mutter war eine durch und durch intelligente Frau, die gerne hinter die Dinge sah und mit der man über alles reden konnte, doch beim Thema Reichmann war sie wie verwandelt.
„Er ist gezogen worden, ich wusste es nicht“, flüsterte Lila und kam sich dabei wie ein Schulkind vor, das von seiner Mutter gerüffelt wurde, weil es seine neue weiße Bluse verdreckt hatte.
„Und das willst du vierzehn Tage durchziehen?“
Lila senkte ihren Kopf noch ein Stückchen. „Ich habe einen Vertrag unterschrieben“, sagte sie, und ihre Stimme war dabei nur noch ein Hauch.
„Wie du meinst.“ Barbara Rauch warf David einen Blick zu, der Conan dem Barbaren alle Ehre gemacht hätte.
Reflexartig zuckte Lila zusammen, so als hätte sie sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. Ihre Mutter bückte sich, drückte Florian einen Kuss auf den Kopf und stapfte davon, ohne Lila noch einmal anzusehen.
Niedergeschlagen sah Lila ihr nach. Ihr war klar, dass sie mit dieser Aktion ihre Mutter das erste Mal in ihrem Leben so richtig vor den Kopf gestoßen hatte. Der Name Reichmann wurde bei ihr zu Hause niemals ausgesprochen, und wenn man sich auf der Straße traf, wechselte man hastig die Seite. Lila war schon damit aufgewachsen, dass die Reichmanns tabu waren. Sie wusste nur, dass ihre Mutter früher mit Davids Mutter befreundet gewesen war, bis etwas vorfiel, das ihre Freundschaft schlagartig in Feindschaft hatte umschlagen lassen. Den genauen Grund kannte Lila nicht, und sie traute sich auch nicht danach zu fragen, da jede noch so kleine Andeutung in diese Richtung von ihrer Mutter mit stoischer Miene abgewimmelt wurde. Sie hatte von Kindheit an eingebläut bekommen, an die Reichmanns nicht anzustreifen. Schon in der Schule, als David zwei Klassen über ihr war, war sie ihm immer aus dem Weg gegangen, hatte absichtlich einen anderen Schulweg gewählt, wo sie ihm garantiert nicht begegnen würde. Und wenn sie aus einem unglücklichen Zufall heraus tatsächlich einmal auf dem Schulhof mit David Reichmann zusammentraf, so warf sie ihm, mit all ihrer kindlichen Macht, ihren bösesten Blick zu, der auch prompt von ihm retourniert wurde. Und jetzt hatte sie sich an ihn ketten lassen! Ihre Mutter würde ihr das in tausend Jahren nicht verzeihen! Sie seufzte.
Florian stand immer noch da, mit seinem kleinen, bunt bedruckten Kindergartenrucksack in der Hand, und starrte David an.
„Hast du auch ein Kind?“, fragte er und schob sich dabei die Brille auf seiner Nase ein Stück nach oben.
„Nein“. Davids Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„Hast du eine Frau?“ Florian wollte es ganz genau wissen.
„Nein“.
„Willst du keine?“ Florian war diese Frage ganz und gar nicht peinlich. Lila hingegen schon.
„So, es genügt jetzt. Du wirst David in den nächsten zwei Wochen noch zur Genüge kennenlernen. Frag ihm jetzt kein Loch in den Bauch!“ Sie wuschelte ihm durch seine blonden Haare. „Du könntest ihm aber helfen, seinen Koffer auszuräumen. Mal sehen, wo wir Platz für seine Sachen haben!“ Dabei warf sie David einen feindseligen Blick zu.
Florian war begeistert. In Windeseile hatte er den Koffer geöffnet und legte die Sachen ordentlich an den Platz, den Lila ihm zurief. Er lief kreuz und quer durch die Wohnung, wobei ihm immer wieder seine lose sitzende Jeans ein Stückchen hinunterrutschte und er sie erst hastig wieder nach oben ziehen musste, bevor er weiterlaufen konnte. Schließlich war er fertig.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte er keuchend und strahlte David mit seiner Zahnlücke an, doch der reagierte überhaupt nicht.
Was war mit dem Mann nur los? Dass er sie ignorierte und wie Luft behandelte, war ihr nur recht, aber dass er ihren kleinen Sonnenschein in ihre Fehde mit hineinzog, war dann doch zu viel. Am liebsten hätte Lila ihn ordentlich in die Rippen geknufft, doch dazu hätte sie den Unberührbaren berühren müssen, was zur Folge gehabt hätte, dass sie sich rituellen Waschungen unterziehen musst, und das wollte sie dann doch vermeiden.
„Komm, wir machen uns etwas Gutes zu essen“, sagte sie zu Flo, um ihn abzulenken. Ohne David auch nur eines winzigen Blickes zu würdigen, nahm sie die kleine Hand ihres Sohnes und zog ihn in die Küche.
Mit straff gespannter Kette und einem Gesicht, als würde er an einem landesweiten Wettbewerb für belangloses Schauen teilnehmen, trottete David neben ihr her.
Während sie Zucchini und Paprika klein schnippelte, kniete Florian neben ihr auf einem Hocker und erzählte ihr aufgeregt haarklein jedes Detail, das ihm über seinen Kindergartentag einfiel: Er hatte beinahe sein volles Glas mit Himbeersaft umgeworfen, und seine Freundin Marina war von einer bösen Biene gestochen worden und hatte daraufhin gebrüllt, als ob sie in einen ganzen Bienenschwarm geraten wäre! Mit wild fuchtelnden Armen unterstrich er seine Erzählung, und dabei schielte er immer wieder verstohlen zu David.
Der stand neben ihnen und tat nach wie vor so, als würde ihn das alles nichts angehen, was sehr lustig aussah, da er die angekettete Hand wegen der kurzen Kette auf dem Schneidbrett liegen hatte. Lila überlegte kurz, ob sie ihn nicht – versehentlich selbstverständlich – ein bisschen mit ihrem scharfen Küchenmesser in einen seiner gepflegten, langen Finger schneiden sollte. Sie ließ es dann aber sein, weil sie sich ihr bereits geschnittenes Gemüse nicht mit seinem Blut verderben wollte.
David hatte seine freie Hand tief in seiner Hosentasche vergraben und schaute dabei gelangweilt in die blubbernde Pastasoße.
Nach ein paar Minuten vermischte Lila die gekochten Spaghetti mit der nach frischem Basilikum duftenden Soße, Flo nahm den geriebenen Parmesan, und sie setzten sich zu Tisch. Lila beglückwünschte sich dazu, Spaghetti gekocht zu haben, denn die konnte man locker mit einer Hand aufrollen, was bedeutete, dass sie sich nicht mit David ein wildes „Wer darf zuerst schneiden“-Rennen liefern musste. Neidvoll musste sie anerkennen, dass David die hohe Kunst des Spaghettiwickelns perfekt beherrschte, während bei ihr doch die eine oder andere mit Soße getränkte Nudel an ihrem Kinn abprallte und dort unschöne rote Spritzer hinterließ. Florian hatte so und so seine eigene Technik: Er hatte sich die Nudeln in winzig kleine Stücke geschnitten, sodass sie beinahe wie Püree aussahen, und löffelte nun fröhlich vor sich hin, wobei sich doch ein nicht geringer Teil der roten Soße bis zu seinen Ohren hin ausbreitete, was ihn – wie Lila fand – ganz entzückend aussehen ließ.
Bereits während des Essens musste Flo mehrere Male gähnen.
„Ich glaub, da ist jemand müde“, neckte ihn Lila, die Sorge hatte, Flo würde gleich vor lauter Müdigkeit kopfüber in seine Spaghetti klatschen.
Widerstandslos ließ er sich ins Badezimmer führen, putzte sich dort die Zähne, wusch sich sein Gesicht – um das Soßenmassaker auf seinen Backen zu beseitigen – und schlüpfte in seinen dunkelblauen, mit kleinen Autos bedruckten Pyjama. Dann düste er in Richtung Toilette, um vor dem Schlafengehen noch schnell mal zu gehen.
Die Toilette! Schlagartig fiel auch Lila wieder ihre Misere ein. Wie sollte sie nur die Toilettenfrage lösen? Gemeinsam mit David auf die Toilette zu gehen, kam überhaupt nicht infrage, da würde sie lieber an geplatzter Blase sterben. Irgendwie musste sie es schaffen, einen Spalt an den Rand der Toilettentür zu machen, um dort die Kette durchlaufen zu lassen und die Tür schließen zu können. Das war die Idee! Sie hatte noch einen alten Leatherman mit kleiner Säge in der Küchenlade liegen. Vor lauter Begeisterung über ihre Idee stürzte sie so hastig los, dass sie dabei David – der gerade gelangweilt am Türstock lehnte – fast umgerissen hätte.
„Könntest du dich vielleicht ein bisschen unter Kontrolle bringen?“, herrschte er sie an, als er es gerade noch schaffte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Seine haselnussbraunen Augen blitzten sie zornig an.
Lila freute sich, dass auch er endlich einmal wütend war und sie ihn von seinem „Mir ist alles egal“-Getue abgebracht hatte. „Ach, komm einfach mit“, fauchte sie ihn an.
Schnell hatte Lila den Leatherman gefunden, lief zur Toilettentür und überlegte sich, wo sie den Spalt ansetzen sollte. Wahrscheinlich war es auf Höhe der Klinke am besten. Sie klappte das Sägemesser aus, setzte es am Rand der Tür an und begann zu sägen, wobei es sie schmerzte, eine Kerbe in ihre schöne restaurierte Kassettenholztür schneiden zu müssen. Das musste später ein Tischler irgendwie wieder reparieren. Sie hoffte, dass das ging.
Irgendwie hatte sie es sich leichter vorgestellt. Mühsam schob sie die Zähnchen der kleinen Säge ruckartig hin und her. Doch das Ergebnis war ernüchternd: Nachdem sie gute zehn Minuten schweißtreibenden Sägens hinter sich hatte, sah es so aus, als wäre jemand versehentlich mit dem Fingernagel abgerutscht. Von Spalt keine Spur.
„Das gibt’s doch nicht!“, fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Sie schwitzte, als wäre sie mitten in den Tropen, und ihr Strawberry-Shirt klebte unangenehm an ihrem Körper.
Florian stand neben ihr und schaute ihr interessiert zu. Es geschah nicht alle Tage, dass seine Mama ein Loch in eine Tür sägte. Er war begeistert. Wieder eine Geschichte, die er morgen im Kindergarten erzählen konnte, auch wenn sie ihm vielleicht keiner glaubte.
Lila keuchte und riss das Sägeblatt wild hin und her und je länger sie die Säge durch das Holz trieb, umso wütender wurde sie auf den Mann, der da neben ihr stand und wieder sein „das geht mich nichts an“-Gesicht auf hatte. Zornig starrte sie auf seine Oberarmmuskeln, die ziemlich trainiert aussahen. Wahrscheinlich wäre es für ihn ein Klacks, das Miniloch in die Tür zu sägen, aber er rührte kein Ohr. Auch gut! Sie würde es auch alleine schaffen, selbst wenn sie dafür ihren letzten Fingernagel opfern musste!
Nach rund dreißig Minuten heftigen Sägens und einer abartig großen Blase auf ihrem Zeigefinger war es erledigt: Lila hatte eine so große Kerbe in den Türrand geritzt, dass die Kette durchpasste und sie nun Pipi gehen konnte, ohne dass David neben ihr stand. Ihr fiel eine wahre Steinlawine vom Herzen: Diese alles überragende Peinlichkeit musste sie also nicht über sich ergehen lassen.
Sie wollte ihre neue Errungenschaft gleich ausprobieren.
„Du bleibst hier draußen“, fuhr sie David an, „und du singst etwas.“ Er sollte schließlich keinerlei Pipi-Geräusche hören.
„Ich weiß ja nicht, welche Toilettenrituale du normalerweise hast, aber ich pflege dabei nicht zu singen.“
„Du sollst ja nur singen, damit du nichts hörst!“ War er denn so schwer von Begriff?
„Ich singe nicht.“
„Halt dir zumindest die Ohren zu!“ Das konnte doch nicht so schwer sein.
Er schüttelte nur den Kopf, wobei Lila ihm ansah, dass er es genoss, sie zu ärgern, da sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
Warum hatte sie ihm vorher nicht die Nasenspitze abgesägt?! In Lila tauchten blutrünstige Nasenspitze-absäge-Szenen auf, die dem Film „Das deutsche Kettensägenmassaker“ alle Ehre gemacht hätten. Was war nur mit ihr los? Sonst war sie die Friedlichkeit in Person, und kaum war diese Person an ihrer Seite, mutierte sie zu Lila the Ripper.
Florian rieb sich schon die Augen, und es war auch höchste Zeit, ihn ins Bett zu bringen, sonst würde er am nächsten Tag wieder ewig brauchen, um aus den Federn zu kommen.
Bevor Lila das Licht in seinem Zimmer abdrehte, gab es noch ihre übliche Einschlafzeremonie. Sie küsste Flo fünfmal auf jede Wange und gab ihm schließlich noch einen fetten Schmatz auf die Nase, dann drückte sie ihn ganz fest.
„Ich hab dich lieb, Flöhchen! Schlaf gut!“
„Ich hab dich auch lieb, Mama!“, flüsterte er, und obwohl er es immer noch spannend fand, dass heute ein fremder Mann in Mamas Bett schlafen würde, drehte er sich sofort um, presste sein Kuscheltier Froschi fest an sich und schlief beinahe auf der Stelle ein.
Auch Lila merkte plötzlich, wie erschöpft sie war; der Tag hatte das Letzte von ihren sonst sehr guten Nerven abverlangt. Sie wollte sich nur noch schnell die Zähne schrubben, duschen würde sie morgen. Wobei sie null Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte, ohne dass David sie nackt sah. Sie musste sich für ihren sportlich trainierten Körper zwar keinesfalls genieren, aber David brauchte ihn nicht zu Gesicht zu bekommen. Das ging ihn nun wirklich nichts an! Nicht dass er auf irgendwelche eigenartigen Gedanken kam. Vierzehn Tage waren lang. Sie hoffte darauf, dass ihr morgen schon irgendeine Lösung für ihr Duschproblem einfallen würde.
Sie drückte etwas Zahnpasta auf ihre Zahnbürste und begann zu putzen, und zwar so heftig, dass sie David einen Stoß mit ihrem Ellenbogen gab, womit sie ihm beinahe den Vorderzahn ausgeschlagen hätte.
David stand neben ihr über das Waschbecken gebeugt und hatte jede Menge Schaum vor dem Mund. „Pass auf“, murrte er los, „ich würde gerne alle meine Zähne behalten!“
Lila zuckte nur mit den Achseln. War ihr doch egal, mit wie vielen Zähnen er nach Hause ging, solange er überhaupt ging und auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwand.
Ihr war eigenartig zumute, als sie ins Schlafzimmer kamen. Das Fenster war geöffnet, es roch nach frischer Mailuft, und, als ob sie es geahnt hätte, hatte sie in der Früh noch schnell die weiße überzogene Bettdecke zurückgeschlagen und ihre schmutzige Wäsche in den Korb geworfen. Unauffällig kontrollierte sie, ob nicht doch ein alter Socken unter dem Bett lag, aber es war alles tadellos. Es war ihr Lieblingsraum, asiatisch eingerichtet, mit nur wenigen, hellen Möbeln. Hier fühlte sie sich geborgen und sicher, es war ihr Rückzugsort, wenn sie genug hatte von der Hektik der Welt und dringend etwas Ruhe brauchte. Dieses Zimmer gehörte nur ihr und Florian, sonst niemandem. Und nun führte sie den Feind mitten in ihr Heiligstes! Da würde der kleine goldene Buddha in der Ecke energetisch auch nichts mehr ausrichten können; die miesen Schwingungen, die David einschleppte, konnte wahrscheinlich nicht einmal seine Heiligkeit der Dalai Lama höchstpersönlich neutralisieren!
Normalerweise machte Lila es sich in der Mitte ihres großen Doppelbettes bequem – und zwar alleine –, doch nun musste sie ihr geliebtes Bett teilen. Widerwillig legte sie ihr Kissen auf die rechte Seite. Kurz überlegte sie, David keine Decke zu geben; sollte er doch frieren. Doch dann fiel ihr ein, dass er sich dann wahrscheinlich einen Schnupfen holen würde und sie dann vierzehn Tage mit einem leidenden Mann an der Seite verbringen musste, und das stellte sie sich als absolute Strafverschärfung vor.
Sie zupfte gerade an ihrem Erdbeer-Shirt, um es sich über den Kopf zu zerren, als sie merkte, dass sie es gar nicht ausziehen konnte, ohne eine Seite aufzuschneiden. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht! Es war ein neues Shirt, und das würde sie keinesfalls zerschneiden! Auch David starrte ein wenig ratlos auf die Handschellen.
„Basti muss uns morgen früh kurz aufsperren. Wir können schließlich nicht vierzehn Tage mit demselben Shirt herumlaufen“, sagte sie gähnend und drehte dabei das Licht auf ihrem Nachtkästchen ab.
Im Dunklen schlüpfte sie aus ihrem Minirock und zog sich ihre gestreifte Pyjamahose über. Sie hörte, wie sich David neben ihr die Jeans auszog, den Polster aufschüttelte und sich hinlegte. Das Bett sank ein wenig ein. Lila strecke den Arm mit den nervigen Handschellen so weit wie möglich von sich weg: Sie wollte schließlich nicht von dem Ekelpaket neben ihr kontaminiert werden. Es genügte schon, dass sie nach diesen vierzehn Tagen ihr schönes Bettzeug würde wegschmeißen müssen.
Eigenartig, dachte sie. Lange schon hatte sie sich nach einem Partner gesehnt, wollte einen Mann neben sich haben. Und dann war es endlich so weit, und es musste ausgerechnet der Mensch sein, den sie sich ans andere Ende der Welt wünschte und nicht in ihr Bett.