Читать книгу Mädchen oder Junge? Das Geschlechterlabyrinth - Sylvia Rosenkranz-Hirschhäuser - Страница 5

Teil I Ich bin ein Mädchen

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Meine persönliche Entwicklung in meine Rolle als Frau

Mein erster Kontakt mit dem Thema fand in meiner frühesten Kindheit statt, im Grunde vor meiner Geburt.

Irgendwann hörte ich damals meine Mutter zu einer anderen Frau sagen:

Ich wollte kein drittes Kind mehr, weil ich Angst hatte, es wird wieder ein Mädchen.

Als ich diese Worte hörte, erschrak ich.

Mein Vater war Unternehmer, führte eine Fabrik und wünschte sich einen ‚Nachfolger’.

Unausgesprochen stand der Wunsch nach einem ‚Stammhalter’ für Name und Firma jahrelang im Raum.

Ein Jahr nach meiner Geburt kam meine Schwester zur Welt. Wieder ein Mädchen.

Ich bin gerne Frau und froh darüber, eine zu sein. Ich wollte als Kind immer Mädchen sein und vermisste nichts. Das würde ich auch im Rückblick heute noch gleichermaßen behaupten. Dennoch gibt es eine andere Erinnerung, die fest in mir verankert ist, deren Gefühl ich jederzeit wieder aufleben lassen kann, von dem ich heute noch nicht sagen kann, woher es rührt .

Innerlich wünschte ich mir jahrelang einen ‚großen Bruder’. Diesem starken kontinuierlichen Bedürfnis forschte ich nach, was bedeutete es für mich und warum hegte ich diesen Wunsch und kam erst sehr spät davon ab?

Es muss mit einer omnipotenten Männlichkeitsvorstellung zu tun gehabt haben.

Von einem großen Bruder kann ich viel lernen, dachte ich, er kann so viel, was ich nicht kann. Ich würde zu ihm aufschauen, ihn bewundern und er würde mir helfen können. Solche oder ähnliche gedankliche Phantasien müssen mich als Kind bewegt haben, einen Bruder zu idealisieren. Es entsprang einem Anlehnungsbedürfnis, einem Wunsch nach Sicherheit und Aufgehobensein, das mir mein Vater nicht erfüllen konnte. ‚Mit einem großen Bruder bin ich auch groß’, so mein Allmachtsstreben.

Die Irrealität war mir nicht bewusst und auch nicht wichtig, ich trauerte einfach innerlich immer ein wenig um die nicht erlebbare Situation. Einen ‚kleineren Bruder’ zu bekommen, war mir ein völlig fremder Gedanke und damit Beweis für mich, dass die ‚Brudertheorie’ ein psychischer Stabilisierungsgrund meiner Kindheitsseele war.

Mit meiner Identität als Mädchen war ich stets zufrieden, ich benahm mich teilweise jungenhaft, trug aber gerne ‚schöne Kleidchen’ und achtete schon früh auf Geschmack und Ästhetik.

Puppen mochte ich nicht sehr, spielte nicht oft mit ihnen, spielte viel lieber mit Tieren. Ich war kein ‚richtiges’ Mädchen, aber auch kein ‚echter’ Junge.

Bei den Spielen bestimmte ich auch am liebsten und ‚kommandierte die anderen’, wie meine Mutter behauptete.

Dominanz im Umgang mit Freundinnen und Freunden wurde mir schon sehr früh nachgesagt. Ich hatte einen starken Willen, wusste ihn einzusetzen und ließ mich nur wenig beeinflussen.

Trotz meines kindlichen Bedürfnisses nach einem starken großen Bruder fühlte ich mich Jungen zu keinem Zeitpunkt unterlegen.

In der Schule hatte ich enge Freundinnen und ein gutes Verhältnis zu Jungen.

Ich war akzeptiert und ein bisschen wurde ich von manchen bewundert, weil ich als couragiert und mutig galt, was mir selbst nicht so recht bewusst war in diesem Alter.

Innerlich fühlte ich mich nicht so wie ich äußerlich wirkte.

Außerhalb der Schule verbrachte ich meine Freizeit in einer Clique, in der ich phasenweise das einzige Mädchen war und wenn nicht, wechselten die anderen Mädchen in der Form, dass sie Freundin eines Jungen aus der Clique waren oder nicht, dann verschwanden sie wieder, während ich einen festen Platz in der Gruppe hatte, weil ich lange Jahre mit einem der Gruppenmitglieder befreundet war.

Ich war gerne mit Jungen unterwegs, war für alle Aktionen zu haben und benahm mich so, dass die Jungen zwischen Bewunderung und Sympathie schwankten. Einige fanden mich wohl auch recht attraktiv, aber ich war kein Mäuschen, das sich kuschelte oder ein Mädchen mit hilfesuchendem Augenaufschlag. Heute würde vielleicht der Ausdruck passen, ich war tough.

Mein Studienfach, Veterinärmedizin, entsprach eher männlichen Ambitionen, obwohl schon zu Beginn der 70er Jahre viele Studentinnen die Fakultät mit Engagement und Erfolg besuchten. Meine Motivation zu diesem Studium war falsch interpretierte Tierliebe, sie reichte für drei Semester bis ich zur Pädagogischen Hochschule wechselte und Grundschullehrerin wurde. Nun war ich im ‚typisch’ weiblichen Studienfach angekommen. Gründe für den Wechsel lagen allerdings nicht im weiblichen Betreuungs- und Versorgungsinstinkt, sondern waren ganz pragmatischer und finanzieller Natur: ich wählte den einfachsten und schnellsten Weg, Geld zu verdienen. Dass ich damit gleichzeitig einen interessanten, herausfordernden und mich sehr zufrieden stellenden Beruf ergriffen hatte, stellte ich für mich erst Jahre später fest.

Wir lebten ein bisschen im life-style der 68-er Generation in einer Kleinstadt im ländlichen Raum, unternahmen Motorradtouren, ich als Sozia (später machte ich meinen Motorradführerschein), zelteten an Wochenenden an ruhigen Seen, später reiste ich mit meinem damaligen Partner im uralten ausgebauten Hanomag-Bus bis Asien, eine abenteuerliche Zeit, in der es gefahrvolle, ungewöhnliche Situationen zu bewältigen gab, in denen Ängstlichkeit fehl am Platze und eine robuste körperliche Konstitution gefordert war. Wir wechselten uns mit Auto fahren ab und ich steuerte den Bus durch indische Basare und an Wasserbüffeln, Rikschafahrern, Fußgängern und Kühen und Hühnern vorbei.

Wir erlebten eine Reise, die Männern wie Frauen gleichermaßen viel abverlangte.

Ich hatte mich vom Mädchen zur Frau entwickelt und genoss ich es, als Mädchen von Jungen akzeptiert und bewundert zu werden, so genoss ich als junge Frau ebenso die Anerkennung von Männern. Ich fühlte mich als Frau beachtet und geachtet und fühlte mich Männern gleichwertig. Eher hatte ich zu dieser Zeit das Empfinden, als Frau den besseren Part erwischt zu haben, im Nachhinein betrachtet aus recht banalen Gründen, die andererseits Basis positiver Lebensgefühle sein können und somit in recht simpler Form Zufriedenheit bedeuten. Ich fand es zum Beispiel schön, mich nett zu kleiden, hatte Lust und Freude an gutem Aussehen ohne einer Modepuppe zu gleichen und dachte, schade, Jungen können so etwas nicht, die interessieren sich nicht dafür.

Ich genoss es auch, einige mir unliebsame Dinge gerne Jungen zu überlassen, zum Beispiel Schränke aufbauen und Reifen wechseln.

Dass ich später, um emanzipiert zu sein, das Gegenteil beweisen wollte, nämlich: ich kann auch Reifen wechseln und Regale aufbauen, war zu meiner Jugendzeit noch nicht absehbar und diese ‚emanzipierte Einstellung’, ich muss alles können, was Jungen können, hat sich im Laufe der Jahre auch wieder verändert, und ich konnte und kann heute ausgesprochen gut beim Reifenwechseln und Schränke aufbauen zugucken und froh sein, es nicht selbst machen zu müssen. Die Ambivalenzen in meiner Haltung führten unter anderem zur vorliegenden Auseinandersetzung und Reflexion mit dem Thema.

Wenn ich die verschiedenen Gefühle, Verhaltensweisen und Handlungen, die mosaikartig in mir aneinandergereiht, eher durcheinander gewürfelt, sind, entsteht ein diffuses Bild:

Ich sollte von meinen Eltern aus Junge sein – ich bin Mädchen und fühle mich in meiner Mädchenrolle (unbewusst) wohl – ich bin als Mädchen dominant und verhalte mich nicht ‚typisch’, spiele nicht ‚nur’ Mädchenspiele (aber auch, z.B. Rollenspiele), ich spiele nicht gerne mit Puppen, ich brumme aber auch nicht gerne mit Autos herum, klettere auf Felsen, auf Bäume (aber schlecht), wünsche mir aber einen ‚großen Bruder’, der mich beschützt und den ich bewundern kann- ich achte auf ‚gutes, schickes Aussehen’, fühle mich wohl in der Rolle, von Jungen beachtet zu werden, fühle mich auch geschmeichelt, wenn sie mich für manche ‚mutige’ Tat bewundern, will ihnen aber auch in nichts zurückstehen: bei Kälte sich ins Wasser wagen, feiern bis zum Ende, kleine Illegalitäten mittragen, eben so sein wie Jungen – ich fahre auf dem Motorrad mit, aber mich interessiert kein Motor, ich zelte gerne in der Clique am Lagerfeuer und singe, aber ich baue nicht gerne ein Zelt auf, sondern schaue lieber zu. Ich helfe meiner Mutter nicht gerne in der Küche, sondern verlasse sie nach dem Essen fast fluchtartig, ich koche bis heute nicht gerne. Ich habe mich noch nie freiwillig handwerklich betätigt, meinem späteren Ehemann nur höchst ungern assistiert, habe aber Phasen durchlebt, in denen ich meinen Kindern Pullis und mir Schals strickte, nie talentiert, eher einer Modeerscheinung folgend, als Jugendliche hätte ich niemals freiwillig Stricknadeln angefasst.

Lesen ist seit meiner Kindheit eine Leidenschaft von mir, in meinem Kinder- und späteren Jugendzimmer stapelten sich die Bücher: kunterbunt in der Thematik und weder typisch jungen- noch mädchenbezogen in populärer Klassifizierung: als Kind las ich überwiegend Tierbücher (mein Lieblingstierbuch: Der schwarze Hengst Bento) und im Alter zwischen 12 und 14 Jahren sämtliche 70 Karl May-Bücher, etwa 30 ledergebunden aus der Jugendbibliothek meines Vaters, die weiteren 40 Bände ließ ich mir schenken oder kaufte sie von meinem Taschengeld, ich las auch Astrid Lindgren – Bücher und aus der Jugendzeit meiner Mutter: Der Trotzkopf, ein späteres Lieblingsbuch von mir.

Betrachte ich meine Schilderungen reflektierend, sehe ich viel stärker eine Zweiseitigkeit, eine bipolare Position im Denken, nach der ich in meiner Jugendzeit zwischen 16 und 25 Jahren zwar lebte, deren ich mir aber damals nicht bewusst war.

Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr hatte ich ‚einen festen Freund’.

Es gab auch zwischendurch Probleme mit einem zweiten und ich war unsicher, für wen ich mich entscheiden sollte, also spielte ich auch mal Bäumchen wechsel’ dich, doch einer war immer für mich da. Bis zum heutigen Tag.

Ich erlebte in meinen Männerbeziehungen wenig Enttäuschungen, wenn, gingen Trennungen von meiner Seite aus. Unbewusst oder sogar instinktiv suchte ich mir Männer aus, die stabile Beziehungen leben konnten, zuverlässige, ‚bodenständige’, keine notorischen Fremdgänger. Ich brauchte die Stabilität, um meine fehlende Vaterbeziehung zu kompensieren. Mein Vater war eher abwesend als anwesend, dominierte meine Mutter, die nicht berufstätig war, sondern, obwohl sie Abitur und ein Semester Medizin studiert hatte, ihrer Hausfrauenrolle nachkam. Für ihre unkritische devote Haltung meinem Vater gegenüber, sie meinte, so ‚am besten mit ihm auszukommen’, verachtete ich sie fast zeitlebens. Emotional war mein Vater der schwächere, der seine Sensibilität tief zu verstecken wusste. In unserem Familienleben richteten sich aller Augen auf ihn, er nahm die Rolle des Patriarchen ein, dem aber das ‚Väterliche’ der Rolle fehlte. Vielmehr entzog er sich aller alltäglichen Verantwortung, ging in seiner Funktion als Unternehmenschef auf, bestimmte aber, wenn er sich zu Hause aufhielt des Tagesrhythmus im Hause. War er auf ‚Geschäftsreisen’, was häufig vorkam, lockerten sich Atmosphäre und Stimmung unter uns Kindern und unserer Mutter sichtlich auf.

Mein Interesse, die Aufmerksamkeit und Anteilnahme von Männern zu erhalten, wurzelt in meiner Vaterbeziehung, in der es an ebendieser Zuwendung mangelte.

Ich hatte nach außen einen starken, dank seines beruflichen Erfolges und seiner Intelligenz, seines Wissens einen geachteten und geschätzten Vater, den auch ich in diesen Bereichen bewunderte. An seiner fehlenden Empathie, seiner Anerkennung gegenüber seinen Töchtern litten meine Schwester und ich so lange ich denken kann.

Einerseits stark, andererseits schwach, ein Männerbild, das mich unbewusst in Vielem lenkte.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Mann-/Fraurolle der Eltern auch die eigene Identität beeinflusst und determiniert. Seitenweise füllt dieses Thema Psychologie- und andere Bücher. Setzt der Bewusstwerdungsprozess im eigenen Ich darüber ein, werden Lebensentscheidungen klarer, Männerbeziehungen begründbarer und eventuell verändert sich mit der Erkenntnis die Handlungsfähigkeit, wenn Unzufriedenheit mit der Selbsteinschätzung einhergeht.

In mir haben sich so unterschiedliche Positionen von weiblichen und männlichen Gefühls- und Betrachtungsmöglichkeiten eingenistet, dass ich im negativen Sinne von einer Zerrissenheit sprechen könnte, im positiven Sinne von einer großen Flexibilität und Vielseitigkeit.

Eingebettet in zwei starke selbstbewusste Großmütter, die eine bereits mir 39 Jahren Witwe, die andere eine stolze, intelligente Frau, ihrem Ehemann in psychischer Stärke und individuellem Eigenleben stets überlegen, erlebte ich Vorbildcharaktere, die mich prägten; genetische Faktoren müssen in meiner rollenspezifischen Sozialisationsgeschichte und meinem Rollenverständnis als Frau dabei unberücksichtigt bleiben, da ihr Einfluss Interpretation wäre und nicht Beweis sein könnte.

Ich wuchs unter Frauen auf, einer Mutter, die sich zwar äußerlich ihrem Mann unterordnete, ich würde sogar sagen, sie ‚diente’ ihm zeitlebens, die aber in ihrem Inneren einen starken Charakter hatte, sich ihre stabile Psyche nicht von ihm zerstören ließ und nach seinem Tod eine bewundernswerte Selbständigkeit bewies; einer Schwester, der ich schon aufgrund meines Alters um ein Jahr überlegen war und den beiden Großmüttern, die mir selbständiges Denken und Handeln als Frau zur Selbstverständlichkeit werden ließen, ausgeschlossen die finanzielle Selbständigkeit, denn eine Großmutter erhielt Witwenrente und lebte mit ihrem unverheirateten Bruder in einer Art Wohngemeinschaft (eine zur damaligen Zeit höchst ungewohnte Form eines geschwisterlichen Zusammenlebens), die andere lebte in finanzieller Abhängigkeit ihres Mannes, die sich jedoch einzig und allein auf diesen Bereich beschränkte. Selbst hier demonstrierte meine Großmutter (Jahrgang 1899) Autonomie, indem sie den Schlüssel des Familienpanzerschrankes besaß und sich uneingeschränkt und unkontrolliert Zugang zu Geld verschaffen konnte und dies auch tat.

Diese biographische Geschichte bestimmte meine geschlechtsspezifische Identität.

Was wurde nun daraus?

Was dachte und tat ich und was denke und tue ich heute?

Mädchen oder Junge? Das Geschlechterlabyrinth

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