Читать книгу Wie der Tod in die Welt kam - Sylvia Schopf - Страница 5
So wurde es entschieden
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Auf Befehl von Brahma
Aus dem hinduistischen Indien
Einst erschuf Brahma, der oberste Gott, die Welt und die Erde mit all ihren Lebewesen. Alles wuchs und gedieh und immer mehr Menschen bevölkerten die Erde. Die aber stöhnte bald unter der Last, denn die Menschen lebten ewig und vermehrten sich unaufhörlich.
„So kann es nicht weitergehen“, stellte Brahma eines Tages fest, und er überlegte, was zu tun sei. Doch so viel er auch nachdachte, ihm fiel nichts ein, womit er der unendlichen Schöpfung Einhalt gebieten könnte. Das machte ihn zornig. Sehr zornig! Und sein Zorn brachte glühendes Feuer in die Welt. Das breitete sich aus und schickte sich an, die Welt und alle seine Geschöpfe zu vernichten. Als Shiva, einer der anderen Götter, davon hörte, machte er sich sogleich auf den Weg zu Brahma.
„Habt Nachsicht!“, bat er und flehte den obersten Gott an, einen liebevollen Blick auf alles Lebendige zu werfen. Es schien, als würden Shivas Worte ungehört verhallen. Doch allmählich verglühte Brahmas Zorn, und die Feuer, die auf der Erde wüteten, wurden kleiner, bis sie schließlich erloschen.
Da tauchte aus Brahmas Geist eine schöne Frau auf. Sie hatte ein feuriges Gesicht, funkelnde Ohrringe und war prächtig gekleidet. Es war Frau Tod, und Brahma sprach zu ihr: „Du, die du aus meinem Zorn geboren wurdest, gehe und töte all meine Geschöpfe. Das wird dir zum Segen gereichen.“
„Wie kann ich so etwas Grausames tun?“, sagte Frau Tod. „Wie kann ich den Menschen, die du geschaffen hast, den Lebensatem nehmen?“, klagte sie und begann zu weinen. Brahma fing die Tränen, die aus ihren Augen fielen, in seinen Händen auf und verwahrte sie. Frau Tod aber war verzweifelt und wusste nicht, was sie tun sollte. Voller Kummer zog sie sich in die Einsamkeit des Waldes zurück. Milliarden von Jahren lebte sie von nichts anderem als von Luft und Wasser und wurde immer dünner und magerer. Eines Tages suchte Brahma sie auf.
„Warum unterziehst du dich so strenger Buße?“, fragte er.
„Aus Furcht mich zu versündigen“, antwortete sie.
„Aber es ist doch keine Sünde, wenn du tust, was ich dir befehle“, antwortete Brahma. „Außerdem werde ich dir Gehilfen an die Seite stellen. Krankheit, Eifersucht, Habgier, Bosheit und Zorn werden dir vorausgehen, und dich wird keine Schuld am Tod der Menschen treffen.“
Lange dachte Frau Tod über Brahmas Worte nach und schließlich fügte sie sich den Anordnungen. Sie verstand: Was der oberste Gott und Schöpfer befohlen hatte, war unabwendbar.
Brahma holte die Tränen hervor, die Frau Tod einst geweint hatte, und sie verwandelten sich in Krankheiten und Übel aller Art. Und es geschah, wie Brahma es gewollt hatte. Krankheit, Eifersucht, Habgier, Bosheit und Zorn suchten die Menschen heim, und erst als sie ihr Werk getan hatten, kam Frau Tod, um die Menschen zu holen.
* * *
Es stirbt der Mensch, es stirbt der Mond
Aus Ostafrika
Es war in den alten Zeiten, als der Tod bei den Menschen noch nicht bekannt war, da sagte der Gott Naiteru-kop zu einem Mann im Dorf: „Demnächst wird ein Kind sterben. Ihr müsst seinen Körper in den Busch bringen, und dann musst du sagen: ‚Mensch, stirb und komm wieder zurück. Mond, stirb und bleibe für immer fort.’ „Hast du mich verstanden?“, fragte der Gott, und der Mann nickte.
Kurz darauf starb ein Kind im Dorf. „Was sollen wir nun tun?“, fragten die Menschen, die noch nie zuvor mit dem Tod zu tun gehabt hatten.
„Naiteru-kop hat befohlen, es in den Busch zu bringen“, sagte der Mann.
Die Leute wickelten das tote Kind in große Palmwedel und brachten es aus dem Dorf hinaus in die unbewohnte Landschaft. Sie hielten Ausschau nach einem Platz. Als sie den leblosen Körper unter einem Busch niedergelegt hatten, sprach der Mann: „Mensch, stirb und bleibe für immer tot. Mond, stirb und komm wieder zurück.“
Dann gingen alle zurück ins Dorf und trauerten. Bald darauf starb wieder ein Kind. Es war der älteste Sohn des Mannes. Wieder brachte man das tote Kind hinaus in den Busch. Als man es niedergelegt hatte, sprach der Mann: “Mensch, stirb und komme zurück. Mond, stirb und bleibe fort!“
Da ertönte die göttliche Stimme von Naiteru-kop: „Das nützt jetzt nichts mehr. Es ist so, wie du es beim ersten Mal gesagt hast.“
Der Mann erschrak sehr und wartete viele Tage und Wochen. Aber sein Kind blieb tot, während der Mond immer wieder auferstand. Und so ist es bis heute. Der Mensch stirbt und kommt nicht mehr zurück, der Mond jedoch kehrt einige Tage nach seinem Tod ins Leben zurück.
* * *
Der Papageienfisch und der Mond
Aus Australien
Es war die Urzeit, die Traumzeit, und alles war noch im Entstehen, da fand das Gespräch zwischen dem Mond und dem Papageienfisch statt.
„Wie wird es mit uns allen weitergehen?“, fragte der Papageienfisch.
„Ich werde sterben“, sagte der Mond. „Aber nicht für immer. Ich werde dünner und dünner, bis nur noch meine Knochen übrig sind. Dann werde ich mich stärken und zurückkommen, um weiter zu leben. So können wir es alle machen“, schlug der Mond vor.
„Nein! Nein-nein-nein!“, widersprach der Papageienfisch. „Das ist nicht gut. Ich werde sterben und dann tot bleiben. Und so sollen es alle tun!“
Der Mond versuchte den Papageienfisch zu überzeugen, dass es doch besser sei, ihn nachzuahmen. Doch der Papageienfisch wollte seine Entscheidung nicht ändern.
Als er dann eines Tages starb, blieb sein Körper auf der Erde zurück, während seine Seele sich auf den Weg ins Totenland machte. Es war ein weiter Weg. Zuerst kam die Seele an einen großen Sumpf unweit des Meeres. Dort wurde sie bereits von zwei Buschgeistern erwartet. „Folge uns!“, sagten die beiden und nahmen die Seele des Papageienfisches mit zur Versammlung der verstorbenen Vorfahren. Dort wurde ihr ein großartiger Empfang mit Musik und Tanz bereitet, denn man wollte den Neuankömmling glücklich machen. Zwei Tage blieb die Totenseele bei der Versammlung der Ahnen, dann zeigten ihr die Buschgeister wie man ein Paddel herstellt. Als es fertig war, erhielt die Totenseele von den Buschgeistern als Abschiedsgeschenk ein Kanu. Damit konnte sie ihre Reise ins ferne Totenland fortsetzen. Es dauerte noch lange, aber irgendwann kam sie im Totenland an. Und der Papageienfisch kehrte nie mehr zur Erde zurück, so wie er es zu Lebzeiten entschieden hatte. Und ebenso ergeht es allen Lebewesen.
* * *
Der Streit zwischen Taube und Mönchsvogel
Aus Indonesien
Als die Welt noch sehr jung war und Himmel und Erde noch nah beieinander waren, saßen einst die Taube und der Mönchsvogel beisammen und beratschlagten, wie das Leben auf der Erde zukünftig sein solle.
„Ein Jahr lang ist es Nacht und dann ist es ein Jahr lang Tag“, schlug die Taube vor. „Außerdem sollen Menschen auf der Erde leben: sieben Männer und sieben Frau. Das ist genug. Sie leben ewig, werden niemals müde, und ein Samenkorn am Tag reicht ihnen, um satt zu werden. So soll es sein!“, verkündete die Taube.
„Nein“, widersprach der Mönchsvogel. “Es ist viel besser, wenn sich Tag und Nacht rasch abwechseln. Es wird Nacht und gleich darauf Tag. Und so ist es auch mit den Menschen. Sie kommen zur Welt und nach einiger Zeit sterben sie. Dafür werden aber immer wieder neue Menschen geboren. Die Menschen arbeiten so lange sie leben, und das macht sie hungrig. Um ihren Hunger zu stillen, gibt es viele Samenkörner und .......“
Der Mönchsvogel hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da packte die Taube ihn am Hals. „Niemals!“, rief sie ärgerlich. „Was für ein dummer Vorschlag. Ein Jahr lang Nacht, ein Jahr lang Tag! So soll es sein!“, beharrte sie und legte den Mönchsvogel in Fesseln, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Dann nahm sie ihn mit sich fort und sperrte ihn an einem entlegenen Ort ein. Damit war das Urteil gefällt.
Die anderen Vögel hatten den Streit zwischen der Taube und dem Mönchsvogel gehört und wussten nicht recht, was sie davon halten sollten. Nachdenklich saßen sie da. Nur ein einziger fand den Ausgang des Streites unerträglich. Das war der kleine Vogel Tiwe. „Ein ganzes Jahr lang Nacht? Tiefe, dunkle Nacht? Wie fürchterlich!“, rief er. Ohne lange zu überlegen, machte er sich auf zu dem Ort, an dem die Taube den Mönchsvogel gefangen hielt. Er hatte Glück: Die Taube war gerade nicht da und so konnte er den gefangenen Mönchsvogel befreien. Die beiden beratschlagten, was zu tun sei. Als sie eine Entscheidung getroffen hatten, lauerten sie der Taube auf und überwältigten sie. Rasch legten sie ihr nun schwere Fesseln an - und von nun an galt das Wort des Mönchsvogels. So wechseln sich bis heute Tag und Nacht in rascher Folge ab, und die Menschen werden geboren und sterben.
* * *
Die verbannte Glücksgöttin
Aus Kambodscha
In alter Zeit starben zwar alle Menschen, doch kaum hatte der Tod sie mitgenommen, kam die Göttin des Glücks und holte sie wieder zurück ins Leben. Die Menschen waren damit sehr zufrieden, doch der Himmelsgott wurde von Mal zu Mal ungehaltener. Ihm missfiel, dass die Glücksgöttin dauernd in die Gesetzmäßigkeiten der Natur eingriff und es ein ständiges Hin und Her gab. Kaum waren die Menschen gestorben, kehrten sie schon wieder zurück zu den Lebenden, um nach einiger Zeit wieder zu sterben und dann erneut zurückzukehren und immer so weiter und immer so fort.
So kann es nicht weitergehen, sagte sich der Himmelsgott und fasste eines Tages einen Entschluss! Er verbannte die Glücksgöttin zum Mond. So weit entfernt von der Erde reichte ihre Kraft nicht mehr aus, die Toten wieder lebendig zu machen - und die Natur konnte nun endlich ihren Lauf nehmen.