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3. Kapitel

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Natürlich hörten wir nichts von Harry. Es gab keinen Brief, keine Nachricht, nichts. Und irgendwann hatte ich es akzeptiert und dachte auch nicht mehr daran. Selbst als er zu Besuch bei seinen Eltern war und uns vergessen zu haben schien, war das für mich nur am Rande wichtig.

Manchmal sah ich ihn von Weitem, wenn er an mir vorbeiritt und mich nicht bemerkte. Er war zu einem sehr gutaussehenden jungen Mann herangewachsen. Aber er trug auch ein wenig den Dünkel seiner Herkunft zur Schau. Das musste wohl auch an Eton liegen, denn dort war er schließlich mit den Kindern der Oberschicht zusammen. Dafür hatte ich Verständnis, und in gewisser Weise freute ich mich für ihn.

Ich schwärmte ein wenig für den einen Jungen im Dorf, dann für den anderen, aber es waren nur Schwärmereien, in denen ich mich bei Meredith erging, und während ich ihr davon erzählte, wusste ich ganz genau, dass nichts weiter dahintersteckte.

Meredith und ich hatten uns angewöhnt, zur alten Abtei hinüberzugehen, die an Bretton Hall angrenzte. Das war ein schöner Spaziergang, und dort herrschte immer eine geheimnisvolle Atmosphäre.

Im Mittelalter hatten in dem Kloster Mönche gelebt. Aber sie verließen diesen Ort bereits nach hundert Jahren wieder, da es dort angeblich spukte. Seither verkam das einstmals schöne Gebäude zur Ruine. Aber es standen noch die alten Mauern, und auch ein Turm war noch erhalten.

Irgendwie war es an diesem Ort immer seltsam. Eine unwirkliche Atmosphäre nahm einen sofort gefangen, sobald man dort war. In der Abenddämmerung war das am stärksten.

Meredith und ich glaubten beide an die Existenz von Geistern und hatten schon die Schatten von Mönchen in langen Kutten über das Gelände schweben sehen. Ein andermal hörten wir aus der verfallenen Kapelle undeutlich den Gesang der Mönche. Es war wirklich gespenstig.

Niemand im Dorf ging gerne an diesen Ort, und wenn ich meiner Großmutter oder meinen Tanten gesagt hätte, dass es Meredith und mich dorthin zog, hätten sie es mir kategorisch verboten, und Merediths Tante wohl nicht weniger.

Das machte es natürlich noch spannender für uns.

Also trieben wir uns in diesen milden Herbsttagen oft heimlich dort herum. In der Nähe des früheren Refektoriums gab es eine relativ gut erhaltene Bank, auf die wir uns setzten und unserer Fantasie freien Lauf ließen.

„Was glaubst du, hat sich damals hier abgespielt?“, fragte ich Meredith.

Nachdem diese eine Weile überlegt hatte, antwortete sie leise: „Dramen, viele menschliche Dramen.“

Entgeistert sah ich sie an. „Was meinst du?“

„Na, was denkst du denn? Stell dir mal vor, wenn die Mönche hier ein Leben lang zusammengelebt haben, auf so engem Raum, ohne Kontakt zu Frauen.“

Verdutzt sah ich sie an.

Sie begann zu lachen. „Ach, du bist naiv. Wie immer.“

Erst da verstand ich, worauf sie hinauswollte. Entsetzt schlug ich meine Hand vor den Mund. „Nein!“

„Das waren auch nur Menschen, und man hört da ja so einiges.“

„Wo hört man so einiges?“, wollte ich schnippisch wissen, weil sie schon wieder einmal so tat, als sei sie mir überlegen, obwohl sie ein Jahr jünger war.

„Och, du musst nur den Jungs zuhören, wenn sie meinen, dass sie unter sich sind. Da erfährst du alles, was wir als Mädchen sonst nicht erfahren sollen.“

„Das machst du?“, wollte ich ehrlich interessiert wissen.

Sie lachte ihr silbriges Lachen. „Na, was denkst du denn? Ich heiße ja nicht Charlotte und bin naiv. Ich will alles wissen, alles.“

„Mhm.“ Jetzt begann ich mir die von ihr angedeuteten menschlichen Dramen vorzustellen. Heimliche Liebschaften, Eifersucht, Intrigen. Aber irgendwie behagten mir diese Fantasien nicht.

„Glaubst du, wir haben in der Zeit schon einmal gelebt?“, wollte ich von Meredith wissen.

„Ganz bestimmt.“ Sie schien sich vollkommen sicher zu sein.

Um uns herum begannen ganz sachte die Herbstnebel aufzusteigen, und die Sonne versank langsam am Horizont. Mich fröstelte ein wenig, und ich zog meinen Schal fester um die Schultern.

„Ich war eine Priesterin in Avalon. Das weiß ich genau.“

Zweifelnd sah ich sie an. Jedes Kind in England kannte die Erzählungen. Dann sah ich mich wieder um, sah die sanften Nebel in der Ruine hochsteigen, in die die letzten Sonnenstrahlen schienen und wisperte dann mehr zu mir selbst als zu Meredith: „Vielleicht war ich ja einer der Mönche hier.“ Mich schauderte plötzlich.

Meredith sagte dazu nichts. Sie schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich fuhr hoch, und als ich mich umdrehte, glaubte ich, zwei Mönche auf uns zukommen zu sehen. Gleichzeitig hörte ich den durchdringenden Schrei einer Eule.

Mit Grauen zog ich Meredith hoch: „Komm, wir gehen. Mir wird kalt. Außerdem ist es mir zu unheimlich hier. Wir müssen heim.“

Sie akzeptierte es wortlos. Vielleicht begann sie sich auch in der beginnenden Dunkelheit zu fürchten.

An einem der nächsten Tage entfaltete der Herbst noch einmal seine ganze Pracht. Die Sonne schien warm von einem wolkenlosen blauen Himmel.

Am späten Nachmittag beschloss ich, noch einmal zur alten Abtei zu gehen. Es war mir fast schon unheimlich, wie mich diese alten Gemäuer immer mehr anzogen. Aber der Tag war wie geschaffen dafür.

Als ich dort ankam, flirrte die Luft wie an einem heißen Sommertag. Je näher ich kam, desto mehr nahm ich wahr, dass die Luft für Sekundenbruchteile zu flirren schien. Um mich herum hörte ich Grillen und lautes Vogelgezwitscher, so als wolle die Natur noch einmal alles auffahren, was sie zu bieten hatte.

Sie war auch hier die Siegerin über den Mensch und hatte sich die alte Abtei im Wesentlichen schon zurückgeholt. Überall wucherten Gestrüpp und Efeu. In den dunkleren Ecken wuchsen große Farne, in deren Schatten sich jede Menge Kräuter frei entfalten konnten.

Ein altes Kräuterweiblein hatte dort wohl reiche Ernte. Sie schien allerdings irgendein Problem zu haben, bückte sich immer wieder nach etwas, was sie aber nicht zu fassen bekam.

Langsam, um sie nicht zu erschrecken, ging ich zu ihr.

Ihr alter Weidenkorb, in den sie ihre Kräuter legte, war ihr in ein Loch gerutscht, und sie bekam ihn nicht wieder heraus, so sehr sie es auch versuchte.

Als ich neben sie trat, erhob sie sich und sagte mit einer leisen, lieblichen Stimme: „Liebes Kind. Hol mir doch den Korb da heraus. Ich komme einfach nicht dran.“ Dabei sah sie mich nicht einmal an.

Das fand ich seltsam, langte aber nach dem Korb, zog ihn heraus und gab ihn ihr.

Sie lachte und zeigte dabei ihre wenigen schlechten Zähne. „Die alte Olga schafft es manchmal nicht mehr. So ist das eben. Danke, mein Kind.“

„Gern geschehen“, flüsterte ich und wollte mich schon abwenden.

„Du kommst aus dem Eulenhaus?“, fragte sie mich plötzlich listig.

Erstaunt sah ich sie an und nickte dann.

„Ja, ja. Das Haus der glücklichen Frauen. So wird es doch genannt, oder?“

Wieder nickte ich nur stumm, bekam langsam Angst vor ihrer merkwürdigen Stimme.

„Glück und Glas, wie leicht bricht das!“ Sie kicherte.

„Wie meinen Sie das?“

„Ach, gar nichts. Ist doch so ein Spruch, nicht wahr?“

Jetzt sah ich sie mir etwas näher an. Sie musste schon sehr alt sein. Die dünnen weißen Haare lugten unter dem dunklen Wollschal heraus, den sie sich um den Kopf gebunden hatte. Ihr altes Wollkleid hatte auch schon bessere Tage gesehen, und in den klobigen Schuhen musste sie wohl schon seit Jahrzehnten laufen. Sie sah wirklich aus wie eine Hexe aus dem Märchenbuch, auch mit der Warze neben ihrem Mund, und so runzelig, wie ihr Gesicht war. Aber ich konnte mich nicht erinnern, dass ich die Frau schon einmal gesehen hatte.

„Diese Sprüche haben oft viel Weisheit, auch für dich, mein Kind.“ Erneut kicherte sie.

Als ich sie nur verständnislos ansah, wog sie den Kopf hin und her. „Des einen Glück, des andern Leid. Auch daran solltest du denken. Manche Sprüche begleiten einen das ganze Leben lang. Sei auf der Hut. Freunde kommen und Freunde gehen. Cäsar wurde auch von Brutus ermordet.“

Was wollte sie mir damit sagen?

Sie ordnete ihre Kräuter, als hätte sie mich vergessen. Ich wollte schon gehen, da sprach sie: „Ja, ja. Ich habe deine Mutter gekannt. Gutes Mädchen. Die wollte auch nicht hören. Wie die Mutter, so die Tochter. Sei vorsichtig, mein schönes Kind. Denk an die Worte der alten Olga.“

Damit wandte sie sich ab, und ich konnte noch hören, wie sie vor sich hin murmelte: „Die Tollkirsche muss heute geerntet werden. Wo ist sie nur? Die alte Olga hat es vergessen. Aber irgendwo hier muss sie sein. Die Tollkirsche. Das Elixier des Teufels. So wohlschmeckend und oft so hilfreich.“

Ihr seltsames Lachen hörte ich noch, während ich mich umdrehte und den Ort verließ. Jetzt konnte mich hier nichts mehr halten.

Völlig verstört ging ich in das Haus der sieben Eulen zurück.

Hätte ich sie nach meiner Mutter fragen sollen? Natürlich gab es im Dorf ein paar Leute, die meine Eltern noch kannten. Aber ich hatte nie das Bedürfnis, mehr über sie zu erfahren, als mir meine Großmutter und meine Tanten erzählen konnten. Und was sollten diese Andeutungen über Freunde und über Glück, das leicht zerbricht? Wollte sie mich damit warnen? Aber wovor?

Ich war bis in mein Innerstes erschüttert und lief so meiner Großmutter über den Weg, die gleich sah, dass bei mir etwas nicht stimmte.

„Charlotte, was ist los? Du siehst ja aus, als hätte man dir mit einer Dachlatte eins übergezogen.“

„Großmutter, kennst du eine alte Frau namens Olga?“

Nachdenklich sah sie mich an. Aber dann blitzte ein Erkennen in ihren Augen auf. „Die alte Olga. Ja, natürlich. Gott, lebt das alte Ungeheuer noch?“

Da musste ich lachen. „Und wie.“

„Komm, Kind. Ich mache uns Tee, und du erzählst mir, was du mit ihr erlebt hast. Mein Gott, wie lange habe ich nicht mehr an das alte Biest gedacht?“

Als ich mit meinem Bericht fertig war, lachte meine Großmutter laut. „Das ist typisch für sie. Andeutungen machen und geheimnisvoll tun.“ Dann wurde ihr Blick abwesend. „Deine Mutter war öfter bei ihr, fällt mir ein. Sogar kurz vor ihrem Tod. Jetzt erinnere ich mich. Irgendwas sagte sie, glaube ich, von einer Warnung. Aber das haben wir natürlich alle nicht ernst genommen, weil Olga damals schon verrückt war.“ Wieder glitt ihr Blick zurück in die Vergangenheit. „Obwohl, manchmal hat sie tatsächlich recht behalten mit ihrer Unkerei. Komisch ist das.“

Beide schwiegen wir eine ganze Weile, mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt.

„Warum habe ich sie denn noch nie gesehen?“, wollte ich wissen.

„Ach, sie lebt im Wald mit ihren Katzen in einer alten, windschiefen Hütte. Manche Frauen gehen zu ihr, lassen sich von ihr helfen, und zum Dank bringen sie ihr das Nötigste, was sie sich selbst nicht besorgen kann. Also dass die noch lebt. Die muss doch mindestens hundert sein. Ach, was sage ich. Bestimmt noch älter.“

„Vielleicht wegen der Tollkirschen“, warf ich ein.

Völlig verständnislos sah meine Großmutter mich an, so als zweifle sie kurzzeitig an meinem Verstand.

„Na, sie hat doch Tollkirschen an der alten Abtei gesucht.“

Meine Großmutter lachte. „Wäre ihr zuzutrauen, dass sie die selber isst, um unsterblich zu werden.“

Edith und Meredith erzählte ich von dieser Begegnung nichts. Aber alles, was Olga mir sagte, behielt ich in Erinnerung, und später sollte ich noch oft daran denken.

Der Winter kam, und obwohl ich dachte, dass er nie wieder vorbeigehen würde, so musste er dem Frühling doch letztendlich weichen. Die ersten warmen Tage kamen, und ich lebte auf. Wie ich es hasste, nur zu frieren und ans Haus gebunden zu sein. So versuchte ich jeden Sonnenstrahl einzufangen, dessen ich nur habhaft werden konnte.

Immer noch dachte ich manchmal an Harry, aber Meredith gegenüber erwähnte ich ihn nicht mehr, und auch sie kam von selbst nie wieder auf ihn zu sprechen.

In diesen Tagen war immer mehr abzusehen, dass Edith ihre Lebensaufgabe in der Gartengestaltung finden würde. Immer häufiger hielt sie sich beim Gärtner des Gutshauses auf, der genau wie sie seine Bestimmung darin sah, den riesigen Park zu gestalten und zu pflegen. Jeder Park eines jeden Adelssitzes in England konnte es mit ihm an Vielfalt und Schönheit aufnehmen. Edith und der Gärtner reisten sogar ab und zu gemeinsam in die Umgebung, um sich andere Parkanlagen anzuschauen. Wenn sie von diesen Exkursionen zurückkamen, waren sie nicht ansprechbar, weil sie sich nur über ihre Eindrücke austauschten und überlegten, wie sie das Gesehene im Park des Gutshauses oder aber in unserem, natürlich wesentlich kleineren Park, umsetzen konnten.

Eigentlich hätte Großmutter niemals geduldet, dass Edith mit einem Mann alleine arbeitete oder Besuche in Nachbarorten machte. Da der Gärtner des Gutshauses aber schon älter war, gab sie ihr meistens die Erlaubnis zu diesen Ausflügen und sagte nichts, wenn Edith oft tagelang drüben war und ihm bei der Arbeit half.

Auch mit Tante Walfriede steckte sie immer öfter zusammen, um zu beratschlagen, wie ihre Eindrücke und neuen Ideen umzusetzen wären. Mit ihr legte sie probeweise neue Beete mit Stecklingen an, die sie von ihren Ausflügen mitbrachte oder sich weiß der Himmel wo besorgt hatte. Eigentlich konnte man die beiden meistens dort antreffen, wenn Edith nicht gerade im Gutshaus war.

Ich verstand diese Faszination nicht recht. Aber meine Tanten erzählten immer wieder von schrulligen, zumeist älteren Frauen in der Familie, die irgendwelchen verzauselten Leidenschaften nachgingen, und dass Edith wohl in deren Fußstapfen treten würde.

Worüber sie sich jedoch ernsthaft Gedanken machten, war das Finden eines Ehemannes für Edith. Darüber wurden sie ein ums andere Mal mutlos, denn sie konnten sich niemanden vorstellen, der sie nehmen würde, obwohl sie keine schlechte Partie sein würde.

„Aber mit diesen Flausen im Kopf“, rief meine Großmutter dann.

Mein Verhältnis zu meiner großen Schwester wurde jedoch davon nicht berührt. Zwar sahen wir uns weniger, und sie spielte auch nicht mehr mit uns, aber das hätte sie auch nicht getan, wenn sie nicht „diese Flausen“ im Kopf gehabt hätte. Sie war ein paar Jahre älter, und da hörten die Kinderspiele irgendwann auf. Viele Mädchen hatten nur noch Jungen und ihr Äußeres im Sinn. Danach kam die Auswahl des passenden Ehemannes, danach die Pflichten als Ehefrau und Mutter – und damit hatte es sich dann eben. Zum Glück gab es in der englischen Geschichte immer auch starke Frauen, die sich diesem Weg widersetzt und auf Eigenständigkeit bestanden hatten. Aktuell war es unsere geliebte Queen Victoria.

Sie fügte sich, so munkelte man, überhaupt nicht in ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter. Offenbar machte sie ihrem Ehemann Prinz Albert das Leben trotz aller Liebe oft genug zur Hölle, ihre Kinder terrorisierte sie und ließ kein gutes Haar an ihnen. Ihre Mutter hatte sie, kaum zur Queen gekrönt, aus dem Kensington Palast geworfen, weil sie ihrer Einmischungen überdrüssig war. Also bestimmt war sie keine fügsame Ehefrau und Mutter, aber als Herrscherin über ein Weltreich war sie genial.

Edith kam öfter abends in mein Zimmer, und wir unterhielten uns über das, was wir erlebt hatten und was uns beschäftigte. Manchmal fragte sie mich nach meiner Freundschaft zu Meredith. Sie verstand nicht so recht, wie ich so eng mit ihr befreundet sein konnte, weil sie nicht viel von ihr hielt. Die Gründe für ihre Abneigung hatte sie mir allerdings nie deutlich gesagt. Wollte ich sie denn auch so genau wissen?.

Harry sah ich nach wie vor nur flüchtig. Irgendwie hatte er kaum noch etwas von dem Harry an sich, mit dem ich so leidenschaftlich gern Robin Hood gespielt hatte. Alle Mädchen im Ort schwärmten von ihm, und ich verstand sie nur zu gut. Denn Harry war zu einem strahlenden jungen Mann herangewachsen, den die anziehende Aura der wirklich schönen Menschen umgab. Er bemerkte mich aber gar nicht oder nickte mir nur höflich zu.

So schien mein Leben immer weiter vor sich hin zu plätschern. Wie sollte ich mich da doch getäuscht haben!

Denn im Sommer, an einem sehr heißen Tag, starb meine Großmutter. Sie hatte sich an diesem Tag nicht sonderlich wohlgefühlt und wollte sich zu ihrem Mittagsschlaf hinlegen. Aus diesem wachte sie dann einfach nicht mehr auf. Der Arzt konnte nur noch ihren Tod feststellen, und alle standen fassungslos um sie herum. Sie war doch so gut wie nie krank gewesen, und irgendwie hatten wir alle gedacht, dass sie unsterblich sei und ewig leben würde. Dabei war sie schon weit über siebzig.

Ich hatte sie mit aller Inbrunst eines Kindes geliebt, und als ich nach der Beerdigung endlich verstand, dass sie mich nie wieder in ihre Arme nehmen würde, da fiel ich in ein tiefes schwarzes Loch.

Ich glaube, durch dieses einschneidende Ereignis betrat ich langsam die Welt der Erwachsenen. Doch kaum hatte ich mich von diesem Schock erholt, traf mich der nächste Schlag.

Meine Großmutter hatte ein Testament hinterlassen. Darin vermachte sie natürlich das Haus der sieben Eulen und all ihren Besitz ihren Töchtern. Davon würden beide bis an ihr Lebensende sehr gut leben können.

Und eine Klausel in diesem Testament sollte mein Leben entscheidend verändern. Sie legte nämlich fest, dass ich für drei Jahre in ein Mädchenpensionat in der Schweiz gehen sollte, „um den letzten Schliff zu bekommen“.

Meine Tanten schien das nicht weiter zu verwundern, denn sie waren beide als junge Mädchen auch in diesem Pensionat gewesen. Die finanziellen Mittel für meinen Aufenthalt dort waren von meiner Großmutter schon längst angelegt worden und hatten sich wohl mit der Zeit zu einer prächtigen Summe entwickelt.

Dieselbe Summe war natürlich auch für Edith angelegt. Meine Großmutter stellte in ihrem Testament fest, dass die Schweiz für Edith offenbar nicht der richtige Ort sei und sie die Summe wohl besser in eine Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin investieren solle. Alles Weitere würde ihr Anwalt für sie erledigen. Edith war darüber entzückt.

Meine Tanten waren begeistert, als sie es hörten. Alte Erinnerungen wurden hervorgeholt, und ich bekam zu den Mahlzeiten immer neue Anekdoten aus Fräulein Hurtenmachers Pensionat für Höhere Töchter zu hören. Zuerst interessierte es mich, und ich lachte auch laut mit über die lustigen Geschichten. Erst als ich dann so langsam begann, es mit meinem Leben in Verbindung zu bringen, verging mir das Lachen doch.

Mit der Schweiz konnte ich nichts anfangen. Ein kleines Land, das an Deutschland grenzte und in den Bergen lag. Man sprach dort wohl eine ganz seltsame Sprache, die meine Tanten zum Entzücken von Edith und mir manchmal nachmachten. Aber lernen würde ich sie ganz bestimmt nie. Hauptsächlich wurde dort Französisch gesprochen. Nur die Schülerinnen, die neu ankamen, durften englisch sprechen, auch mit ihren Betreuerinnen. Französisch beherrschte ich ein wenig, da meine Tanten diese Sprache oft in meiner frühen Kindheit mit mir gesprochen hatten, „um nicht aus der Übung zu kommen“.

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, aus meiner nun dezimierten Welt herausgerissen zu werden und in ein mir völlig fremdes Land zu reisen, in dem ich dann drei lange Jahre würde zubringen müssen.

Das Haus der sieben Eulen

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