Читать книгу Das Haus der sieben Eulen - Sylvia Weill - Страница 8

4. Kapitel

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Meredith reagierte seltsam, als ich ihr von dem Testament meiner Großmutter erzählte. Sie wurde einsilbig und sah mir nicht mehr in die Augen. Manchmal tat sie so, als würde sie sich für mich freuen, aber da ich sie inzwischen sehr gut kannte, wusste ich, dass dies nicht der Fall sein konnte. Sie war gekränkt darüber, dass man nicht sie in die Schweiz schickte, sondern mich, die es ja gar nicht wollte. Sie wäre sofort gegangen, nur um ihrer furchtbaren Tante zu entkommen und um endlich unter den Mädchen zu sein, denen sie sich zugehörig fühlte.

Aber ich machte mir nichts daraus. Sie war zwar meine beste Freundin, aber das war sie nur, weil es keine andere im Dorf gab, die es altersmäßig hätte sein können, und ich wusste, dass ich sie nicht vermissen würde. Dazu war sie zu merkwürdig und in sich verschlossen. Die Tanten und Edith würde ich dagegen sehr vermissen. Das war mir klar. Immer wieder fragte ich Tante Antonia, ob ich nicht doch hierbleiben könne, was sie aber jedes Mal energisch verneinte.

„Der letzte Wille deiner Großmutter muss erfüllt werden. Es wird dir da sehr gut gefallen. Ich wollte damals auch erst nicht hin, Tante Walfriede auch nicht. Aber weiß Gott, als wir uns eingewöhnt hatten, war es das Beste für uns.“

Es gab also kein Entrinnen. Tante Antonia würde mich in die Schweiz begleiten, und im Gegensatz zu mir konnte sie es kaum erwarten, die Reise anzutreten. Bis ich mich eingewöhnt haben würde, würde sie bei mir bleiben.

Tante Walfriede beneidete sie glühend, aber da sie das Haus nicht einfach für mehrere Wochen allein lassen wollten und Tante Walfriedes Garten ständiger Pflege bedurfte, musste sie notgedrungen zu Hause bleiben, auch um für Edith zu sorgen. „Wie gerne hätte ich Fräulein Hurtenmacher noch einmal gesehen, und natürlich Adliswil. Vielleicht ist ja sogar noch die ein oder andere Lehrerin von damals dort.“ Sie bat ihre Schwester, ihr alles zu erzählen, sobald sie zurückkommen würde, und sie bestellte Grüße an jeden, an den sie sich vom Hauspersonal noch erinnern konnte.

Tante Antonia rollte mit den Augen. „Walli, bitte. Wenn ich komme, werden sie sich auch gleich an dich erinnern. Außerdem kannst du Charlotte ja dort einmal besuchen.“

Ich sprang sofort aus meinem Stuhl auf und umarmte Tante Walfriede. „Oh ja, oh ja. Bitte. Du musst kommen. Sonst werde ich es dort nicht aushalten.“

Sie lachte laut. „Na gut, na gut. Mal sehen, was Tante Antonia über die Reise erzählt, dann werden wir sehen.“

Und so kam der verhasste Tag immer näher.

Von dem Reverend und seiner Frau hatte ich mich schon verabschiedet, auch von Mrs Benson im Kolonialwarenladen und der Schneiderin Mrs Smith. Natürlich auch von Meredith. Wir beteuerten uns, einander zu schreiben, aber ich glaube, wir wussten beide, dass wir das doch nicht tun würden.

Am Nachmittag des letzten Tages ging ich dann allein noch einmal auf den Friedhof und verabschiedete mich von meiner geliebten Großmutter. Ich stand vor ihrem Grab und begann, mit ihr zu reden. Das hatte ich mir so angewöhnt, wenn ich alleine kam. „Ich habe Angst vor der Schweiz, Großmutter. Wenn ich mich dort nun nicht heimisch fühlen kann und mich niemand mag, wie soll ich drei Jahre überstehen? Ich werde das Haus und die Tanten so vermissen.“

Es kam keine Antwort. Also wischte ich mir die Tränen ab, die über mein Gesicht liefen, und legte ein paar Margeriten auf ihr Grab, die ich gepflückt hatte.

In der Nacht schlief ich kaum. Das Unbekannte machte mir zu viel Angst.

Der Abschied von Tante Walfriede und Edith war tränenreich und dauerte eine Weile. Erst als Tante Antonia energisch wurde und schon befürchtete, dass wir unseren Zug am Bahnhof verpassen würden, „wenn diese Heulerei nicht endlich aufhört“, gingen wir zu der Droschke, die uns zum Bahnhof bringen würde.

Als wir endlich im Zug saßen, der uns nach Southampton bringen sollte, atmete meine Tante auf. Sie saß auf der Bank in einem Abteil der ersten Klasse, angetan mit einem praktischen Reisekleid und einem schicken Hut, den sie sich für diese Fahrt ausgesucht hatte.

„Endlich geht es noch einmal in die Schweiz, Kind. Das hätte ich ja nie gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch einmal dort hinkomme. Es war die schönste Zeit meines Lebens, und du wirst es auch so erleben. Da wette ich tausend Pfund drauf. Oder noch mehr?“ Sie lachte laut auf. Ich fand das nicht so lustig.

Nur die Fahrt lenkte mich ein wenig von meinem Elend ab. Bislang war ich ja nur einmal ein paar wenige Stationen mit dem Zug gefahren. Das zählte eigentlich gar nicht, und London kannte ich überhaupt nicht. Aber wir mussten dort umsteigen. Das und eine Fahrt über die See konnte ich mir gar nicht vorstellen.

Als wir in Southampton vor der großen Kanalfähre standen, war ich sehr beeindruckt. Ein so großes Schiff hätte ich mir nicht vorgestellt. Es würde uns nach Calais bringen.

Beherzt nahm meine Tante die Koffer, und wir schritten die Gangway hoch.

Dort wurden wir bereits erwartet, und jemand wies uns unsere Kabine zu. Die allerdings war sehr klein und hatte nicht mehr als die zwei Betten, einen kleinen Tisch und zwei Sessel. Aber alles war von einem gediegenen Luxus.

Kurz vor dem Ablegen schnappte mich meine Tante und ging mit mir an das Heck des Schiffes. Der Ausblick von dort war wirklich grandios. Viele Angehörige hatten sich am Kai versammelt und winkten ihren Lieben auf dem Schiff mit Bändern oder weißen Taschentüchern ein letztes Farewell zu.

Majestätisch glitt die Fähre auf die offene See. Die Menschen und die Häuser wurden immer kleiner, und damit ließen wir England endgültig hinter uns.

Mit offenem Mund bestaunte ich das Restaurant und überhaupt alles, was ich zu sehen bekam.

Schnell hatte ich mich auch an das beständige Schaukeln gewöhnt. Tante Antonia tat sich da schwerer. Sie musste sich immer wieder in der Kabine hinlegen.

Wenn ich dann allein an der Reling stand oder in einem der Liegestühle lag, kam immer einmal einer der Matrosen vorbei, und ich erntete anerkennende Blicke oder sogar mal ein Pfeifen durch die Zähne. Das war mir neu, schmeichelte mir aber.

„Diese Lackaffen“, schimpfte Tante Antonia, als ich es ihr erzählte. „Die sollen sich wagen, dir in meiner Gegenwart schöne Augen zu machen. Ich werde sie eigenhändig ins Meer werfen. Pah.“ Sie rollte mit den Augen und fuchtelte mit ihrem Regenschirm in der Luft herum, den sie als alte englische Lady immer bei sich trug.

Das merkten die Jungen wohl und ließen mich in Ruhe, sobald ich mit meiner kriegerischen Tante auftauchte. Sie ließ mich nun nicht mehr aus den Augen. Jeder Mann wurde argwöhnisch betrachtet, der sich uns näherte.

Als Tante Antonia damals den Kanal zum ersten Mal überqueren musste, hatte es einen heftigen Sturm gegeben, und sie hatte sich nur übergeben müssen. So atmete sie erleichtert aus, als wir in Calais wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

Zum Glück hatte sie von Lloyds, dem Reisebüro in London, alles genau planen lassen, so dass wir keinerlei Probleme hatten, sofort unsere Unterkunft zu finden, in der wir auch schon erwartet wurden. „Englische Zuverlässigkeit“, stellte Tante Antonia befriedigt fest.

In Calais bestiegen wir dann einen Zug nach Paris. Auch die nun folgenden Zugfahrten durch Frankreich waren bereits fest gebucht.

Erstaunt hörte ich mir die Sprache an. Sie war mir ja aus meiner Kindheit vertraut. Aber sie hier in dem muttersprachlichen Land zu hören, war doch etwas anderes.

Sie seufzte glücklich: „Ach, meine Liebe, man verlernt es also doch nicht. Denn die Franzosen sind ja viel zu stolz, um eine fremde Sprache zu sprechen. Aber ich bin ganz schnell wieder reingekommen. Wenn ich das deiner Tante erzähle.“

So plauderte sie auf der ganzen Fahrt begeistert mit anderen Reisenden, die bereitwillig darauf eingingen, um sich ebenfalls die Fahrt zu verkürzen.

Von Paris weiß ich nicht mehr sehr viel. Wir übernachteten in der Nähe des Bahnhofs und fuhren dann weiter Richtung Schweiz. Die Züge waren in der 1. Klasse sehr komfortabel, und langsam machte mir diese Reise direkt Spaß. Da ich nun doch begann, mich mit meiner Zukunft zu beschäftigen, fragte ich meine Tante manchmal stundenlang über das Pensionat aus. Und da sie dadurch jedes Mal in die Vergangenheit rutschte, erzählte sie nur zu gerne über ihre Zeit dort. Auch ihr war die Eingewöhnung damals sehr schwer gefallen, aber da meine Großmutter auch die ersten Wochen dort geblieben war, ging es dann doch. So ging die Reisezeit wirklich schnell herum.

Auch die Nacht im Schlafwagen nach Zürich war für mich ein großes Abenteuer, und durch das gleichmäßige Rattern der Räder schlief ich gleich ein. Als wir dann in Zürich ankamen, lag England schon weit hinter mir. Von hier würde es nicht mehr weit sein, versicherte mir meine Tante.

Die nächste der vielen Überraschungen auf dieser Reise war die Sprache, die mir im Bahnhof von Zürich entgegenschlug. Wieder ganz anders als Französisch und irgendwie lustig, obwohl ich nichts verstand.

Tante Antonia lachte laut, als sie es bemerkte. „Schweizerdeutsch ist für mich bis heute sehr seltsam. Das habe nun selbst ich nicht richtig erlernen können. Na, wir haben ja auch nur Französisch gesprochen. Schweizerdeutsch duldet Fräulein Hurtenmacher nicht in ihrem Pensionat. ‘Das ist ordinär’, urteilte sie, und damit war die Sache erledigt. Natürlich versuchten wir es gerade deshalb heimlich, aber ich glaube, keine von uns ist sehr weit gekommen. Sehr komisch, diese Sprache.“

Im Bahnhof Zürich bestiegen wir die Sihltalbahn, die uns in das gleichnamige Tal führen würde, in dem Adliswil lag. Jetzt wurde es langsam Ernst. Auch Tante Antonia wurde richtig aufgeregt, denn bald würde sie den Ort wiedersehen, in dem sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte, wie sie immer wieder betonte.

Im Grunde lernte ich meine Tante auf dieser Reise neu kennen. Auf dieser kurzen Fahrt in der Bahn saß mir ein aufgeregtes Schulmädchen gegenüber, das nach den Ferien wieder in ihr geliebtes Internat zurückkehrte. Mich nahm sie gar nicht mehr richtig wahr. Ununterbrochen sprach sie von Fräulein Hurtenmacher und wie sie sich wohl verändert hätte oder von Angestellten, die sie sehr mochte oder gar nicht mochte. Sie war nicht wiederzuerkennen, und darüber vergaß ich ganz meine eigene Aufgeregtheit.

Als wir ausstiegen, war es leicht bewölkt, aber die Sonne kam immer wieder durch und tauchte alles in ein sehr freundliches Licht. Die Berge waren im Hintergrund zu sehen, und dass der Ort nicht sehr groß war, wusste ich ja schon. So war auch der Bahnhof eher klein. Einige andere Familien mit ihren Töchtern kamen ebenfalls mit uns an.

Was mir gleich auffiel, war die Luft. So eine samtige, reine Luft hatte ich noch nie eingeatmet.

Ein paar Droschken warteten vor dem Bahnhof, und wir bestiegen eine davon.

Meine Tante wies mich auf die alte Eiche hin, die sich nicht verändert hatte. Auf die Berge, die sich ebenso wenig wie der kleine Bahnhof verändert hatten, und so ging es munter weiter. „Ach du liebe Zeit, Kind. Ich glaube, gleich kriege ich einen Herzinfarkt. Hier sieht ja alles haarklein noch immer so aus wie damals. Das kann doch nicht sein.“

Ich sah mich um und fand an dem Ort absolut nichts Interessantes. Die Häuser waren in einer etwas anderen Art gebaut als die in England, aber sonst war kein großer Unterschied zu unserer kleinen Stadt in Kent zu erkennen.

Sehr schnell bogen wir zu einer großen Mauer ab, die wir kurz danach unter einem riesigen Torbogen durchfuhren. Ich wusste, dass in dem alten Schloss, das dahinter lag, das Pensionat untergebracht war.

Jetzt sagte meine Tante überhaupt nichts mehr, sondern presste nur noch ihr Taschentuch vor den Mund, in das sie ein ums andere Mal „Nein!“, flüsterte.

Vor mir lag ein nicht sehr großes altes Schloss, das schon einmal bessere Jahre gesehen hatte. Aber es gefiel mir auf den ersten Blick. Davor stand eine riesige Rotbuche, und die Fensterläden hatten überall dieselbe Farbe.

An einer kurzen Treppe vor dem Eingang hielt die Droschke an.

Meine geliebte Tante Antonia hatte inzwischen angefangen zu weinen. Sie wollte nicht aussteigen.

„Was hast du denn?“, fragte ich sie eingeschüchtert.

„Ach Kind“, schniefte sie, „es ist nur so unvorstellbar schön, dass ich wieder hier bin.“ Damit gab sie sich einen beherzten Ruck. Sie schnäuzte sich einmal sehr kräftig, packte dann das Taschentuch weg, nahm mich an der Hand, und wir stiegen energisch aus der Droschke aus und die Stufen hinauf.

Hinter uns fuhr schon die nächste Droschke mit einem weiteren Neuankömmling samt Familie vor.

Oben angekommen, erstarrte meine Tante mitten im Schritt zur Salzsäule.

In der großen Eingangstür stand eine imposante, sehr große und schon ziemlich alte Frau. Ihr dickes weißes Haar trug sie in einem sehr adretten Knoten. Auf ihrer Nase saß eine randlose Brille. Diese Frau strahlte eine unumstößliche Autorität aus.

„Fräulein Hurtenmacher“, flüsterte meine Tante und machte tatsächlich einen Knicks vor der fremden Dame. Ich tat es ihr natürlich sofort gleich.

Nachdenklich ruhten deren Augen auf meiner Tante. Dann sah ich einen Blitz des Erkennens in ihren Augen.

„Toni, meine Liebe. Fast hätte ich dich nicht erkannt. Wie schön, dich wiederzusehen.“

Erfreut streckte sie meiner Tante ihre Hand entgegen. Diese drückte sie ehrfurchtsvoll. „Ich freue mich auch.“

„Und du bringst uns deine Nichte Charlotte mit?“ Damit wandte sie sich an mich, und auch mir streckte sie ihre Hand entgegen: „Willkommen, mein Kind.“

Ich begrüßte sie schüchtern. Beide Tanten hatten immer mit Respekt vor ihrer Autorität über sie gesprochen. Würde ich mit ihr auskommen?

„Fräulein Stockmann wartet dort hinten auf euch. Ich muss die nächste Familie begrüßen. Später haben wir noch Zeit zu plaudern.“

Meine Tante lächelte sie mädchenhaft an, nahm mich wieder an der Hand, und wir betraten das Schloss. Eine große Halle empfing uns, die jedoch keinen Prunk ausstrahlte, sondern eine zweckmäßige Ausstrahlung besaß.

„Oh, Fräulein Stockmann, ich hatte mir so gewünscht, Sie hier wiederzusehen!“ Damit rannte meine Tante auf eine kleine, dicke Frau zu, die am Ende der Halle auf uns wartete. Auch sie war schon sehr alt.

„Toni, meine Kleine. Ich hörte, dass du mit deiner Nichte kommst. Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Ist das schön. So viele Jahre.“ Sie lachte so dröhnend, dass man es in der ganzen Halle hörte, und umarmte meine großgewachsene Tante, als würde sie ein kleineres Schulmädchen umarmen. „Dass wir uns nochmal wiedersehen würden. Sag mal, sag mal.“

Meine Tante war nun vollkommen aus der Fassung und weinte schon wieder, wohl vor Wiedersehensfreude.

„Na, na. Kleines. Habe ich mich denn so verändert?“

Meine Tante schniefte und schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Ich bin nur so glücklich.“

Wieder ein ohrenbetäubendes Lachen. „Du bist immer noch ein Seelchen, wie damals.“

Meine Tante ein Seelchen? Ich verstand kurzzeitig die Welt nicht mehr.

Fräulein Stockmann rief nach hinten und eine Dienstmagd kam gelaufen und knickste. „Das ist Hildegard. Sie wird euch zu eurem Zimmer bringen. Du kennst dich ja aus.“ Damit wandte auch sie sich den nächsten Ankömmlingen zu.

Tante Antonia lief tatsächlich durch das Haus wie ein Mensch, der sich sehr gut darin auskennt.

Wir gingen zu dem kleinen Besucherflügel. Dort würde ich die erste Nacht mit meiner Tante in einem Zimmer schlafen, ehe ich dann umzog in ein Zimmer mit zwei anderen Mädchen.

Meine Tante musste sich erst einmal auf das Bett setzen und ganz tief durchatmen. „Ach, Kind, ich hätte nie gedacht, dass es genau wie früher sein würde. Na ja, fast. Die beiden sind schon ganz schön alt geworden, und ich alte Schachtel werde wieder zum kleinen Schulmädchen.“ Darüber musste sie nun selbst lachen. Dann sah sie sich interessiert um. „Also hier war ich glaube ich auch noch nicht. Aber ich war ja auch nie Besucher, und an die erste Nacht, als Mutter mich brachte, kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.“ Bald darauf packte sie dann ihre Sachen aus.

Ich holte nur das Notdürftigste aus dem Koffer, da ich ja am nächsten Tag schon wieder umziehen würde.

Zum Dinner lernte ich dann den Speisesaal kennen, der früher mal ein Ballsaal war, wie mir Tante Antonia erzählte.

An der Wand gab es eine Ausgabestelle. Dort musste jede mit ihrem Tablett vorbeigehen, um sich das Essen abzuholen. Auf den Tischen standen Kannen mit Tee, und wo man sich hinsetzte, konnte man sich aussuchen.

Ich folgte meiner Tante, die zielstrebig auf einen Tisch zusteuerte, der etwas am Rand lag. Die Plätze waren noch frei, und wir setzten uns.

„Mein Gott, hier habe ich immer mit meinen Freundinnen gesessen, und es hat sich überhaupt nichts verändert.“ Erstaunt sah sie sich um.

„Hat Tante Walfriede auch hier gesessen?“, wollte ich wissen.

„Nein, die saß mit ihren Freundinnen da hinten.“ Vage deutete sie in eine andere Richtung.

Es waren sehr viele Menschen anwesend, ältere Damen und junge Mädchen. Männer sah ich so gut wie gar nicht, nur vereinzelt wurde ein Mädchen wohl auch vom Vater gebracht.

Hauptsächlich hörte ich drei Sprachen munter durcheinander. Am häufigsten Englisch, dann Französisch und am wenigsten Deutsch. Alles war laut und betriebsam. Immer wieder beobachtete ich, wie sich ältere Menschen wiedererkannten und laut miteinander zu reden begannen.

An einem Extratisch saßen Fräulein Hurtenmacher, Fräulein Stockmann und mehrere andere Frauen, die wahrscheinlich hier unterrichteten.

Kaum dass ich mit dem Essen angefangen hatte, hörte ich hinter unserem Rücken einen durchdringenden Schrei: „Toni, bist du es wirklich?“

Meine Tante fuhr zusammen und drehte sich erstaunt um, nur um auch gleich in ebensolcher Lautstärke loszuschreien. „Molly, bist du das? Nein, ich träume. Ich muss träumen. Was tust du hier, in drei Teufels Namen?“

„Na, meine Tochter herbringen, genau wie du.“

Und schon lagen sie sich in den Armen.

Erst nach einer ganzen Weile trennten sie sich wieder, und meine Tante stellte uns einander vor. „Das ist meine beste Freundin Molly. Wir waren in einem Zimmer und sind durch dick und dünn gegangen. Und das ist meine Nichte Charlotte.“

Wir gaben uns die Hand, und dann war ich abgemeldet.

Etwas später kam Mollys Tochter zu uns. Nachdem wir uns einen Moment lang beäugt hatten und wohl feststellten, dass wir uns beide unbehaglich fühlten, stellten wir uns gegenseitig vor.

„Hi, ich bin Barbara.“

„Ich bin Charlotte.“

Und so kamen wir langsam stockend ins Gespräch, denn von unseren Begleitpersonen hatten wir nichts mehr zu erwarten. Die waren so in ein Gespräch über ihre Zeit hier vertieft, dass sie alles um sich herum vergessen hatten. Und als dann im Verlauf des Essens auch noch zwei weitere Frauen dazu gekommen waren, die zur damaligen Clique gehört hatten, waren Barbara und ich komplett vergessen. Wir grinsten uns nur an und beschlossen, uns den Park anzusehen.

Tante Antonia nickte nur uninteressiert und murmelte: „Ja, ja. Geh nur.“

Also gingen Barbara und ich hinaus und waren wohl beide dankbar, dass wir jemanden gefunden hatten, mit dem wir unser Schicksal als Neuankömmling teilen konnten.

Der Park war nicht sehr groß und wurde von der hohen Mauer begrenzt, die das ganze Schloss umgab. Es gab große Bäume und weite Rasenflächen. Manche Ecken standen voller Obstbäume.

„Oh, schau mal. Ein Erker“, rief Barbara und deutete auf die Mauer.

Oben war tatsächlich ein Erker in die Mauer gebaut, mit einem Steintisch und einer Bank aus Stein darum. Eine steile Treppe mit sehr schmalen Stufen führte hinauf.

„Wollen wir uns da hinsetzen? Vielleicht ist es ein schöner Ausblick.“

Also kletterten wir hinauf und setzten uns.

Es war wirklich ein grandioser Ausblick auf die Berge. Da die Sonne gerade unterging, war alles in ein etwas unwirkliches orange Licht getaucht. Wir schwiegen beide eine ganze Weile und hingen unseren Gedanken nach. Was uns wohl hier erwarten würde?

Später ging ich dann alleine zu Bett, weil meine Tante einfach nicht auffindbar war. Ich wusste, dass es sinnlos sein würde, nach ihr zu suchen. Sie saß mit ihren alten Freundinnen beisammen und vielleicht sogar noch mit ihren alten Lehrerinnen. Da war ich vergessen.

Morgens schlief sie so fest, dass ich allein zum Frühstück gehen musste Ich hatte nämlich gut geschlafen und demzufolge einen Riesenhunger. Ich lud mein Tablett reichlich voll und ging wieder an den Platz, an dem wir am Abend vorher gesessen hatten. Und was soll ich sagen: da saß Barbara auch schon, natürlich ohne ihre Mutter. Beide lachten wir herzhaft über die beiden und freuten uns, dass wir schon jemanden kannten.

Nach dem Frühstück verkündete Fräulein Stockmann, dass alle Mädchen ihre Sachen zusammenpacken und damit in einer Stunde in der Halle erscheinen sollten, damit die Zimmerzuweisung erfolgen konnte.

Barbara und ich hofften, dass wir beide in ein Zimmer kommen würden.

Als ich meine Sachen zusammenpackte, schlief meine Tante immer noch fest und schnarchte vor sich hin.

Ich erkannte sie auf dieser Reise wirklich nicht wieder. Hatte sie mit ihren früheren Freundinnen am Ende noch das eine oder andere Glas Gin getrunken? Da konnte sie nämlich nie Nein sagen. Aber würde Fräulein Hurtenmacher das dulden?

Ich grinste nur vor mich hin. Das würde mir Edith alles nie glauben, wenn ich es ihr in den ersten Ferien erzählen würde.

Barbara und ich kamen tatsächlich in ein Zimmer. Vielleicht, weil wir ungefähr im selben Alter waren. Die meisten neu angekommenen Mädchen waren jünger als wir.

Später würde noch ein drittes Mädchen zu uns stoßen, deren Bett vorerst leer blieb. Bei ihr hatte sich die Anreise verzögert.

Eigentlich war Tante Antonia mitgekommen, um mir das Eingewöhnen zu erleichtern. Daran war nun überhaupt nicht mehr zu denken. In den ersten Tagen sah ich sie höchstens einmal zu den Mahlzeiten, aber nie allein. Ansonsten blieb sie verschwunden. Einmal erzählte sie mir zwischen Tür und Angel, dass sie mit ihren Freundinnen nach Zürich fahren wolle, um den Tag dort zu verbringen oder sie gingen abends nach dem Dinner runter nach Adliswil, um im Ort noch beisammen zu sitzen und etwas zu trinken.

Sie wirkte dabei so gelöst und jugendlich, dass ich sie fast nicht mehr wiedererkannte. Ob es mir in ferner Zukunft auch einmal so ergehen würde?

Barbara teilte mein Schicksal, denn mit ihrer Mutter steckte meine Tante ja hauptsächlich zusammen. Aber da wir uns gleich angefreundet hatten, war das alles nicht so schlimm, und ich gönnte meiner Tante dieses Vergnügen von Herzen. Was sie sich wohl alles zu erzählen hatten?

Dennoch war es tröstlich zu wissen, dass diese Verbindung zu meinem früheren Leben hier war und jederzeit für mich da sein würde, wenn ich sie nur darum bitten würde.

Und so begann die Zeit in Fräulein Hurtenmachers Pensionat. Schneller als ich dachte, war für mich der Alltag dort zur Gewohnheit geworden. Durch die Anwesenheit von Tante Antonia dachte ich immer noch oft an mein altes Leben in England, und Barbara war ja wie ich Engländerin. Aber wie Jugendliche nun einmal so sind, gewöhnen sie sich schnell in einer neuen Umgebung ein.

Dass ich nach einer Woche lernen musste, außerhalb unseres Zimmers französisch zu sprechen, fiel mir schwer. Aber da der Unterricht in der Anfangszeit hauptsächlich im Erlernen dieser Sprache bestand, ging auch das immer besser. Jedes Kind, das beim Sprechen einer anderen Sprache erwischt wurde, musste zur Strafe bei der Reinigung des Speisesaals helfen. Da dies keiner wollte, hörte man bald nur noch Französisch, mal holprig, mal wunderschön. Barbara und ich taten unser Bestes, und schon bald wurde auch das zur Gewohnheit.

Dann kam der Tag, an dem Tante Antonia abreisen würde, zusammen mit all ihren Freundinnen.

Na, das musste eine bunte Reisegruppe geben, dachte ich nur bei mir.

Sie strich mir liebevoll über den Kopf. „Kann ich mich auf dich verlassen, Kind?“

„Aber ja, das weißt du doch.“ Damit drückte ich sie ganz fest.

„Molly und ich sind so froh, dass Barbara und du euch angefreundet habt. Schreibst du ab und zu?“

So ging es noch ein bisschen weiter, und dann war sie weg. Laut schnatternd in einer Kutsche mit drei anderen alten Schulmädchen, die in die Ferien fuhren.

Das Haus der sieben Eulen

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