Читать книгу Gefahr auf Schloss Barras - Sylvia Weill - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеGrafschaft Wiltshire, Avebury, 1881
Lange hatte es gedauert, bis ich endlich all meinen Mut zusammengenommen hatte, um mich auf den langen Weg nach Cornwall zu machen.
Ein Zufall war mir zu Hilfe gekommen.
Auf Schloss Barras, der Heimat meiner Mutter und meiner Tante, wurde eine Gesellschafterin für die alte Gräfin gesucht. Tante Lilibeth erzählte es mir mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck. Ihre Verbindung zu Mrs Pengaster, der Köchin im Schloss, war nie abgebrochen, obwohl sie sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten. Aber sie schrieben sich Briefe, und Tante Lilibeth bezeichnete sie immer als ihre wirkliche Mutter. Ein ums andere Mal beklagte sie sich, dass sie sie in ihrem Leben wohl nicht mehr wiedersehen würde. Aber so erfuhren wir doch immer, was im Schloss vor sich ging.
Tante Lilibeth und meine Mutter waren zusammen auf Schloss Barras aufgewachsen. Tante Lilibeth war die jüngere der beiden Schwestern, und meine Tante Sylvia war dann noch als Nachzüglerin geboren worden.
Es gab damals ein ehernes Hausgesetz, nach dem die Kinder nur in die Hocharistokratie einheiraten durften. Eine Ehe mit einem niedriger gestellten Partner führte automatisch zum Verlust aller Privilegien und Geldzuwendungen sowie der Vertreibung von Schloss Barras. Meine Großmutter, Lady Tesborough, hatte sich daran strikt gehalten und ihre Tochter Lilibeth nach Zahlung einer „Abfindung“ aus ihrem Leben gestrichen.
Denn Tante Lilibeth hatte das Sakrileg begangen, sich in einen Minenarbeiter zu verlieben, der in der Zinnmine, die in der Nähe des Schlosses lag, arbeitete. Sie ging mit ihm nach Avebury, und es wurde eine glückliche Ehe, auch wenn sie in bescheidenen Verhältnissen leben mussten. Die „Abfindung“ war bei Barings in London in einen Pensionsfond angelegt worden, darauf hatte mein Onkel bestanden, sodass meine Tante jeden Monat eine Zahlung daraus bekam, die ihr ein abgesichertes Leben ermöglichte.
Leider bekamen sie keine eigenen Kinder, und als mein Onkel bei einem Unfall an seiner neuen Arbeitsstelle in der Manufaktur starb, dachte meine Tante, sie würde es nicht überstehen. Aber die Zeit und die unverhoffte Überraschung, dass meine Mutter mich als Baby bei ihr ablieferte, um ein Leben ohne ihre Tochter zu führen, ließ sie ihren Kummer allmählich vergessen.
Davon erzählte mir meine Tante immer wieder. Auch über den Charakter meiner Großmutter, die Schloss Barras nach wie vor mit eiserner Hand regierte und deren Gesellschafterin ich nun werden sollte, ließ sie mich nicht im Unklaren.
Über das Schicksal meiner Mutter jedoch sagte sie mir nicht sehr viel. Sie behauptete immer, sie wüsste nicht mehr als das Wenige, was ich bereits wisse. Ob das stimmte oder nicht, weiß ich bis heute nicht.
Jedenfalls war das der Grund, warum in mir irgendwann der Gedanke aufkam, inkognito nach Schloss Barras zu reisen, um mehr über das Schicksal meiner Mutter und damit meiner Herkunft zu erfahren.
Tante Lilibeth war anfangs sehr skeptisch gewesen. „Du kennst den gefühllosen alten Drachen nicht. Von der erfährst du nichts. Garantiert sagt sie, dass sie außer Sylvia gar keine Kinder hat.“
Aber da ich über meine Vergangenheit unbedingt Bescheid wissen wollte, wurden meine Pläne immer konkreter. Ich wusste nur absolut nicht, wie ich es anstellen sollte. Schließlich konnte ich nicht einfach hinfahren und um eine Anstellung bitten, damit ich in Wahrheit dort herumschnüffeln konnte.
Tante Lilibeth war keine große Hilfe. Wahrscheinlich lebte dadurch ihre eigene Vergangenheit zu sehr auf und plagte ihr Gemüt. Aber als dann Mrs Pengaster schrieb, dass eine Gesellschafterin gesucht würde, verheimlichte sie es mir nicht. Sie hatte wohl endlich verstanden, dass ich ein Recht auf Klarheit über das Schicksal meiner Mutter hatte.
Und ich denke, sie wollte es auch selbst endlich erfahren, denn die beiden Schwestern hatten sich immer sehr gut verstanden.
Ich bewarb mich also auf die Stelle der Gesellschafterin und bekam prompt eine Einladung zu einem Kennenlerngespräch.
„Eigentlich bist du für so einen Posten noch viel zu jung, Cathy“, sinnierte meine Tante. „Aber andererseits kommst du so nach Barras. Ich kann es nicht glauben.“
„Ja, das wird ein Abenteuer.“
Aber ich hatte längst Angst vor meiner eigenen Courage bekommen. Was hatte ich mir dabei nur gedacht?
Ich war im letzten Dezember zweiundzwanzig Jahre alt geworden, war bei Tante Lilibeth behütet aufgewachsen und glaubte jetzt, ich müsse unbedingt auf den Spuren meiner Mutter wandeln. Das war sehr gewagt. Aber ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, und meine Tante sagte schon immer: „Wenn das Kind sich was in den Kopf gesetzt hat, dann kann sie nichts und niemand von der Ausführung abhalten. Das hat sie von ihrer Mutter. Der Ärger, den das regelmäßig verursacht, ist ihr egal.“
Endlich kam dann das Schreiben von Schloss Barras, indem man mir mitteilte, wann ich dort zu erscheinen hatte, um mich in Augenschein nehmen zu können.
Ich konnte kaum noch richtig schlafen, so nervös machte mich die Vorstellung, an den Ort zu kommen, an dem meine Mutter aufgewachsen und von dem sie verstoßen worden war.
Wie würde meine Großmutter sein?
Was würde sie zu der jungen Gesellschafterin sagen, die völlig mittellos und ohne Anhang für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen musste?
Diese Version hatten Tante Lilibeth und ich uns als offiziellen Grund für die Bewerbung ausgedacht. Und so ganz falsch war es nicht. Viel mehr blieb einem Mädchen in meiner Position nicht, wenn sie nicht ganz früh heiratete und dadurch versorgt war.
„Du hast nur diese zwei Möglichkeiten“, sinnierte Tante Lilibeth oft. „Entweder Gouvernante oder Gesellschafterin.“
Beides erschien uns unerquicklich, aber etwas anderes fiel uns nicht ein. Zwar hatten wir in Queen Victoria ein hehres Beispiel dafür, was aus einer Frau werden konnte, aber wir wussten ganz genau, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte als alle Frauen in England. Und für eine Florence Nightingale fehlten mir die Kraft und das Durchsetzungsvermögen. Viel später sollte ich noch von Madame Blavatsky hören, der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft in London. Sie bereiste ganz allein den Fernen Osten und eignete sich dort ein ungeheures Wissen an. Doch auch für ihren Weg fehlte mir jede Befähigung.
Ich sah mich ganz und gar nicht als Kämpferin. Von meiner Natur her war ich eher auf Harmonie bedacht und wollte mich im Hintergrund halten. Ich hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. In den letzten Jahren musste ich wohl oder übel mit der Aufmerksamkeit der Jungen und Männer in unserem Ort fertig werden, die mich hingebungsvoll als Schönheit bezeichneten „mit einem so besonderen Aussehen“.
Ich fragte Tante Lilibeth immer, was sie damit meinten. Aber sie flüchtete sich regelmäßig in blumige Erklärungen über die Fantasien der Männer.
Gut, ich hatte dunkle Haare, und mein Teint war von einer eher olivfarbenen Tönung. Das hatte ich aber nie als etwas Besonderes angesehen. Nur meine fast schwarzen glänzenden Augen gaben mir selbst Rätsel auf, denn kein anderes Mädchen im Ort hatte solche Augen. Selbst Kerensa nicht, die Tochter des Reverends, die immer als Spanierin bezeichnet wurde, sehr zum Ärger ihres Vaters, der blond und grauäugig war.
Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass Tante Lilibeth auch deshalb im Grunde froh war, dass ich vielleicht nach Barras gehen würde. „Die Kerle schenken dir einfach zu viel Aufmerksamkeit, und ich kann dich doch nicht dauernd beschützen.“
Was sie damit meinte, war mir nicht ganz klar, aber ich machte mir auch keine weiteren Gedanken darüber. Bisher hatte mich noch keiner der Jungen aus unserem Ort interessiert und von den erwachsenen Männern schon gar keiner. Natürlich wurde mir das als Arroganz und Hochnäsigkeit ausgelegt. Aber das war mir egal. Ich wollte wissen, wo meine Wurzeln lagen. Das allein interessierte mich.
Meine beste Freundin Mary verstand zwar die Zusammenhänge nicht so ganz, sah aber ein, wie wichtig es für mich war, in Barras zu schnüffeln. Also hatte sie beschlossen, es als großes Abenteuer anzusehen, an dem sie eine unbeteiligte Zuschauerin war.
Selbstverständlich hatte ich sie zu absoluter Verschwiegenheit verdonnert, und wenn man aus Mary etwas herausbringen wollte, was sie nicht preiszugeben bereit war, biss man auf Granit. Da konnte man machen, was man wollte. Darauf konnte ich mich hundertprozentig verlassen, und nur deshalb hatte ich sie in meine Pläne eingeweiht. Sie würde bald den Sohn des Schmieds heiraten und hatte auch andere Sachen im Kopf, als die Gründe für meine Reise auszuposaunen.
Kerensa und ihrem Vater hatte ich nur die halbe Wahrheit gesagt, nämlich dass ich mich um die Stelle einer Gesellschafterin in Cornwall beworben hatte, da ich nun für meinen Unterhalt selbst sorgen musste.
Der Reverend ahnte vielleicht etwas, denn er war als Einziger in die Vergangenheit meiner Tante eingeweiht, sagte aber weiter nichts. Und auf seine Verschwiegenheit war sowieso Verlass.
So rückte also der Tag meiner Abreise immer näher, und sowohl Tante Lilibeth als auch ich wurden immer nervöser. Ich, weil ich noch nie aus meinem Heimatort rausgekommen war, und Tante Lilibeth, weil ich flügge wurde, und das ausgerechnet bei ihrer verhassten Mutter. Sie sah wohl schwarz für das ganze Unterfangen, wünschte mir aber alles Glück dieser Welt und verpflichtete mich dazu, ihr regelmäßig zu schreiben.
„Sonst werde ich Mrs Pengaster in Aufruhr versetzen“, drohte sie das eine ums andere Mal.
Ich lachte nur und versprach ihr, mich regelmäßig zu melden.
Am Tag meiner Abreise bestellte sie mir dann noch Grüße an einige Hausangestellte, die vielleicht noch dort arbeiten würden, nahm es dann aber gleich wieder zurück. „Ach nein, lass es bleiben. Es darf niemand wissen, wer du bist. Aber Mrs Pengaster hält dicht. Alle Briefe von mir hat sie immer gleich verbrannt, und sie spricht mit niemandem über mich. Tu zunächst so, als würdest du sie gar nicht kennen. Ach Gott, ach Gott. Ob das gut geht. Du kennst deine Großmutter nicht.“
Aber dann verabschiedeten wir uns endlich, und ich saß im Zug auf dem Weg nach Cornwall. Für mich war das alles ein einziges großes Abenteuer, das mich ängstigte. Natürlich war ich noch nie mit dem Zug gefahren und schon gar nicht auf so einer langen Reise.
Meine Tante und ich waren immer wieder die Reiseroute durchgegangen. Ich musste dreimal umsteigen. Davor hatte ich Angst, denn was wäre, wenn ich einen Anschlusszug verpassen würde?
Zu meinem ganz großen Glück kam ich gleich mit einer älteren Dame ins Gespräch, die auch auf dem Weg nach Cornwall war und nur wenige Haltestellen vor mir den Zug verlassen musste. Sie nahm mich gleich unter ihre Fittiche, wollte den Grund meiner Reise wissen und erkundigte sich nach allem Möglichen.
„Ach Kindchen, so ist die lange Reise doch viel angenehmer, als wenn man nur allein aus dem Fenster stieren muss. Ich kenn doch alles schon. Bin schon so oft diese Strecke gefahren. Ein paar Mal im Jahr besuche ich meinen Bruder. Der ist der einzige Verwandte, den ich noch habe. Und ich bin immer froh, wenn ich eine Reisebegleitung habe.“
Ich war so erleichtert darüber, dass ich ihr bereitwillig Auskunft gab. Aber natürlich bekam sie auch nur die offizielle Version zu hören: dass meine Eltern verstorben seien und ich jetzt alleinstünde. Sie war voller Mitgefühl und hätte mich wohl am liebsten noch heil und wohlbehalten auf Schloss Barras abgeliefert.
So vergingen die Stunden auf das Angenehmste. Beide hatten wir ein Lunchpaket mit so vielen Köstlichkeiten dabei, dass wir nicht alles essen konnten. Also tauschten wir sie nach Herzenslust aus, um dann schläfrig in unseren Sitzen zurückzusinken.
So schön hätte ich mir eine lange Zugfahrt nicht vorgestellt. Vor allen Dingen, weil es die britische Eisenbahn noch nicht so lange gab. Man hörte oft, dass es zu ziemlichen Unannehmlichkeiten kommen konnte, sogar zu Unfällen.
Von meiner Reisebegleiterin verabschiedete ich mich dann mit großem Bedauern. In den wenigen Stunden, die ich sie jetzt kannte, war sie mir schon ans Herz gewachsen, und ich glaube, ihr ging es ebenso. Als der Zug wieder anfuhr, fühlte ich mich verloren.
Es war inzwischen Mittag.
Ich wusste weder, ob man mich abholen würde noch was mich überhaupt in dem Elternhaus meiner Mutter erwarten würde. Wenn es nach mir ginge, so wollte ich nur so lange bleiben, bis ich die Geschichte meiner Mutter und damit meiner Herkunft herausbekommen hätte. Aber eins hatte ich in meinem doch erst kurzen Leben schon gelernt. Es kam immer anders, als man es vorher erwartet hatte. An diesen Spruch meiner Tante Lilibeth dachte ich, und mir wurde immer banger ums Herz. Vielleicht war diese Idee doch nicht unbedingt die beste gewesen.
Aber nun gab es kein Zurück mehr, und ich wappnete mich für dieses erste große Abenteuer in meinem Leben.
Als ich endlich sehr müde und staubig aus dem Abteil stieg, war es schon später Nachmittag. Die Sonne würde bald untergehen. Ein wenig fröstelte es mich, denn hier wehte ein kühler Wind.
Also stellte ich meinen Koffer ab, zog mein Wollcape fester um meine Schultern und sah mich um. Ich war die einzige Reisende, die hier ausgestiegen war, und zunächst konnte ich niemanden erkennen, der auf mich wartete.
Der Zug fuhr langsam wieder an, und ich wurde von einer Dampfwolke aus dem Schornstein der Lokomotive eingehüllt. Als ich dann wieder klar sehen konnte und anfangen wollte, einen Plan zu machen, wie ich nach Barras kommen würde, schlurfte ein uralter Mann auf mich zu, der einen Zigarrenstumpen in seinem Mund stecken hatte.
Er blieb vor mir stehen, musterte mich aus überraschend jugendlichen Augen, kaute kurz auf seiner Zigarre, um mich dann nuschelnd zu fragen: „Sind Sie Miss Hessler?“
Ich erwiderte seinen Blick und nickte nur.
Also schnappte er sich meinen Koffer, drehte sich um und schlurfte in Richtung Bahnhofsvorplatz. Dort stand eine offene, altersschwache Kutsche mit einem noch altersschwächeren Gaul davor. Kurz überlegte ich, wer wohl älter war: der Mann oder der Gaul.
Er warf den Koffer in die Kutsche, wies mich mit einer Kopfbewegung an, diesem zu folgen und betrachtete gleich darauf seinen Kutschbock mit einem Blick, der verriet, dass er sich nicht sicher war, ob er dort wieder hinaufkommen würde. Aber er gab sich einen Ruck, warf mir einen finsteren Blick zu und kletterte überraschend behände nach oben. Der alte Gaul schnaubte widerwillig, so als hätte er keine Lust, seine Last zu ziehen. Aber nach ein paar undefinierbaren Lauten des Alten ging die Fahrt los.
Fast kam ich mir schon hochherrschaftlich vor, wie wir da so in ganz gemächlichem Tempo über das flache Land fuhren.
Das Meer konnte nicht weit weg sein, denn ich roch immer wieder die feuchte Luft und hörte die Gischt. Dazwischen kamen mir Gerüche nach Kräutern in die Nase. Trotz meiner Anspannung war ich über diese Sinneseindrücke sehr erstaunt. Das kannte ich so aus Wiltshire nicht. Da war alles doch ein wenig rauer.
Zu sehen gab es allerdings nicht sehr viel. Von den sanften Hügeln Cornwalls hatte ich ja von meiner Tante Lilibeth schon so viel gehört, und ich musste ihr wirklich zustimmen. Sie hatte mit ihren Schilderungen recht gehabt. Fast glaubte man, in südlichen Gefilden zu sein. Aber da ich doch immer nervöser wurde, je näher das Schloss kam, konnte ich die Reize der Landschaft nicht wirklich entspannt in mich aufnehmen.
Ein Gespräch mit dem Kutscher hätte mich sicherlich abgelenkt, und vielleicht hätte ich von ihm schon ein wenig über die Bewohner des Schlosses erfahren können, aber daran war nicht zu denken. Er saß auf seinem Kutschbock und bewegte sich nicht. Die Zügel hatte er beiseitegelegt. Der alte Gaul fand seinen Weg sicherlich seit Jahrzehnten von ganz allein. Ob der Mann wohl ein Schläfchen da oben machte?
Na, mir sollte es recht sein. Irgendwie war ich froh, noch ein Weilchen verschnaufen zu können, ehe ich die Gefilde meiner Familie betreten würde. Doch lange sollte mir dies nicht beschieden sein. Es wurde immer dämmriger, und ich bemerkte mit Schrecken, dass die Sonne langsam unterging. Ich war doch eben erst von zu Hause losgefahren, und jetzt war es schon wieder fast Abend. Wo war denn die Zeit geblieben?
Es heißt ja immer, dass nur für ältere Menschen die Zeit rasend schnell vergeht. Aber dies war der erste Tag in meinem Leben, an dem ich dieses Phänomen bei mir selbst feststellen musste. Sollte das ein Zeichen des Erwachsenwerdens sein? Bevor ich jedoch weiter darüber nachdenken konnte, passierte die Kutsche einen riesengroßen steinernen Torbogen, der in einer hohen Mauer eingelassen war. Wir fuhren jetzt eine Allee entlang, die direkt zum Schloss führen würde. Das wusste ich aus Tante Lilibeths Erzählungen.
Mein Magen verkrampfte sich.
Am liebsten hätte ich meinem Kutscher auf den Rücken geklopft und ihm befohlen, mich zurück zum Bahnhof zu fahren, ich hätte es mir anders überlegt. Aber dafür war es nun zu spät, denn in einiger Entfernung tauchte Schloss Barras in meinem Blickfeld auf.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber auf den ersten Blick wirkte es auf mich sehr furchterregend. Dazu trug natürlich das Dämmerlicht des beginnenden Abends bei. Wie aus einer anderen Welt schien dieses uralte riesige Gemäuer auf mich zuzukommen. Im abendlichen Dunst sah ich die vielen Erker und Türmchen, und in einigen wenigen Fenstern war bereits Licht zu sehen. Die riesigen Bäume, die überall standen, verstärkten noch mein Gefühl der Unwirklichkeit.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem alten Gemäuer abwenden. Wie gebannt starrte ich darauf.
Hier war also meine Mutter geboren worden, und hier war sie aufgewachsen.
Leicht schauderte ich und zog mein Wollcape fester um mich, als könne es mich schützen vor diesem alten Schloss, in dem sich so viele Schicksale abgespielt haben mussten.
Wir bogen ganz gemächlich in einen Hof ein, und vor dem großen Eingangsportal hielt mein Fahrer an und rührte sich nicht. Jetzt war ich mir sicher, dass er fest schlief.
Also nahm ich meinen Koffer, stieg aus und sah mich erst einmal um.
Die alte Schindmähre vergewisserte sich, dass sie ihre Fracht losgeworden war und trottete dann langsam von dannen. Bestimmt freute sie sich auf ihren Hafer, den sie sich auch verdient hatte.
Ich straffte meine Schultern und ging auf das Tor zu. Inzwischen war es dunkel geworden.
Was, wenn man mich überhaupt nicht erwartete?
An der Tür betätigte ich einen wuchtigen Klingelzug. Erst einmal tat sich gar nichts, dann aber hörte ich von innen Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Vor mir stand ein älterer Herr, den ich sofort, ohne dass er irgendeinen Ton hätte von sich geben müssen, als den Butler erkannte.
Sein Gesichtsausdruck, sein Habitus, wie er da stand und mich musterte, und natürlich seine Kleidung, das konnte einfach nur ein englischer Butler sein, wie es sie in allen Häusern des Hochadels gab. Nachdem er mich kurz von oben bis unten gemustert und wohl für akzeptabel befunden hatte, begrüßte er mich.
„Ah, Miss Hessler. Schön, dass Sie da sind. Mein Name ist Mister Haggety. Ich bin der Butler. Sie werden bereits erwartet.“
Also trat er beiseite, und ich durchschritt die Tür, hinein in ein neues Leben.