Читать книгу Gefahr auf Schloss Barras - Sylvia Weill - Страница 6

2. Kapitel

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Grafschaft Cornwall, Schloss Barras, 1881

Als ich mich in der Halle umsah, während Mr Haggety umsichtig die Tür wieder schloss und verriegelte, war ich froh, dass Tante Lilibeth mir alles haarklein geschildert hatte. Sonst wäre ich überwältigt gewesen.

Das Gaslicht war schon entzündet worden, konnte aber die ganze Größe und Pracht der Halle nur notdürftig erhellen. Trotzdem fiel einem die große Freitreppe sofort ins Auge. An den Wänden hingen riesige Gobelins, die mir teilweise schon etwas verblichen vorkamen. Aber wie lange sie wohl hier schon hingen? Jahrhunderte?

„Bitte folgen Sie mir.“

Wir gingen zum hinteren Ende der Halle und erreichten eine Küche, deren Ausmaße meine Vorstellungskraft sprengte.

Voluminöse Kohleherde standen mitten im Raum und verbreiteten eine wohlige Wärme. Überall hingen oder standen Töpfe, Pfannen und all die Gegenstände, die man in einer Küche so brauchte. Und es roch sehr verführerisch nach Essen.

In dem Moment bemerkte ich erst, dass ich einen ganz schönen Hunger hatte.

Mr Haggety nahm mir meinen Koffer ab, stellte ihn in eine Ecke und führte mich zu einem großen Tisch, an dem schon mehrere Personen saßen. „Das ist Miss Hessler, die neue Gesellschafterin der Gräfin“, stellte er mich vor.

Bereitwillig rutschten sie zusammen, während sie mich interessiert musterten. Ich setzte mich und bekam sofort ein Glas Apfelmost vor mich hingestellt.

Alle sahen mich noch einen Moment an, dann wurde wie auf ein geheimes Zeichen hin die allgemeine Unterhaltung wieder aufgenommen. Ab jetzt gehörte ich dazu, und man musste sich keine großen Gedanken mehr um „die Neue“ machen.

Ich trank dankbar von dem köstlichen Most, und jemand stellte einen Teller voll Essen vor mich hin. Ich griff beherzt zu, denn die Reise hatte mich sehr hungrig gemacht. Der Imbiss im Zug war bereits viele Stunden her gewesen. Es schmeckte köstlich.

Mir gegenüber saß eine etwas ältere, ein wenig füllige Frau mit einem runden, offenen Gesicht. „Du bist also die Gesellschafterin, die sich heute vorstellen will. Mylady hat mir davon berichtet.“ Einen Moment lang sah sie mich abschätzig an, so als wolle sie ergründen, ob ich für diese Arbeit überhaupt geeignet sei.

Ich nickte und aß in aller Seelenruhe meine Pastete weiter. Was konnte mir denn nun noch geschehen? Selbst wenn die alte Gräfin mich nicht einstellen würde, so hätte ich wenigstens das Haus meiner Mutter einmal selbst gesehen und nicht nur immer in Tante Lilibeths Erzählungen.

„Ich bin Rose, so eine Art Hausdame hier. Nur keine Angst, ich beiße nicht und fühle mich auch nicht als was Besseres. Aber ich bin Mylady gegenüber verantwortlich.“

Ihre Herzlichkeit gefiel mir. „Ich heiße Catherine. Catherine Hessler. Und natürlich hoffe ich, die Stellung zu bekommen.“

Rose nickte nur mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck.

„Wann kann ich sie denn sehen?“, wollte ich wissen.

Rose musste grinsen. „Oh, heute nicht mehr. Mylady pflegt früh zu Bett zu gehen. Morgen nach dem Frühstück wird sie Zeit haben. Du übernachtest natürlich hier.“

Erstaunt sah ich sie an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber das sollte mir recht sein. Von der Reise war ich so müde, dass ich mir jetzt wirklich in dem kleinen Ort nicht auch noch ein Zimmer suchen wollte. Außerdem hätte das mein Reisegeld angegriffen.

Da fuhr mir plötzlich von der Seite ein Ellenbogen in die Rippen. Ein dralles Mädchen in meinem Alter grinste mich an und sagte schadenfroh: „Na, ob du das nicht noch bereuen wirst, wenn sie dich nimmt.“

Rose sah sie ermahnend an. „Daisy!“

Diese schürzte ihre Lippe, nicht im Mindesten eingeschüchtert. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ Damit biss sie herzhaft in einen Apfel, und als Rose wieder wegsah, streckte sie ihr die Zunge heraus und grinste mich verschwörerisch an. „Du bist in meiner Kammer untergebracht. Wenn du willst, können wir vorm Schlafen noch ein bisschen tratschen. Ach, es gibt nichts Schöneres, als sich vor einem guten Schlaf noch ein wenig das Maul zu zerreißen, findest du nicht auch?“ Wieder stieß sie mich übermütig mit dem Ellenbogen an.

Ich musste lachen über Daisys unbeschwerte Art und fühlte mich plötzlich nicht mehr so allein in diesem alten Gemäuer.

Als sie sich wieder ihren anderen Tischgenossen zuwandte, bemerkte ich, dass Mr Haggetys Blick nachdenklich auf mir ruhte. Er saß etwas abseits an der Stirnseite des Tisches.

Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken, überlegte aber, wie alt er wohl sein konnte. Schwer zu schätzen, konstatierte ich. Am Ende war er älter, als er aussah. Hatte er meine Mutter und meine Tante noch gekannt? Das würde es mir natürlich schwer machen, hier mein Inkognito zu wahren.

Am Ende des köstlichen Mahls sah Rose mich an. „Bring deinen Teller zu Mrs Pengaster und geh dann mit Daisy auf euer Zimmer. Sie wird dir alles zeigen.“

Es war wie ein Nadelstich in mein Herz. Das hatte ich bei all den neuen Eindrücken ganz vergessen. Mrs Pengaster war die Einzige hier, die in meinen Plan eingeweiht war. Tante Lilibeth hatte mir eingebläut, mich ihr gegenüber in keinster Weise zu erkennen zu geben. Sie war für mich eine Fremde wie alle anderen Bewohner dieses Schlosses auch. Und Mrs Pengaster würde sich mir gegenüber auch so verhalten.

Also folgte ich den anderen in die Küche, um das Geschirr zu der Köchin zu bringen, die es dann abwaschen würde.

Ich hatte sie mir so nicht vorgestellt. Komisch, jeder denkt wohl, dass eine Köchin wohlbeleibt und gemütlich ist, weil ihr das eigene Essen schmeckt.

Aber nicht so Mrs Pengaster. Sie war relativ klein, dünn und feinnervig. Ihr Haar hatte sie zu einem gewagten Dutt auf dem Kopf aufgetürmt, der jeden Moment zu kippen drohte, und ihre Bewegungen waren fahrig.

Das Interessanteste an ihr waren jedoch ihre Augen. Es waren die jugendlichen, blitzgescheiten Augen eines Menschen, der alles in seiner Umgebung mitbekommt und dem nichts entgeht.

Ich gab ihr meinen Teller, den sie hektisch ergriff. Dabei blickte sie mich nervös von unten an, ich war bestimmt einen ganzen Kopf größer als sie, verharrte einen Moment lang mit ihrem Blick in meinen Augen, um dann zum nächsten zu schauen.

Verstört ging ich zu Daisy, die schon auf mich wartete und wieder an einem Apfel knabberte. Sie musste wohl bemerkt haben, dass mich Mrs Pengaster verunsichert hatte. Grinsend sagte sie: „Ach, lass dich von der alten Pengaster nicht verunsichern. Die hat das Herz am rechten Fleck. Ist halt sehr nervös. Aber kochen kann sie, oder?“

Erleichtert musste ich jetzt auch lachen. „Oh ja. Das kann man aber wirklich behaupten.“

Sie nickte nur. „Na, dann komm mal mit in unsere Luxusunterkunft.“

Mit einem enervierend wiegenden Schritt setzte sie sich in Bewegung.

Ich grinste vor mich hin, wie ich da mit meinem Koffer hinter ihr herlief, denn es war so offenkundig, was Daisy im Kopf hatte, dass ich meine Reisekasse darauf verwettet hätte. Garantiert würde ich an diesem Abend noch einiges über die jungen Männer hier im Schloss zu hören bekommen.

Daisy schlief in einem kleinen Zimmer im Dienstbotentrakt. Wie jede dieser Unterkünfte war es schmucklos und nur notdürftig eingerichtet. Schließlich sollten die Bediensteten sich nicht wohlfühlen, sondern arbeiten, und da sie sowieso nur zum Schlafen in ihre Räume kamen, wurden keine Ausgaben für einen behaglichen Raum ausgegeben.

So standen hier zwei Holztruhen für die Kleidung, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und natürlich die beiden Betten. Darauf lag jedoch eine wohlig warm aussehende Daunendecke.

Daisy ließ sich auf ihr Bett fallen und grinste mich an. „Na, Gnädigste, zufrieden mit dem Schlafgemach?“

Ich setzte mich auf das andere Bett und lächelte. „Aber ja. Ich kenne das doch. Glaubst du, ich komme aus einem Schloss? Dann müsste ich nicht hier arbeiten.“

„War doch nur ein Spaß“, grinste sie. „Woher kommst du denn?“

„Aus Wiltshire. Avebury.“

Sie nickte bedächtig und betrachtete ihre Fingernägel an der rechten Hand. „Ah, die Steinkreise.“

„Du kennst sie?“, fragte ich erstaunt.

„Ich habe mal einen Onkel da oben besucht. Ist aber schon lange her. Der ist mit uns durch die Steinkreise gelaufen. Hab ich nie vergessen.“

Ich konnte sie nur staunend angucken. Ich war so oft durch die uralten Steinkreise gelaufen und hatte mir ausgemalt, dass ich als Erwachsene Archäologin werden würde, um dann ihr Geheimnis zu lüften. Denn bis heute weiß niemand, wer sie erbaut hat, wie sie erbaut wurden und welchem Zweck sie dienten.

„Morgen geht’s also zur Gnädigsten, was?“, holte mich Daisy aus meinen Erinnerungen.

Ich nickte nur.

Eine Weile lang sagte sie nichts, sodass ich sie überrascht ansah, als sie sprach. „Wird nicht einfach werden.“

„Aber du kommst doch auch mit ihr aus.“

Bedächtig wiegte sie mit ihrem Kopf. „Na ja, ich bin in der Küche, habe mit Mylady eigentlich nur selten mal was zu tun. Und runterkommen tut sie nicht. Mrs Pengaster geht immer zu ihr, um die Menüs zu besprechen.“

„Und wie ist sie so?“

„Och Gott. Wie ist sie?“ Sie wiegte wieder mit ihrem Kopf und warf mir einen prüfenden Blick zu, um abzuschätzen, wie weit sie gehen konnte. Schließlich könnte ich ein eingeschleuster Spion ihrer Herrin sein. Na, so ganz falsch war diese Überlegung nun wirklich nicht, schmunzelte ich innerlich.

Daisy war wohl zu dem Urteil gekommen, dass sie mir erst einmal vertrauen konnte, und ihre Klatschsucht hatte dazu wohl ein Übriges getan. „Na ja“, hob sie bedächtig an, „einfach ist sie nicht.“

„Wie meinst du das?“, wollte ich sofort wissen, innerlich alarmiert. Denn schließlich handelte es sich um meine Großmutter.

„Sie ist sehr streng. Leisten darfst du dir bei ihr gar nix. Die feuert dich sofort.“

„Behandelt sie euch denn schlecht?“

Wieder suchte sie nach Worten. Sie war wohl immer noch ein wenig vorsichtig. „Nicht unbedingt. Jeder respektiert sie. Aber sie ist halt eiskalt. Als die arme Betsy letztes Jahr ein Kind von einem der Stallburschen bekam und Mylady das mitbekommen hat, hat sie sie sofort vor die Tür gesetzt. Ratzfatz.“ Um es zu bekräftigen, flog ihr rechter Arm zur Seite. „Und bei den Männern ist sie noch strenger. Die dürfen sich überhaupt nix erlauben. Neulich ist einer der Pächter aufmüpfig geworden, weil er die Pacht nicht bezahlen konnte. Die Gnädigste hat es sich nur angehört, sich ihr Lorgnon ins Auge gesetzt, ihn eine Weile kalt gemustert und ihn dann mitsamt seiner Familie rausgeworfen.“ Bedächtig nickte sie mit dem Kopf. Wie gerne sie diese Geschichten preisgab, war nicht zu übersehen. „Die hocken nun beim Bauern Litford und müssen auf den Feldern schuften. Und schieben einen Hass auf Mylady. Mein lieber Schwan.“

„Oh je, oh je. Na, da blüht mir was“, murmelte ich kleinlaut.

„Ach was. Wenn die merkt, dass jemand ein bisschen Grips im Kopf hat, wird sie gleich weicher. Die will immer über so gelehrtes Zeugs reden. Weiß der Kuckuck, woher sie das hat.“

Davon hatte mir Tante Lilibeth gar nichts erzählt. Aber sie sprach von ihrer Mutter sowieso nicht viel und wenn, dann nicht sonderlich nett.

Wie ich Daisy zuhörte, kamen mir doch Bedenken, ob es richtig war, was ich tat. Aber nun war ich hier und musste die Suppe auslöffeln, die ich mir selbst eingebrockt hatte. „Waren denn schon viele Gesellschafterinnen da?“

Daisy lachte auf. „Da kannst du aber einen drauf lassen.“ Sie schlug sich mit gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. „Oh, entschuldige. So was sagt man da oben ja nicht.“

Natürlich war es ihr in keinster Weise wirklich peinlich, und dafür mochte ich sie gleich noch mehr. Sie hatte das Herz am richtigen Fleck. Zu solchen Menschen habe ich mich immer schon hingezogen gefühlt.

„Die Letzte war länger da, weiß der Himmel, warum. Vielleicht, weil die sich nicht alles von ihr gefallen lassen hat. Die hat es ihr ab und zu ganz schön zurückgegeben. Junge, Junge. Wenn wir gelauscht haben, die Hetty und ich, wollten wir es nicht glauben. Uns hätte sie für solche Frechheiten geteert und gefedert. Aber die beiden Nebelkrähen haben gestritten wie die Kesselflicker und sich dann wieder vertragen.“

Das Bild von meiner Großmutter verrutschte in meinem Kopf immer mehr.

„Was glaubst du, wie lange wir das in der Küche hin und her besprochen haben. Keiner hat es kapiert, selbst Haggety nicht. Nur die alte Pengaster hat immer gesagt, nu, so is sie eben.“ Sie äffte Mrs Pengasters abgehackte Sprechweise nach, sodass ich laut lachen musste. „Mit der alten Bauers ist sie sogar verreist. Wirklich komische Geschichte. Na ja, die hatte halt was auf dem Kasten. War mal mit einem Doktor verheiratet oder so.“ Und damit verlor Daisy wohl die Lust an diesem Thema. Schläfrig begann sie, sich auszuziehen, und ich tat es ihr nach.

„Wen gibt es denn sonst noch da oben?“ Ich wies mit meinem Kopf in die entsprechende Richtung.

„Puh“, gab Daisy von sich. „Alle nicht einfach. Halten uns auf Trab.“ Plötzlich grinste sie zweideutig. „Nur der junge Lord nicht. Also, er ist noch kein Lord, weil er den Titel erst noch erbt, aber der ist ein Goldstück.“

Dabei bekamen ihre Augen einen seltsamen Glanz und mir wurde klar, dass wir uns jetzt wohl Daisys Lieblingsthema näherten. „Der wohnt aber nicht hier. Der kommt immer von drüben. Ist der Sohn von irgendeinem weitläufigen Verwandten von Mylady. Und weil keine Nachkommen da sind, erbt halt er mal den Titel und alles hier, damit er die Linie fortsetzt.“

Um sie bei Laune zu halten, fragte ich: „Sieht er gut aus?“

Langsam und verträumt setzte sie sich wieder auf ihr Bett. „Gut? Das ist der schönste Mann, der weit und breit rumläuft. Jede Frau ist hin, wenn sie den sieht.“ Sie warf mir einen abschätzenden Blick zu. „Na ja, bei dir weiß ich nicht. Kenn dich noch gar nicht. Aber der gefällt dir bestimmt auch. Bei dem kriegt sogar die alte Pengaster noch Gefühle.“ Diese Vorstellung löste in Daisy einen Lachanfall aus, in den ich einstimmte.

Bis wir die Kerze an diesem Abend löschten, erzählte Daisy von „dem jungen Lord“, in den sie unsterblich verliebt war. Alles hatte sie schon versucht, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber nichts hatte bisher gefruchtet. Das frustrierte sie sehr, denn bei all den anderen Männern brauchte sie sich angeblich nicht so anzustrengen. „Na ja. Unsereins muss nehmen, was da kommt. Aber ich tät ihn nicht von der Bettkante stupsen.“ Das murmelte sie, nachdem sie die Kerze ausgepustet und mir eine gute Nacht gewünscht hatte. Kurz darauf war sie auch schon eingeschlafen und fing zu schnarchen an.

Zunächst befürchtete ich, dass ich bei diesem Höllenlärm wohl nicht würde schlafen können, aber die lange Zugfahrt und das gute Essen hatten mich so müde gemacht, dass mir bald die Augen zufielen und ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank.

Geweckt wurde ich von dem ohrenbetäubenden Gegacker eines Hahns, der wohl genau unter unserem Fenster meinte, alle aus den Federn schmeißen zu müssen.

„Verdammtes Mistvieh“, hörte ich eine verschlafene Daisy fluchen. „Jeden Morgen dasselbe Theater.“

„Na, da habt ihr euch ein schönes Exemplar von einem Hahn angelacht.“

„Ein Hahn?“, lachte Daisy belustigt. „Das ist Clodagh. Die ist ein Mädchen, meint aber, sie wäre der Platzhirsch. Weiß der Himmel, wo sie gelernt hat, wie ein Hahn zu schreien. Nimm dich bloß vor diesem Mistvieh in Acht. Wen sie nicht leiden kann, der hat nix zu lachen.“

Da musste ich doch mal einen Blick aus dem Fenster riskieren. „Aber die ist ja weiß.“

Daisy lachte. „Ja, unsere Clodagh ist was Besonderes. Mr Haggety meint, die wär wohl ein Albino als Henne. Äh, als ... Keine Ahnung.“

Verständnislos schloss ich das Fenster wieder. Ich hatte jetzt andere Dinge zu tun, als mir weiter Gedanken über Clodagh zu machen.

Mrs Pengaster hatte für alle ein köstliches Frühstück bereitet, aber ich war nicht hungrig und konnte daher kaum etwas essen. Das bevorstehende Gespräch mit meiner Großmutter nahm mir jeden Appetit.

Rose klopfte mir liebevoll auf die Schulter. „Die wird dich schon nicht auffressen. Kopf hoch. Wär schön, wenn du bei uns bleiben könntest.“

Noch ehe ich nicken konnte, erschien Mr Haggety in der Küche und bedeutete mir unmissverständlich, dass ich ihm zu folgen habe. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich strich über mein Kleid und hoffte, dass ich keinen Tee darauf gekleckert hatte. Als ich an ihr vorbeiging, warf mir Mrs Pengaster einen Blick zu, der meinen für kurze Zeit festhielt. Ich sah, dass sie alles wusste und alles verstand. Das beruhigte mich komischerweise.

Mr Haggety führte mich in die Halle und dann die große Treppe hinauf. Dort bog er in die Galerie ein. Hier warfen mir all meine Vorfahren hochnäsige, gelangweilte, arrogante oder spitzbübische Blicke zu. Sollte ich bleiben, würde ich mich mit der Vorgeschichte der Familie beschäftigen. Das nahm ich mir fest vor.

Wir bogen dann in einen Gang ein, der den gesamten Flügel von Barras schnurgerade durchzog. Endlich blieb er an einer Tür stehen und bedeutete mir, dass ich warten solle. Er selbst huschte in den Raum, und ich konnte hören, wie er mich ankündigte.

„Miss Hessler, Mylady. Soll ich sie hineinführen?“

Die andere Stimme konnte ich nicht hören.

Aber Mr Haggety kam gleich wieder heraus, hielt mir die Tür auf und bedeutete mir einzutreten. Irgendwie spürte ich in meinem Innersten, dass sich von nun an mein Leben verändern würde.

Ich hob den Kopf, drückte die Brust raus und ging durch die Tür, um mich meiner Großmutter zu stellen, die nicht wusste, wer ich war.

Mr Haggety hatte mich in eine große Bibliothek geführt. Überall standen Bücher in hohen Regalen, die bis zur Decke reichten. Dazwischen ließen hohe gotische Fenster nicht genug Licht hinein, sodass der riesige Raum düster wirkte.

In einem großen Kamin knackte ein munteres Feuer, vor diesem Kamin standen sich zwei große Ohrensessel gegenüber. Dazwischen befand sich ein Teetisch, auf dem zwei Tassen und eine Kanne Tee auf einem Stövchen angerichtet waren.

Die Gestalt in dem einen Ohrensessel konnte ich zunächst nicht richtig erkennen. Sie saß zurückgelehnt und blieb so im Schatten.

Ich ging ein paar Schritte auf sie zu und blieb dann stehen, denn ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Mr Haggety hatte sich entfernt, und die alte Lady sagte nichts.

Als meine Augen sich an das düstere Licht gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass sie im rechten Auge ein Lorgnon trug, das an einer langen, schwarzen Kette befestigt war, die ihr bis in den Schoss fiel.

Sie schien mich dadurch zu mustern. Mir wurde immer unbehaglicher zumute. So hatte ich mir meine Großmutter nun auch nicht vorgestellt. Sie wirkte wie die Direktorin eines Mädchenpensionates, die die neue Schülerin begutachtete, und ließ sich viel Zeit dabei.

Ich wippte vor Nervosität von einem Fuß auf den anderen.

Schließlich begrüßte sie mich mit einer herrischen und überraschend jugendlichen Stimme. „Miss Hessler?“

„Ja, Mylady. Guten Tag, Mylady.“

Sie betrachtete mich weiterhin und wies mir dann mit einer knappen Geste den Platz ihr gegenüber an. Zögernd nahm ich Platz.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich ohne viele Worte so einschüchtern würde, obwohl mir Tante Lilibeth darüber immer wieder berichtet hatte.

„Tee?“

Ich nickte nur, wollte nicht gleich ablehnend wirken, denn eigentlich hatte ich in der Küche schon genug Tee getrunken.

„Dann gießen Sie uns bitte ein.“ Sie beobachtete mich, und mir war klar, dass dies der erste Test war. Aber der machte mir keine Angst.

Ich goss uns Tee in die bereitstehenden Tassen, fragte sie, ob sie Milch und Zucker wünsche, was sie mit einer knappen Geste verneinte, nahm ihre Tasse und reichte sie ihr. Dabei konnte ich sie ein wenig besser betrachten.

Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit einem langen Rock. Ihr kräftiges weißes Haar trug sie in einem Knoten im Nacken. Ihr Gesicht war glatt, obwohl es das Gesicht einer alten Frau war, und die Augen waren dunkel und groß. Ihre Blicke jedoch waren nicht wohlwollend.

Nach einem etwas zu langen Zögern nahm sie die Tasse entgegen. Der Test war wohl bestanden. „Warum wollen Sie als Gesellschafterin arbeiten, Miss Hessler?“

„Meine Eltern haben mir nichts hinterlassen, und ich muss für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. So hatten Tante Lilibeth und ich es besprochen.

„Haben Sie Referenzen?“, fragte sie mich dann.

„Nein, Mylady, es wäre meine erste Anstellung.“

Auch das war mit Tante Lilibeth besprochen. „Sei immer ehrlich zu ihr. Die kriegt es doch raus, wenn du sie anlügst, und dann gnade dir Gott.“

„Wissen Sie, was auf Sie zukäme, sollte ich mich für Sie entscheiden?“, ging die Befragung weiter.

„Selbstverständlich, Mylady.“

Unbewegt musterte sie mich durch ihr Lorgnon.

Wollte sie mehr von mir hören?

Zögernd sprach ich nach einem Moment des Schweigens weiter. „Ich werde zur Verfügung stehen, werde die Korrespondenz erledigen, werde vorlesen, den Tee servieren, mich um die Blumen kümmern und Mylady in allen Belangen unterstützen.“

Ein angedeutetes Nicken schien ihre Zufriedenheit auszudrücken. „Planen Sie Herrenbesuche in meinem Haus?“

Gespielt irritiert sah ich sie an. Tante Lilibeth hatte mich auf diese Frage vorbereitet.

„Mylady?“

Das Lorgnon fiel ihr aus dem Auge, und sie setzte es sich in aller Ruhe wieder ein. „Was Sie an Ihrem freien Tag machen, geht mich nichts an. Aber ich werde in meinem Haus keinerlei Herrenbesuche dulden, die nicht Familienangehörige sind. Ist das klar?“ Auf einem Kasernenhof wurden die neuen Rekruten vermutlich auch nicht viel anders auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht.

„Ich hatte es nicht vor, Mylady“, antwortete ich demütig. Innerlich musste ich ein wenig grinsen, denn die Sittenstrenge ihrer Mutter war für Tante Lilibeth immer ein rotes Tuch gewesen. Darüber war es ja auch zu dem Zerwürfnis der beiden gekommen.

Im Kamin fiel krachend ein glühendes Holzscheit in die restliche Glut. Ein wenig schreckte ich zusammen, denn es war der einzige Laut, der hier zu hören war.

Meine Großmutter beobachtete mich immer noch, so als wäre sie sich nicht sicher, was sie von mir zu halten habe. „Sie sind bemerkenswert hübsch für ein Mädchen in Ihrem Alter. Ich brauche aber jemanden für länger. Planen Sie den Ehestand für die nächste Zeit?“

Auch darauf war ich vorbereitet. „Nein, Mylady, ganz und gar nicht. Sonst wäre ich nicht hier.“

Nach einer weiteren Weile, in der sie nichts sagte und mich nur abschätzig betrachtete, stellte sie ihre Tasse ab, und ich wusste, dass die Inquisition nun vorüber – und der Generalfeldmarschall zu einem Urteil gekommen war.

Komischerweise war ich nun ganz ruhig. Ob das doch an der Blutsverwandtschaft lag? Es war mir jetzt gleich, ob ich die Stellung bekam oder nicht. Ich hatte sie kennengelernt, und das allein zählte jetzt. Die Geschichte meiner Mutter war natürlich noch wichtig, aber die Dominanz meiner Großmutter faszinierte mich.

„Halten Sie sich bitte in der Küche zur Verfügung und schicken Sie mir Mr Haggety.“

Ich nickte nur stumm und ging zur Tür. Dabei war ich mir sicher, dass sie mir die ganze Zeit über nachsah und ihren Entschluss, wie immer der auch ausgefallen sein mochte, noch einmal überdachte.

Draußen hatte ich erst einmal Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Ich war noch so gefangen von dieser Begegnung, dass ich zuerst nicht wusste, wie ich zurückkam. Aber ich hatte mir auf dem Weg her das eine oder andere in dem langen Gang eingeprägt, und als ich ein ganzes Stück weiter eine Ritterrüstung entdeckte, wusste ich, dass ich dort entlang gehen musste. Jeder Besucher würde sich hier ganz schnell verlaufen.

Als ich schon fast die breite Treppe erreicht hatte, kam mir aus der Galerie eine ältere Frau entgegen. Ich war sogleich fasziniert von ihrem schönen Altersgesicht.

Es gibt ganz wenige Menschen, ob nun Männer oder Frauen, die mit zunehmendem Alter eine Schönheit entwickeln, die sie als junger Mensch nicht besessen haben. Und ich war mir ganz sicher, dass diese Frau zu jener Art Mensch gehörte. Dabei war es gar nicht so sehr ihre Schönheit, die mich für sie einnahm. Sie hatte etwas in ihrer Erscheinung, das eine abgeklärte Lebensfreude ausstrahlte, eine Leichtigkeit, die das Dasein so hinnahm, wie es eben kam, und sich nicht mit negativen oder belastenden Gedanken aufhielt. Mit ihrer dezenten, aber ungeheuer geschmackvollen Aufmachung verriet sie die leichte Hand, mit der sie stilsicher genau das für sie Passende fand. Ich war ihr sofort verfallen.

Natürlich wusste ich, wer sie war. Tante Lilibeth hatte mir ihre Schwester Sylvia, Lady Mulford, genauestens beschrieben. Auch ihre Schattenseiten, die früher wohl darin bestanden, dass sie das Leben manchmal ein wenig zu leicht nahm und dadurch den Menschen eine Anteilnahme vorspiegelte, die sie gar nicht empfand. Aber das spielte in diesem Moment des Kennenlernens keine Rolle. Man musste sie einfach sofort bewundern.

Freundlich sah sie mich aus ihren schönen Augen an. „Oh, Kindchen. Sind Sie auf dem Weg in die Küche?“ Dabei fasste sie an ihre lange Perlenkette, die ihren Typ perfekt unterstrich, und spielte leicht damit, so als sei sie in Gedanken.

„Ja, Mylady.“

„Dann bitten Sie Rose doch, umgehend zu mir zu kommen.“

„Natürlich, Mylady.“

Sie warf mir ein flüchtiges Lächeln zu und verschwand in einem der Gänge, hinterließ einen ganz dezenten Duft nach Maiglöckchen.

Ich blieb an der Balustrade stehen und hielt mich daran fest.

Das war auf einen Schlag ein bisschen viel für mich. Erst meine absolut imposante Großmutter, die mich mit ihrer Dominanz fast erschlagen hatte, und dann gleich hintendrein die jüngere Schwester meiner Mutter, meine Tante Sylvia. Auch die war in natura viel beeindruckender als aus den Schilderungen von Tante Lilibeth.

Langsam ging ich hinunter in die Küche.

Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich hierbleiben wollte. Irgendwie hatte ich kein so gutes Gefühl mehr, als ich durch die düstere Halle mit den riesigen Gobelins ging, auf denen Schlachten geschlagen wurden, die vor so langer Zeit stattgefunden hatten, dass sich niemand mehr daran erinnerte.

Als ich unten ankam, waren alle schon schwer damit beschäftigt, den Lunch zuzubereiten. Mrs Pengaster warf mir nur einen ihrer seltsam verstehenden Blicke zu, und ich befürchtete, dass ihr Dutt im nächsten Moment herunterkippen würde.

Bevor ich den Tisch erreichte, konnte ich noch hören, wie sich Rose und Daisy leise unterhielten. Sie saßen mit dem Rücken zu mir, und es ging ziemlich laut in der Küche zu, so sahen sie mich nicht herankommen.

„Glaubst du, sie wird sie nehmen?“

„Keine Ahnung. Aber irgendwas stimmt mit der nicht, ich kann es riechen.“

„Was denn?“

„Weiß nicht. Irgendwie ist die nicht wie eine Gesellschafterin.“

„Hoffentlich verschwindet die nicht auch wie die alte Bauers. Ich würde es nicht überstehen.“

Das war mir genug. Ich machte mich bemerkbar, und die beiden schreckten hoch.

„Äh, Mylady will Mr Haggety sofort sehen“, schnaufte ich und tat ein wenig kurzatmig.

Rose stand gleich mit einem schuldbewussten Gesicht auf. „Der ist im Garten. Ich geh gleich zu ihm.“

„Danke. Ich soll hier warten“, antwortete ich, worauf die beiden sich sehr erstaunt ansahen. Dann verschwand Rose.

Ich setzte mich zu Daisy, die kein schlechtes Gewissen zu haben schien, weil sie gerade über mich gesprochen hatte. Gelangweilt trank sie ihren Tee. „Na, wie war es in der Höhle des Löwen?“

„Och, interessant. Jetzt verstehe ich dich besser.“

Sie grinste mich wissend an.

„Junges Fräulein“, krähte es da von hinten. „Du bist hier nicht zum Faulenzen eingestellt. Beweg deinen Hintern und hilf mir bei der Pastete, aber ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.“

Mrs Pengaster!

Daisy verdrehte genervt die Augen und erhob sich provozierend langsam von der Bank. „Ich komm ja schon.“

So saß ich einen Moment allein an dem Tisch. Am anderen Ende saß der alte Kutscher, der mich vom Bahnhof abgeholt hatte und hielt ein Nickerchen. Leise schnarchte er vor sich hin.

Da kam Rose zurück und gab mir zu verstehen, dass sie ihren Auftrag ausgeführt hatte. Erst da fiel mir ein, dass ich auch für sie noch einen Auftrag hatte.

„Ach, Rose. Ich traf Lady Mulford. Sie bat mich, dich sofort zu ihr zu schicken.“

Rose sah mich nur überrascht an.

Natürlich hatte ich im selben Moment meinen Fauxpas bemerkt. Ich hätte mir auf die Zunge beißen können. Aber nun war es raus. Als ganz neue Besucherin auf dem Schloss konnte ich natürlich nicht den Namen von meiner Tante wissen. Rose hatte das sofort bemerkt. Aber sie nickte nur und verschwand dann.

Fieberhaft überlegte ich, was ich anführen konnte, sollte sie mich danach fragen. Ich beschloss vorzugeben, dass der alte Kutscher sie auf der Herfahrt erwähnt haben würde. Dabei traten mir leichte Schweißtropfen auf die Stirn.

Worauf hatte ich mich hier nur eingelassen!

Wenn ich zur Seite schaute, konnte ich immer wieder Mrs Pengaster beobachten, wie sie mir Blicke zuwarf. Wollte sie mir etwas sagen? War es wichtig für mich, dass ich es möglichst bald erfuhr? Aber Tante Lilibeth hatte mir doch eingeschärft, sie nicht anzusprechen.

Das Unterfangen stellte sich als immer schwieriger heraus. Und dabei hatte es noch nicht einmal richtig begonnen. Na ja, bald würde ich vielleicht wieder in der Kutsche sitzen und zur Bahnstation zurückgefahren werden, vielleicht sogar mit einer eindeutigen Absage von Mylady. Und wenn nicht, musste ich eben bei Tante Lilibeth auf eine Antwort warten. Vielleicht wollte ja sogar ich dann nicht mehr hier arbeiten, sollte sie wider Erwarten positiv ausfallen.

In Gedanken spielte ich die Rückfahrt schon durch. Tante Lilibeth hatte mir das Geld für das Billett in den Saum meines Kleides genäht. Bevor ich meine Sachen hier wieder packte, würde ich den Saum nur leicht auftrennen und das Geld in meinen Beutel stecken müssen. Der alte Kutscher würde mich schon nicht überfallen, grinste ich vor mich hin, während ich Tee trank.

Ich streckte mich ein wenig und malte mir schon aus, dass ich wiederum eine nette Reisebekanntschaft machen würde, mit der die Zeit wie im Fluge vergehen würde, genau wie es auf der Herfahrt der Fall gewesen war.

Ich weiß nicht, wie lange ich an dem Tisch saß mit all den Geräuschen und Gerüchen um mich herum, die eine solch große Küche mit sich bringt, als Mr Haggety lautlos auf mich zukam und mich mit seiner unbeteiligten Miene musterte, als verstünde er die Welt nicht mehr.

„Mylady wünscht Sie noch einmal zu sehen, Miss.“

„Selbstverständlich.“

Damit erhob ich mich und folgte ihm erneut. Jetzt kannte ich den Weg schon und fand ihn gar nicht mehr so weit weg von der Küche.

Was sie mir wohl zu sagen hatte? Bestimmt würde sie mir mit ihrer kalten Stimme kurz und knapp mitteilen, dass sie keine Verwendung für mich hätte, dass ich noch den Lunch in der Küche mit den Dienstboten einnehmen könne und dann aus Barras entlassen sei mit den besten Wünschen für meine Zukunft.

Ich würde damit leben können.

Diesmal durfte ich sogleich eintreten. Wieder blieb ich in gebührendem Abstand von ihr stehen. Sie saß noch immer in ihrem Sessel vor dem Kamin, und wieder klemmte sie sich ihr Lorgnon in das rechte Auge und musterte mich. Mr Haggety war im Raum geblieben, was mich nicht verwunderte. Auch diesmal kam die knappe Geste von ihr, mit der sie mich aufforderte, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Das Teeservice war jedoch verschwunden.

Die knackenden Holzscheite waren das einzige Geräusch in diesem unheimlichen Raum.

„Miss Hessler.“

Das war mehr ein Befehl als der Beginn eines Gesprächs. Gehorsam hob ich meinen Blick und sah sie an.

Wieder Stille. Hinter ihr stand Mr Haggety zur Salzsäule erstarrt, der perfekte Butler.

„Sie scheinen mir geeignet. Können Sie sofort mit der Arbeit beginnen?“

Erstaunt hob ich meine Augenbrauen und starrte sie an. Das schien sie kein bisschen zu erstaunen. Sie wusste um die Wirkung ihrer Worte und gab mir nur einen Moment Zeit. „Nun, Sie scheinen Ihre Sprache verloren zu haben.“ Das klang fast freundlich.

Mr Haggety fixierte noch immer ein Buch im gegenüberliegenden Regal, so als bekäme er von der unter ihm stattfindenden Unterhaltung nichts mit.

„Äh, Mylady, ich bin überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet.“

„Ich weiß, meine Liebe.“

Ich rutschte ein wenig unruhig auf meinem Sessel hin und her. Was sollte ich denn jetzt sagen? Im Grunde hätte es nicht besser kommen können. Aber plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob mein Plan wirklich gut war.

„Nun, meine Gute. Wie ist Ihre Antwort?“

Da straffte ich meinen Körper, sah sie ruhig an und antwortete: „Natürlich geht das. Ich freue mich, Mylady. Vergeben Sie mir mein Zögern.“

„Gut. Dann wird Ihnen Mr Haggety alles Weitere erklären. Sie bekommen ein Zimmer, das ganz in der Nähe von meinem liegt, damit ich Sie jederzeit erreichen kann. Die Mahlzeiten können Sie wahlweise mit den anderen Dienstboten in der Küche oder in Ihrem Zimmer einnehmen. Das steht Ihnen frei. Haben Sie noch Fragen?“

Ich erhob mich. „Nein, Mylady.“

Gnädig nickte sie. „Gut, dann folgen Sie Haggety erst einmal. Später brauche ich Sie dann, um einige Briefe zu schreiben. Fühlen Sie sich dazu schon in der Lage?“

„Selbstverständlich, Mylady.“

Dann war ich mit einer Geste entlassen. Haggety setzte sich in Bewegung, und ich folgte ihm.

Ohne ein Wort zu verlieren, schritt ich mit ihm durch mehrere Gänge, die ich vermutlich niemals würde auseinanderhalten können. Bestimmt würde ich mich in diesem weitläufigen Schloss zu Beginn ständig verlaufen.

Als wir einen sehr luxuriös eingerichteten Gang erreichten, blieb er vor einer der Türen stehen und öffnete sie. „Ihr Zimmer, Miss. Die Räume von Mylady befinden sich genau gegenüber.“ Vage deutete er auf die andere Seite des Ganges.

Ich verliebte mich auf den ersten Blick in dieses wunderschöne Zimmer, das ganz im viktorianischen Stil eingerichtet war. Im Moment wurde der in allen großen Häusern kultiviert, wie ich in Magazinen gelesen hatte. Natürlich war sofort zu sehen, dass es das Zimmer einer Angestellten war, aber mit Daisys Zimmer hatte es keinerlei Ähnlichkeit. Ein großes Himmelbett stand darin, es gab einen Kamin, einen Waschtisch und andere Annehmlichkeiten. An den Fenstern hingen schwere Vorhänge, die ich alle zurückziehen würde, sobald Haggety mich allein gelassen hatte.

„Ich schicke dann Daisy mit Ihren Sachen zu Ihnen, Miss. Später informiere ich Sie noch über die Bezahlung und die restlichen Modalitäten.“

Ich nickte nur, und er schloss die Tür.

„Meine Güte, Cathy“, sprach ich mit mir selbst, „da hast du es aber erstmal gut erwischt.“

Das Bett war genauso, wie ich es am liebsten hatte. Die Matratze war hart, aber ich würde nicht glauben, auf einem Brett zu liegen.

Natürlich kannte ich die missliche Lage von Gesellschafterinnen und Gouvernanten. Sie gehörten zwar nicht zur Familie, aber zum Gesinde eben auch nicht richtig. Es war irgendwas dazwischen, und das nutzten viele Arbeitgeber aus. Darüber konnte man zuweilen in den Zeitungen lesen, wenn so ein armes Geschöpf mal wieder zu Schaden gekommen war.

Aber es passierte auch immer wieder, dass ein verwitweter Herr die Gouvernante seiner Kinder heiratete. Das verursachte zwar vielen moralisch gefestigten älteren Damen Bauchschmerzen, aber es ging gerade noch so durch. Eine Heirat mit einer einfachen Dienstbotin war dagegen ein Ding der Unmöglichkeit, und davon hatte ich auch noch nie gehört. Viele Brotgeber holten sich ihre Untergebenen in ihr Bett, aber an eine Heirat wurde dabei nicht gedacht.

Aber diesen heiklen Themen musste ich mich nun nicht stellen. Zunächst einmal hatte ich mein Ziel erreicht und war auf Schloss Barras angekommen. Meine Aufgaben bei Mylady würden mir keine Schwierigkeiten bereiten, das wusste ich. Und so konnte ich bestimmt das tun, weshalb ich hierhergekommen war: nach den Spuren meiner Mutter suchen. Was würde ich dabei finden? Vielleicht wollte ich es gar nicht so genau wissen. Vielleicht würde ich es sogar verurteilen. Schließlich hatte Tante Lilibeth immer wieder angedeutet, dass meine Mutter kein einfacher Mensch gewesen sei.

„Im Kinderzimmer wollte sie immer das Sagen haben. Eigentlich kam nur Sylvia gegen sie an. Aber auch nur, weil sie ihre kleine Schwester vergötterte. Andere Kinder hatten unter ihrem Regiment wenig zu lachen, das kann ich dir sagen. Zum Glück bist du nicht so.“

Irgendwie habe ich ihr das immer nicht so ganz glauben wollen, denn ich hatte mir ein anderes Bild von meiner Mutter zurechtgezimmert. Aber nachdem ich meine Großmutter kennengelernt hatte, fiel es mir leichter. Konnte es sein, dass meine Mutter Ähnlichkeit mit der Gräfin gehabt hatte? Darüber fiel bei Tante Lilibeth nie ein Wort.

Da klopfte es, und Daisy kam herein. Sie hatte meinen Koffer dabei und grinste.

„Na, das ist ja’n Ding. Gleich engagiert. Wie hast’n du das geschafft? Sonst ist sie doch immer so wählerisch und nix ist ihr recht. Kannst du vielleicht hexen?“

Sie musste selbst über ihren Witz lachen, und ich war erleichtert, dass sie immer noch so war wie vorher und nicht plötzlich fremdelte, nur weil ich nun im Rang über ihr stand.

Sie stellte den Koffer auf mein Bett und sah sich um. „Schönes Zimmer. Kannte ich noch gar nicht.“ Sie sprach nicht weiter, und als ich sie erstaunt ansah, wurde sie fahrig. „Äh, ja. Also ich muss zurück in die Küche. Zum Lunch hole ich dich ab. Den Weg findest du allein nie. Oder willste hier essen? Die alte Bauers hat das immer so gehalten. Dachte wohl, sie wäre was Besseres.“ Dabei verzog sie ihr Gesicht und verdrehte die Augen.

Ich musste schon wieder lachen. „Bloß nicht. Ich sitze gerne bei euch unten. Schließlich bin ich auch eine von euch, oder?“

Das gefiel Daisy sehr. Sie strahlte mich an. „Das ist die richtige Einstellung. Da wirste unten nie Probleme haben. Rose mag dich sowieso“, schob sie ungefragt nach. „Und die alte Pengaster taut auch noch auf, wart’s nur ab.“ Damit flog die Tür hinter ihr zu.

Ich zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster, obwohl kühle Luft hineinkam. Ich sah in den weitläufigen Park hinaus, den Tante Lilibeth beschrieben hatte. Sie hatte ihn sehr geliebt, und oft hatte sie mit den Gärtnern zusammen darin gearbeitet, sehr zur Missbilligung ihrer Mutter. Ganz hinten konnte ich den Steinkreis erkennen, auf den ich sehr neugierig war.

„Der birgt so seine Geheimnisse“, hatte Tante Lilibeth immer angedeutet.

Da es an diesem Vormittag ein wenig kühl war, schloss ich das Fenster wieder und erkundete weiter das schönste Zimmer, in dem ich je gelebt hatte. Am Waschtisch goss ich mir Wasser ein und wusch mein Gesicht und meine Hände. Das war am Morgen in Daisys Zimmer nicht möglich gewesen.

Dann setzte ich mich an den kleinen Sekretär und versuchte, in mich hineinzuhorchen, ob mir eine innere Stimme wohl sagen würde, wer in diesem Raum schon gelebt hatte. Aber ich konnte nichts wahrnehmen. Also nahm ich mir fest vor, am Nachmittag oder aber am Abend gleich Tante Lilibeth zu schreiben. Ganz neutral, falls der Brief geöffnet werden sollte. So hatten wir es besprochen.

Wenig später kam Daisy und holte mich auch schon zum Lunch ab. Akribisch versuchte ich mir den Weg einzuprägen, denn ich konnte nicht jedes Mal jemanden bitten, mich zu meinem Zimmer zu bringen oder mich abzuholen. Es war nicht einfach, aber es gab ein paar markante Punkte, die ich mir genauestens einprägte.

Am Küchentisch war natürlich das große Thema, dass die Gräfin mich sofort im Vorstellungsgespräch engagiert hatte. Aber alle freuten sich und hießen mich herzlich in ihrer Mitte willkommen. Sogar Mrs Pengaster nickte mir mit einem Lächeln zu.

„Na, leicht wird’s nicht mit unserer Gnädigsten“, versuchte Rose mir Mut zu machen. „Aber schließlich trifft es uns alle. Aber du bist am nächsten an ihr dran. Hoffentlich geht das gut. Aber wir helfen dir alle. Nicht wahr, Daisy?“

„Ist doch klaro.“

Das beruhigte mich. Denn ich wusste ja selbst, dass es nicht einfach für mich werden würde.

Gefahr auf Schloss Barras

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