Читать книгу Gefahr auf Schloss Barras - Sylvia Weill - Страница 7

3. Kapitel

Оглавление

Grafschaft Cornwall, Schloss Barras, 1881

Ich erfuhr, dass die Gräfin nach dem Lunch immer ein kurzes Nickerchen machen und sich erst danach wieder um ihre Geschäfte kümmern würde. Offenbar machte Barras und alles, was daran hing, mehr Arbeit, als man sich das vorstellen konnte. Sie rief mich, gleich nachdem Mr Haggety mich über die Formalitäten der Anstellung informiert hatte, zu sich in die Bibliothek.

Im Kamin brannte das knisternde Feuer, diesmal saß sie jedoch nicht in dem Ohrensessel, sondern erwartete mich an einem großen schweren Schreibtisch, auf dem eine Menge Schriftstücke und Unterlagen herumlagen.

Als ich eintrat, klemmte sie sich das Lorgnon in ihr Auge und musterte mich wieder von Kopf bis Fuß. „Haben Sie eine schöne Handschrift, Miss Hessler?“

„Meine Lehrerinnen haben es zumindest immer behauptet.“

„Sind Sie der englischen Schriftsprache mächtig?“

Ich musste in mich hineingrinsen. Das klang, als würde ein General seinen neuen Adjutanten auf Herz und Nieren prüfen, weil er ihm nichts zutraute. „Selbstverständlich, Mylady.“

Zweifelnd nickte sie. „Na, dann wollen wir es einmal versuchen. Ich schaffe es nicht allein. Setzen Sie sich hierher. Ich werde diktieren.“

Und so ging es los. Natürlich musste ich anfangs eine Menge Dinge von ihr erfragen, die ich einfach nicht wissen konnte. Aber sie schien das zu respektieren und war geduldig.

Zum Tee hatten wir dann bereits zwei Briefe fertig, und sie war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Das sagte sie auch in ihrer unverblümten Art und schickte mich in die Küche, damit ihr Tee hochgeschickt wurde und ich selbst Tee trinken konnte.

Vor Anstrengung hatte ich ganz rote Backen bekommen, und als ich in die Küche kam, sahen mich alle erwartungsvoll an.

„Alles gut. Sie will ihren Tee.“

„Soll sie haben“, flötete Rose und nahm das Tablett, das Mrs Pengaster bereits vorbereitet hatte.

Sogar Mr Haggety hörte wohlwollend zu, während ich kurz von meinem ersten Arbeitstag berichtete. Meine Mitstreiter klopften mir auf den Rücken und sprachen mir Mut zu.

„Na, also. Wird schon werden. Am Anfang hatte ich auch Angst vor ihr. Sie ist halt, wie sie ist.“

Puh. Als ich abends in mein Bett fiel, wusste ich, wie anstrengend die Arbeit von Myladys Gesellschafterin war. Briefe schreiben, Rosen schneiden und anrichten, Buchauszüge vorlesen und Kalkulationen durchrechnen, wobei ich sie dabei sogar auf mehrere Flüchtigkeitsfehler aufmerksam machen konnte, was meinen Wert in ihren Augen merklich steigen ließ.

Aber jeden Tag so hart arbeiten, ohne eine freie Minute für mich außer den Mahlzeiten, dem Tee und die halbe Stunde Mittagspause, die gerade für einen kurzen Spaziergang reichte? Ich war mir nicht sicher.

An Tante Lilibeth hatte ich noch nicht geschrieben.

Gleich am nächsten Tag lernte ich das nächste Mitglied der Familie kennen. Ich schrieb gerade eine Bestellung für Myladys Weinhändler in London, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Beide fuhren wir vor Schreck zusammen.

Da stob auch schon der schönste junge Mann in die Bibliothek, den ich jemals in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Blondgelockte Haare, veilchenblaue Augen, schmales Gesicht und das umwerfendste Grinsen, das mir je untergekommen war.

Die Gräfin hatte sich schnell wieder gefangen. „Tobias. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du anklopfen sollst, wenn du es schon so eilig hast?“ Das klang nun gar nicht mehr kalt und herrisch. Ganz im Gegenteil. Das klang nachsichtig und sehr liebevoll. Offenbar war dieser junge Mann ihr Augenstern.

Sie wurde mir in ihrer Vielschichtigkeit immer sympathischer.

Der so sanftmütig Getadelte nahm das gar nicht ernst, drückte sie kurz und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Tantchen.“ Dann erspähte er mich und blieb stehen. „Oh. Ein neues Gesicht.“

Ich stand von meinem Schreibtisch auf und wollte mich schon vorstellen.

„Das ist Miss Hessler, meine neue Gesellschafterin, Tobias. Sie hat gestern ihre Stelle angetreten.“

„Soso. Davon wusste ich gar nichts.“ Er taxierte mich mit Kennerblick. Ich hätte etwas darauf verwettet, dass er gerade überlegte, ob er mich für seine Zwecke wohl einspannen könnte.

Ohne es unterdrücken zu können, wurde ich rot, und die Gräfin sah es.

„Gut, Tobias. Hat dein Anliegen Zeit? Wir wollen die Weinbestellung noch abschließen. Bleibst du zum Dinner?“

Mit einem Blick zu mir antwortete er lasziv: „Aber gerne.“

„Gut, dann sprechen wir beim Essen. Schließ die Tür bitte leise. Unsere Nerven brauchen wir noch für die Arbeit.“

Er lachte nur und war schon verschwunden.

Bis zum Dinner konnte ich nicht mehr so konzentriert arbeiten wie vor dem Besuch des Erben.

An die ersten Wochen in Barras habe ich keine deutlichen Erinnerungen mehr.

Ich war nur damit beschäftigt, der alten Gräfin alles recht zu machen und mich im Schloss einzuleben. Viel Zeit ließ sie mir anfangs nicht. Sie überhäufte mich mit Aufgaben, denen ich teilweise nicht gewachsen war. Dabei muss ich ihr aber zugutehalten, dass sie jedes Mal geduldig war und mir half, wenn ich mit einer Sache nicht mehr weiterwusste.

Am wenigsten mochte ich das Vorlesen. Es erschien mir so eintönig, ihr Artikel aus der Times vorzulesen. Erst später kam ich darauf, dass ich dadurch, was die Politik anbelangte, immer auf dem Laufenden war und bald schon am Küchentisch mit meinem Wissen auftrumpfen konnte.

Ich wartete darauf, dass ich der Gräfin auch einmal aus einem Roman vorlesen sollte, aber das war nie der Fall. Offenbar verachtete sie solch eine Lektüre, ließ aber anderen die freie Wahl, was mir wieder imponierte.

Überhaupt wurde ich nicht recht schlau aus ihr. Einerseits war sie eine sehr starke Persönlichkeit, die jeden General auf dem Kasernenhof in den Schatten gestellt hätte, andererseits aber nahm ich auch Brüche in ihrer Persönlichkeit wahr, die man erst bemerken konnte, wenn man sie näher kannte.

Einmal wollte sie von Tobias eine Entscheidung über irgendeine Angelegenheit hören, von der dieser überhaupt keine Ahnung hatte und die er in seiner leichtfüßigen Art auch einfach wegwischte.

Ich saß über mein Blatt Papier gebeugt und konnte mich nur noch wundern, denn sie hielt sich tatsächlich an Tobias’ vermeintlichen Rat, auch wenn er noch so absurd war. Das konnte ich nicht begreifen.

Was mich auch sehr verwunderte, war die Tatsache, dass sie nie Besuch bekam. Anfangs hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich war ja viel zu beschäftigt mit meinen Aufgaben und dem Einleben auf Schloss Barras.

Doch nach mehreren Wochen fragte ich einmal Daisy, warum denn hier keiner zu Besuch käme. Es gäbe doch in der Umgebung sicher andere Adelssitze.

Sie sah mich mit großen Augen an, blickte nach links und rechts, um auszuschließen, dass uns jemand zuhören konnte, dann wisperte sie: „Sie hat sich doch mit allen verkracht. Glaubt immer, die wollten ihr was am Zeug flicken.“ Wieder sah sie sich ängstlich um und deutete dann mit der Hand über ihre Stirn.

Ich verstand überhaupt nichts mehr. So was hätte ich von ihr nie gedacht.

Ab und zu kam Lady Mulford zum Tee, und Mylady erlaubte mir zu bleiben. Ich erlebte sie ansonsten selten miteinander, da ich bei den gemeinsamen Mahlzeiten nicht zugegen war, aber mit ihrer jüngsten Tochter Sylvia war sie ein Herz und eine Seele.

Ich war fasziniert von meiner Tante und davon, wie sie ihre Mutter um den Finger wickelte. Erst später machte ich mir Gedanken darüber, wieso eine so aufregende Frau hier bei ihrer Mutter auf Barras lebte. Ihren Mann hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen, ein unscheinbarer Greis, der sich angeblich kaum noch bewegen konnte und um einiges älter war als Lady Mulford. Später steckte mir Daisy einmal, dass er sein Vermögen und sein Schloss an der Börse verloren hatte und sie deshalb hierherkommen mussten, um von der Gnade ihrer Mutter zu leben.

Arme Lady Mulford. Ich stellte sie mir immer in den Londoner Salons vor oder sogar zum Tee bei der Queen. Bestimmt hätte unsere Königin, die eigentlich zur Mürrischkeit neigte, so eine schillernde Gestalt wie meine Tante gemocht.

Dass Lady Mulford meine Tante war, die Gräfin meine Großmutter und ich eigentlich ein Teil der Familie, konnte ich irgendwie nicht unter einen Hut bekommen. Schließlich war ich ja auch ein unerwünschter Teil.

In meinem Bestreben, etwas über meine Mutter herauszubekommen, kam ich somit überhaupt nicht weiter. Aber ich verlor nicht den Mut. Irgendwie machte es Spaß, hier zu leben und auf meine Chance zu warten.

Erst als ich schon einige Zeit auf Schloss Barras lebte und vieles langsam zum Alltag wurde, fiel mir noch etwas anderes auf, das mich leicht beunruhigte.

Auf den ersten Blick, wenn man hier ankam, wirkten das alte Schloss und die ganze Pracht hier im Inneren sehr imponierend. Dem konnte sich sicherlich kein Besucher entziehen, wenn mal einer kommen würde. Jeder glaubte bestimmt, dass hier ein uralter Besitz im großen Reichtum einer alten Familie stolz auf seine Umgebung hinabsah.

Aber wenn man länger hier war, bemerkte man, dass dem nicht so war. Der vermeintliche Glanz bröckelte an allen Ecken und Enden. Hier rieselte ein wenig Putz, da hatten die Teppiche kleine Löcher, die riesigen Gobelins in der Halle waren verblasst, und viele Sitzmöbel wirkten auf den zweiten Blick verschlissen.

Auch in manchen Bestellungen und Briefen, die ich schreiben musste, kamen mir inzwischen leise Zweifel, ob mein erster Eindruck nicht falsch gewesen war.

So teilte einmal der Weinhändler der Gräfin mit, dass er erst wieder liefern würde, wenn die Rechnung beglichen sein würde. Und dieser Betrag war ziemlich hoch.

Ich merkte sehr deutlich, dass die Gräfin eigentlich nicht wollte, dass ich Kenntnis davon bekam, aber da ihre Hände rheumatisch waren und sie nur noch sehr schlecht selbst schreiben konnte, war sie auf mich angewiesen.

So ging ich mit allen widerstreitenden Gefühlen, die mich in dieser ersten Zeit quälten, an einem sonnigen Spätsommertag in Richtung der Stallungen.

Etwas ängstlich hatte ich die Gräfin gefragt, ob ich an meinem freien Nachmittag ausreiten dürfe. Daheim hätte mir nichts mehr Freude bereitet. Eigentlich war ich davon ausgegangen, ein militärisch knappes „Nein“ zu hören. Aber, oh Wunder, sie nickte nur und sah noch nicht einmal auf. Wahrscheinlich gefiel es ihr, denn die Damen der Aristokratie mussten sich schlafwandlerisch im Sattel bewegen können.

„Suchen Sie sich ein Pferd in den Stallungen aus. Ich gebe dem Stallmeister Bescheid.“

Und so konnte ich es kaum erwarten, wieder einmal auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Da bemerkte ich vor mir ein Tier auf dem Weg, das mich missmutig erwartete.

Es war Clodagh, die ganz und gar nicht erfreut darüber zu sein schien, in ihrer Tätigkeit gestört zu werden. Sie sah mich böse an und pickte weiter im Boden herum, offenbar in der Hoffnung, auf saftige Regenwürmer zu stoßen. Und daran, dass sie nichts fand, war offenbar nur mein Erscheinen schuld. Das zeigte sie mir unmissverständlich. Auch dachte sie nicht daran, mich vorbeigehen zu lassen. Schließlich hatte sie gerade eine vielversprechende Stelle entdeckt, und die würde sie sich nicht von einer so unbedeutenden Person wie mir streitig machen lassen. Das alles verrieten ihre Blicke. Als ich noch näherkam, wurde Clodagh wütend. Sie plusterte sich auf, streckte sich und stieß einen markerschütternden Hahnenschrei aus.

Wirklich eingeschüchtert blieb ich stehen.

Ich liebe Hühner bis heute. Stundenlang könnte ich ihnen beim Picken im Boden zusehen: Picken und scharren, picken und scharren. Das hatte auf mich immer etwas sehr Beruhigendes gehabt. Aber eine Albinohenne, die der felsenfesten Überzeugung war, sie sei ein dominanter Hahn und müsse ihre Umgebung einschüchtern, das war mir noch nie untergekommen.

Also begann ich, mit ihr zu sprechen.

„Clodagh, Schatz. Lass mich vorbei. Ich will endlich mal wieder reiten, und wenn du mich hier aufhältst, habe ich nicht mehr genug Zeit.“

Das schien sie zu verstehen, dachte aber noch immer nicht daran, mir Platz zu machen. Im Gegenteil, sie breitete sich noch mehr auf dem schmalen Weg aus. Da griff ich zu dem einzigen Mittel, das mir noch blieb.

„Liebling, ich verspreche, dir eine Handvoll Weizen mitzubringen, wenn ich wiederkomme. Aber du musst mich jetzt vorbeilassen.“

Missmutig taxierte sie mich aus ihren kleinen Äuglein, überlegte wohl die Vorteile meines Vorschlags, und bewegte sich dann widerwillig ein Stück zur Seite. Dabei vergaß sie aber nicht, mir mit einem drohenden Blick zu verstehen zu geben, dass ich die Hölle auf Erden erleben würde, wenn ich mich nicht an mein Versprechen halten würde.

Grinsend, aber auch erleichtert, ging ich an ihr vorbei.

Im Hühnerstall stand immer ein Sack voll Weizen, jedoch gut verschlossen. Davon würde ich beim nächsten Mal meine Schuld einlösen.

Mr Brown, der Stallmeister, wusste schon Bescheid und verwies mich an einen der Stallburschen, Matti. Matti hatte ich schon ein paar Mal gesehen, denn er erledigte auch ab und zu Besorgungen für Mrs Pengaster. Er war ein sehr kindlich gebliebener Junge, den man einfach lieben musste, der deshalb aber auch nicht unbedingt der Zuverlässigste war, wie Mrs Pengaster immer mal wieder verärgert verlauten ließ.

„Hallo, Matti. Ich will ausreiten. Suchst du mir ein passendes Pferd aus?“, begrüßte ich ihn. Er war gerade dabei, eins der Pferde zu striegeln, und wie er das tat, konnte ich sehen, dass er den Tieren seine ganze Liebe schenkte. Ich nahm mir vor, Rose bei Gelegenheit nach seiner Familie zu fragen.

Freundlich sah er mich an. „Ja, Miss.“ Er legte die Bürste beiseite, worauf das Pferd verärgert schnaubte und ihn sanft anstieß. Er tätschelte es nur zärtlich, und es hörte sofort auf. „Mal sehen, Miss. Schauen wir mal.“

Also ging ich mit ihm an den Boxen entlang, in denen die Tiere standen.

Plötzlich blieb er stehen. „Orgasta ist genau die Richtige für Sie. Und sie braucht mal wieder Bewegung.“ Woher er das wusste, war mir schleierhaft, aber ich vertraute ihm blind.

„Matti?“

„Ja, Miss?“

„Gibst du mir bitte einen Herrensattel?“

Erstaunt sah er mich an. „Miss?“

„Ich bin zu Hause nur im Herrensattel geritten. Von einem Damensattel würde ich sofort herunterfallen.“

„Aber Miss!“

Also hob ich ganz leicht meinen Reitrock, um ihm zu zeigen, dass ich darunter eine Reithose trug, wie sie eigentlich nur Männer anziehen.

Da musste er grinsen. „Okay, Miss. Aber Sie dürfen mich nicht verraten, und wenn was passiert, sage ich, dass Sie mich gezwungen haben.“

„Na klar. Ehrenwort. Es wird nichts passieren.“

„Orgasta ist ja auch friedlich. Man darf sie nur nicht erschrecken.“

„Ich pass auf. Es wird ihr nichts geschehen.“

Also saß ich schon bald wie ein Mann auf Orgasta. Matti gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern, nachdem er ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte, das ich nicht verstand, und meine neue Freundin trabte gemächlich los.

Wie glücklich war ich, endlich wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen.

Tante Lilibeth hatte mich immer dazu ermutigt, die Pferde eines befreundeten Gutsherrn zu reiten, der heilfroh war, wenn jemand seine Pferde bewegte. Er war durch eine Krankheit nicht mehr in der Lage zu reiten, und er hatte keine Kinder, die das für ihn übernehmen konnten. So mussten immer die Stallburschen oder eben Besucher wie ich diese Aufgabe übernehmen. Ich hatte ausgiebig und viele Jahre davon Gebrauch gemacht. Der Herrensattel war meine einzige Bedingung gewesen, und seltsamerweise hatte sich daran niemand groß gestört. Was machte es auch für einen Unterschied? Ich trug ja immer eine Reithose, entweder ganz offen oder aber verborgen unter meinem Rock.

„Komisch“, hatte Tante Lilibeth immer wieder überlegt, „deine Mutter hatte Angst vor Pferden. Bis du die mal auf einem drauf hattest, da konntest du dir aber erstmal ein Geschrei anhören. Das musst du von deinem Vater haben.“

Damit sprach sie dann immer ein heikles Kapitel in meinem Leben an, denn weder sie noch ich wussten, wer mein Vater war. Wir ließen es dann immer bei ihrer Feststellung, denn was sollten wir sonst sagen?

Auf jeden Fall straffte ich jetzt meine Schultern, atmete tief durch und gab Orgasta ein Zeichen, dass sie schneller laufen konnte. Das ließ diese sich nicht zweimal sagen und beschleunigte ihr Tempo. Und so ritt ich hinaus in die Felder und war einfach nur glücklich. Es war ein angenehm milder Tag, die Sonne schien nicht zu intensiv, denn das wäre für einen Ausritt auch nicht das Allerbeste gewesen.

Orgasta schien es genauso zu genießen wie ich. Der Wind blies mir ins Gesicht, und ich jubelte innerlich. Barras mit seinen Bewohnern lag für einige wenige Stunden hinter mir.

Bald erreichte ich eins der Nachbardörfer und entdeckte einen Gasthof, der einen sehr schönen Garten mit Tischen unter großen Bäumen hatte. Ich beschloss, kurz zu verweilen und ein Glas Most zu trinken. Also band ich Orgasta an dem dafür vorgesehenen Pfahl fest. Hier konnte sie aus einem Brunnen trinken und bekam auch etwas Hafer.

Der Garten war gut besucht, und es gab nur noch einen Tisch unter einer Linde, an dem ein einzelner Herr saß. Ich ging zu ihm hin und fragte, ob es ihn stören würde, wenn ich mich zu ihm setzen würde. Lachend machte er eine einladende Geste.

„In Gesellschaft trinkt es sich doch viel angenehmer.“

Also setzte ich mich, und wir kamen sofort ins Gespräch. Er erzählte freundlich, dass er geschäftlich hier zu tun habe und immer in diesem Lokal eine Rast machen würde. Er liebe diesen Garten. Dem konnte ich nur zustimmen, und der leicht vergorene Apfelmost schmeckte einfach herrlich. So plauderten wir, und ich sah ihn ein wenig genauer an.

Er war nur einige wenige Jahre älter als ich, gut gekleidet und hatte sehr angenehme Umgangsformen. Auf den ersten Blick war er nicht unbedingt als gut aussehend zu bezeichnen, aber er war auch kein hässlicher Mann. Meiner Ansicht nach gehörte er zu den Männern, die genau wissen, wie sie wirken, und die ihre Gaben voll zur Geltung bringen können. Solchen Männern hatte ich in meinen Backfischträumereien immer schon den Vorzug vor den ausgesprochen attraktiven Exemplaren wie zum Beispiel einen Tobias, dem Earl of Tuscony, gegeben.

Er wirkte einfach anziehend, ohne dass ich Schmetterlinge im Bauch verspürte.

Gegen meinen Plan, nur kurz zu verweilen, blieb ich länger und aß sogar ein Schmalzbrot zu dem Most. Immer wieder brachte er mich zum Lachen, und die Zeit verging rasend schnell. Schließlich war er es, der aufstand und sich verabschiedete. „Ich muss leider weiter, Miss. Ein Termin wartet auf mich. Es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern. Kommen Sie gut nach Hause.“

Ich wünschte ihm einen schönen Nachmittag und lächelte ihm nach.

Als er fort war, hatte ich das ganz merkwürdige Gefühl, mich hätte jemand verlassen, den ich sehr mochte. Unser Gespräch war sehr oberflächlich gewesen. Wir hatten uns auch nicht mit Namen vorgestellt. Und so wusste ich rein gar nichts von ihm.

„Schade“, murmelte ich vor mich hin. Aber so war es wenigstens ein sehr angenehmer Nachmittag gewesen, und wenn ich noch einmal in diesem Gasthof einkehren würde, wer weiß, vielleicht sah ich ihn dann wieder.

Als ich Orgasta langsam wieder Richtung Schloss Barras führte, bemerkte ich, dass ich gar nicht dorthin zurückwollte.

Was erwartete mich denn dort?

Menschen, denen ich noch nicht trauen konnte und mit denen ich ein falsches Spiel spielte. Von meinem Vorhaben hatte ich noch nichts erreicht, nicht eine Kleinigkeit. Vielleicht würde ich auch in Zukunft nichts über meine Mutter erfahren. Ich musste so vorsichtig sein, und freiwillig würde mir bestimmt niemand etwas erzählen.

Aus lauter Enttäuschung gab ich Orgasta die Sporen, und sie tobte los, glücklich darüber, dass sie endlich einmal richtig davonschießen konnte. Das lenkte mich wieder von meinen düsteren Gedanken ab, und als ich Orgasta dann an Matti übergab, nachdem ich mich bei ihr bedankt und mich von ihr verabschiedet hatte, war ich wieder glücklich und plante bereits den nächsten Ausritt.

Meine neue Bekanntschaft jedenfalls sollte ich schneller wieder zu Gesicht bekommen, als ich das gedacht hätte.

Die Arbeit bei der Gräfin nahm mich mehr in Anspruch, als ich mir das vorher hätte vorstellen können.

Sie war sehr anspruchsvoll, tadelte mich zwar nur selten und war auch großzügig, wenn es um Fehler ging, aber ich wurde das Gefühl einfach nicht los, dass sie mich beobachtete. Ich konnte mir nur keinen Reim darauf machen. Schließlich war es unmöglich, dass sie mein Geheimnis kannte. Tante Lilibeth war sich absolut sicher, dass Mrs Pengaster kein einziges Wort würde verlauten lassen, und nachdem ich sie jetzt kannte, war ich derselben Überzeugung. Warum also wurde ich dieses Gefühl einfach nicht los?

Wir wurden auch nicht wirklich warm miteinander, obwohl wir nahezu den ganzen Tag zusammenarbeiteten. Ihre anfänglich kalte Dominanz hatte sich zwar ein wenig abgeschwächt, aber von Zugewandtheit oder gar Zuneigung konnte überhaupt keine Rede sein. Jedoch auch von meiner Seite aus nicht.

Keinen einzigen Tag konnte ich vergessen, dass sie daran schuld war, dass ich ohne meine Mutter aufwachsen musste. Dafür war die alte Gräfin, die ich einfach nicht Großmutter nennen konnte, eindeutig verantwortlich.

Nur unten in der Küche hatten sie mich von Anfang an warmherzig aufgenommen, und inzwischen war ich längst eine von ihnen.

Mr Haggety blieb freundlich, aber distanziert mir gegenüber, aber das war er aufgrund seiner Position als Butler zu jedem von uns. Nur zu Rose war er ein wenig offener, aber auf sie war er auch am ehesten angewiesen. Auch bei ihm hatte ich ab und zu das Gefühl, dass er mich beobachtete. Das tat ich aber ab, denn auch er konnte nichts wissen.

Mrs Pengaster mochte ihn nicht besonders, das war jedenfalls offenkundig.

Mit ihr hätte ich so gerne einmal unter vier Augen gesprochen, denn schließlich war sie die Einzige, die mein Geheimnis kannte und die mit meiner Mutter hier gelebt hatte. Aber ich hielt mich an die mit Tante Lilibeth ausgemachte Abmachung und von ihr kam auch nichts. An manchen Tagen fiel es mir sehr schwer, nicht einfach zu ihr hinzugehen und sie um ein vertrauliches Gespräch zu bitten.

So kam ich denn in meinen Nachforschungen nicht ein winziges bisschen weiter. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. In meinen überlegenen Backfischfantasien glaubte ich, dass ich ganz schnell dem Geheimnis meiner Mutter auf die Spur kommen würde, um dann die alte Gräfin damit zu konfrontieren.

Ich erlebte eine andere Überraschung.

Ich saß mit der Gräfin am großen Schreibtisch in der Bibliothek. Wie immer brannte ein Feuer im Kamin, das den riesigen Raum aber in keiner Weise wohlig beheizen konnte. Also hatte ich mir angewöhnt, mich sehr warm anzuziehen, wenn wir hier arbeiteten. Anfangs hatte die Gräfin, die nie zu frieren oder zu schwitzen schien, irritiert durch ihr Lorgnon geschaut, es dann aber wohl als jugendlichen Überschwang abgetan.

Wieder einmal war ich dabei, Rechnungen zu sortieren, das Geld dafür zu zählen und in einen Umschlag zu stecken, den ein Bote dann zusammen mit der neuen Bestellung verteilen würde.

Die Gräfin prüfte alles mehrfach, denn sie neigte ein wenig zum Geiz. Da ich inzwischen über die finanzielle Situation sehr gut Bescheid wusste, wunderte mich das nicht.

Da öffnete sich die Tür der Bibliothek, und Lady Mulford trat mit einem Begleiter ein.

Zuerst hatte ich wie immer nur Augen für sie. Auch an diesem Tag sah sie wieder ungeheuer anziehend aus. Sie lächelte ihre Mutter an und spielte mit ihrer Perlenkette, die sie fast immer trug. Mich ignorierte sie, was ich ihr aber nicht verübelte. Wenn wir miteinander zu tun hatten, war sie immer sehr freundlich zu mir.

Die Gräfin hatte ihr Lorgnon abgenommen und wandte sich ihrer Tochter etwas ungehalten zu. Das zu bemerken, davon war Lady Mulford sowieso sehr weit entfernt. Sie war so in ihrer Welt versponnen, dass sie die Gefühlsregungen anderer Menschen einfach überging. Ob sie sie überhaupt wahrnahm, war mir ein Rätsel.

Zum Glück saß ich am Schreibtisch ein wenig im Schatten, und die Gräfin stand zwischen Lady Mulford, ihrem Begleiter und mir. Das war wirklich gut so, denn als ich meinen Blick von Lady Mulford abwandte, die ihrer Mutter einen zerstreuten Kuss auf die Wange gab, den die Gräfin jedoch nicht erwiderte, sah ich, wer der Begleiter war, den sie mitgebracht hatte.

Es war meine neue Bekanntschaft aus dem Gasthof.

Fast hätte ich einen Überraschungslaut von mir gegeben. Im letzten Moment konnte ich mich beherrschen und beugte mich tief über das Blatt Papier, das vor mir lag.

„Mutter, dies ist Mr Michael Burton, der neue Anwalt meines Mannes. Du weißt, dass wir immer noch prozessieren, und Mr Burton war so nett, den Fall zu übernehmen. Ich wollte ihn dir nur kurz vorstellen.“

Mr Burton war ganz im Bann der Gräfin, wie es jeder war, der sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam.

Sie nahm ihr Lorgnon, steckte es vor ihr Auge und musterte ihn für einen Moment auf ihre absolut unnachahmliche Weise.

Der Gemusterte fühlte sich offensichtlich sehr unbehaglich. Ein Schicksal, dass er mit jedem teilte, der dieser Inspektion zum ersten Mal ausgesetzt war. Offenbar war die Begutachtung dann schnell zu einem vorläufigen Ende gekommen.

„Mr Burton.“ Sie hob die Stimme nur eine Nuance.

Lady Mulford, mit diesem Procedere seit ihrer Kindheit vertraut, hatte nur gelächelt, nahm Mr Burton nun am Arm und führte ihn wieder hinaus.

Die Gräfin blieb einen Moment unbeweglich stehen. „Seltsam. Doch nicht schon wieder“, flüsterte sie vor sich hin. Meine Anwesenheit hatte sie wohl für kurze Zeit ganz vergessen. Doch das währte nur einen Moment. Sie drehte sich um und war sofort wieder fokussiert, sodass wir weitermachen konnten, als hätte es diese Unterbrechung nie gegeben.

Aber nicht nur sie war irritiert. Ich war es nicht minder. Der Anwalt der von mir so bewunderten Lady Mulford. Komisch. Warum hatte er mir das denn nicht gesagt? Dass ich von Schloss Barras kam, wusste er. Ich ging davon aus, dass er so mit der Gräfin beschäftigt war, dass er die Angestellte, die im Schatten am Schreibtisch saß, gar nicht registrieren konnte.

Irgendwie wurde alles immer seltsamer um mich herum. Oder spann ich mir das nur zusammen? Manchmal haben so alte Gemäuer diesen Effekt auf viele Menschen. Sie fangen an, sich Dinge einzubilden, die gar nicht da sind. Oder war ich am Ende gar nicht die Einzige, die hier mit einem Geheimnis lebte?

An diesem Tag sollte ich unverhofft doch noch einen kleinen Schritt in meinen Nachforschungen weiterkommen.

Die Gräfin war nach der kurzen Begegnung mit Mr Burton ein wenig unkonzentriert und schickte mich schließlich mit alten Unterlagen in einen Raum des Schlosses, den ich noch nie betreten hatte, um sie dort abzulegen. Erst überlegte ich, ob ich mir aus der Küche jemanden holen sollte, der den Weg kannte. Aber dann entschied ich mich dagegen. Schließlich war dort jeder beschäftigt, und irgendwann musste ich mich auch einmal selbst zurechtfinden. Doch schon sehr bald hatte ich mich in den vielen Gängen völlig verlaufen. Ratlos blieb ich stehen. Der Blick aus einem der Fenster war ein völlig anderer, als ich ihn kannte.

Was sollte ich tun? Weiter herumirren, bis ich wieder vertrautes Land betrat? Kam nicht infrage.

Also straffte ich meine Schultern, klopfte an eine Tür, hinter der ich ein Geräusch hörte, und trat ein. Erstaunt blieb ich gleich an der Türschwelle stehen.

Vor mir lag ein gemütlicher Raum, der genügend von einem Kamin beheizt wurde, wie ich sofort registrierte. Das war im ganzen Schloss nicht der Fall. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und so konnte ich das Bett sofort gut erkennen, das diesen Raum dominierte.

Darin lag ein uralter Mann, dessen Haut sich wie Pergament über sein Gesicht zog. Er hatte kaum noch Haare und sah mich mit wasserblauen Augen schockiert an.

An der Seite des Bettes stand eine Pflegerin in der typischen Schwesterntracht und sah mich genauso erschrocken an. Offenbar hatten beide nicht mit einer Besucherin gerechnet.

Und dann sagte der alte Mann nur ein einziges Wort:

„Selina!“

Ich erstarrte zur Salzsäule und ließ fast den Stapel Akten fallen, den ich auf dem Arm trug. Hatte ich da richtig gehört oder machte mich dieses Gemäuer schon so irre, dass ich Dinge hörte, die niemand gesagt hatte?

Selina war der Vorname meiner Mutter.

Gefahr auf Schloss Barras

Подняться наверх