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4. Kapitel

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Am nächsten Tag fuhren Krüger und Nina nach Grenzach, wo die Kollegen bereits fleißig weiterermittelt hatten. Eine erste Spur führte in ein Pflegeheim, wo die Tote möglicherweise gesehen worden war. Ein Heim für geistig Behinderte, die Betreuung benötigten, keine besonders schweren Fälle. „Sie könnten unsere Patienten als Kinder betrachten“, erläuterte Frau Schultheß, die Leiterin, „einfach Kinder in verschiedenen Lebensaltern, die entsprechend Hilfe brauchen.“

Krüger nickte verständnisvoll, Nina machte sich Notizen, wie er schmunzelnd feststellte.

„Im letzten Monat ist eine Bewohnerin verstorben. Die Schwester, die zur Beerdigung angereist ist, könnte die Tote sein, ich bin mir jedoch nicht sicher“, fuhr sie fort.

„Wie lautete denn der Name der Verstorbenen?“, fragte Nina.

„Linda Schulte. Ich habe ihnen ihre Lebensdaten kopiert.“ Die Leiterin schob ein Blatt zu Nina. „Dann müssen Sie nicht alles von Hand aufschreiben“, sagte sie lächelnd.

„Dann“, stellte Krüger fest, „müsste sich die Dame ja auch mit Namen vorgestellt haben. Können Sie sich denn daran noch erinnern?“

„Ja, natürlich, Frau Schneider. Sie und ihr Mann sind gekommen.“

„Vornamen?“ Krüger sah die Leiterin fragend an.

„Erna, Erna Schneider.“

„Haben Sie auch noch zufällig eine Adresse?“, fragte Krüger gespannt.

„Leider nicht. Nur ein Postfach und eine Telefonnummer. Vielleicht können Sie damit auch etwas anfangen.“

„Aber sicher“, lächelte Krüger.

Die Leiterin erhob sich. „Ich mache Ihnen davon eine Kopie.“

„Das wäre nett, danke!“

Krüger und Nina warteten geduldig, bis die Leiterin wieder Platz genommen hatte. „Können Sie uns den Mann beschreiben, Frau Schultheß?“, fragte Krüger.

Sie errötete sanft. „Leider nicht. Erstens habe ich den Mann nur kurz gesehen, und zweitens, ich kann mir einfach keine Gesichter merken.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„War er groß oder klein?“, versuchte Nina.

„So mittel, normal, könnte man sagen“, antwortete die Leiterin.

„Hatte er noch Haare oder schon eher eine Glatze?“

Frau Schultheß zuckte mit den Schultern, „keine Ahnung, tut mir leid.“

„Schnurrbart oder glattrasiert?“, versuchte Nina weiter.

„Schnurrbart, möglich, aber ich kann es nicht sagen.“

Nina sah Krüger fragend an.

„Würden Sie ihn denn wiedererkennen, zum Beispiel auf einer Fotografie?“, versuchte jetzt Krüger sein Glück.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum.“

„Hat ihn den sonst noch jemand gesehen, der uns Angaben machen könnte?“

Frau Schultheß schüttelte den Kopf. „Weiß ich nicht, vielleicht der Pfarrer, wenn der Herr bei der Beisetzung anwesend war.“

„Sie waren also nicht dabei, wenn ich richtig verstehe“, stellte Krüger fest.

Sie nickte. „Ich hatte eine wichtige Sitzung, die ich leider nicht verschieben konnte.“

Krüger war leicht verlegen. „Ja dann, Frau Schultheß, muss ich doch noch einmal nachfragen. Wie sicher sind Sie sich mit der Identifizierung der Toten? Wahrscheinlich, möglich, oder ziemlich sicher? Was würden Sie denn als passend bezeichnen?“

„Wenn Sie so fragen, dann, ja, möglich.“

„Vielen Dank, Frau Schultheß“, brummte Krüger, „das wäre für den Moment alles!“

Die Leiterin brachte ihre Besucher noch zu Tür. Nina wartete, bis sie einen sicheren Abstand erreicht hatten. „Haben wir jetzt eine Spur, Chef, oder nicht?“

Krüger lachte kurz auf, „Wenn ich das wüsste, Frau Böhringer. Wir suchen natürlich weiter. Irgendjemand sonst müsste das Paar auch noch gesehen haben. Abendessen, Übernachtung…“

„Dann müssen wir den ganzen Ort abklappern?“

„Nein, das überlassen wir den Beamten vor Ort. Wir kümmern uns zuerst um die Anschrift. Sobald wir zurück im Büro sind, können Sie loslegen, Frau Böhringer.“

Nina nickte. „Ja, Chef!“

Als Erstes versuchte es Nina mit der Telefonnummer, die sie von Frau Schultheß erhalten hatte. Der Mann, der sich meldete, wollte weder von einem Pflegeheim noch von einer Frau Erna Schneider jemals gehört haben. Nachfragen konnte sie nicht, die Leitung wurde unterbrochen und danach war niemand mehr zu erreichen.

***

Zwei Tage dauerte es, bis Nina die Adresse des Mannes ausfindig gemacht hatte. Auf gutes Glück fuhr sie hin. Die Identität von Erna Schneider war inzwischen vom Pfarrer und weiteren Trauergästen zweifelsfrei bestätigt worden.

Ein freistehendes Einfamilienhaus, am Briefkasten stand der Name L. Schneider. Verschiedenes Baumaterial lagerte in der Einfahrt. Das Geräusch einer Maschine ließ darauf schließen, dass im Haus gearbeitet wurde.

Nina klingelte zweimal kurz hintereinander. Die Maschine verstummte, stattdessen schlurfende Schritte, dann schwang die Tür auf. Ein mürrisch wirkender Kerl erschien, der sie von oben bis unten musterte. „Was ist denn los?“, fragte er.

Nina trat einen Schritt zurück. „Sind Sie Herr Schneider?“

Sie erklärte ihm kurz die Fakten, dass Erna Schneider kurz nach der Beerdigung ihrer Schwester, die im Pflegeheim Grenzach gelebt hatte, tot aufgefunden worden war.

Sie sei mit ihrem Mann angereist, das hatte die Heimleiterin ausgesagt.

„Ich war seit mindestens sechs Jahren nicht mehr in Grenzach“, erwiderte Lukas Schneider darauf.

„Das ist doch ihre Frau“, beharrte sie, „weshalb bestreiten Sie das?“ Nina klopfte nachdrücklich auf das Foto, das sie ihm vorgelegt hatte.

Er zuckte mit den Schultern. „Diese Frau ist mir völlig unbekannt.“

„Sie sind mit ihr verheiratet, Herr Schneider“, fauchte Nina, „das kann ich beweisen!“

Er konnte ein Lächeln nicht verkneifen. „Beweisen“, wiederholte er. „Dann brauchen Sie ja meine Aussage gar nicht, junge Frau, wenn Sie schon alles wissen.“

„Was soll das alles?“, fragte Nina, die ihre Wut kaum noch unterdrücken konnte.

„Genauigkeit, Präzision“, antworte Lukas Schneider, „gerade in ihrem Beruf. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man von einer Frau, die man seit Jahren nicht mehr gesehen hat, nur noch nicht geschieden oder immer noch mit ihr verheiratet ist. Übrigens, nicht „ist“, sondern „war“. Sie sieht ja ziemlich tot aus, auf dem Bild, nicht wahr?“

„Worin sollte da ein Unterschied bestehen?“, fragte Nina empört zurück. „Sie war ihre Frau, mit allen Rechten und Pflichten, die dazugehören. Egal, wie Sie das sehen möchten.“

„So, wie ich das sehen möchte. Schön formuliert. Die Erna, die meine Frau war, ist eines Tages vor etwa fünf Jahren einfach verschwunden, hat sich nie mehr gemeldet, von einem Tag auf den andern.“

„Wohin ist sie gegangen?“, fragte Nina verwundert.

„Keine Ahnung. Ein neuer Mann vielleicht? Ausstieg, Indien.“ Er zuckte wieder mit den Schultern.

„Weshalb haben Sie sie nicht als vermisst gemeldet?“

„Sie hat mir eine Botschaft hinterlassen, auf dem Badezimmerspiegel. Ich solle nicht nach ihr zu suchen. Deshalb.“

Nina wirkte nachdenklich. „Trotzdem haben Sie ein ziemlich starkes Motiv. Ihr Tod erspart Ihnen die mühsame Scheidung. Sie können sie sogar beerben.“

Lukas lachte laut auf. „Sie beerben? Hatte sie denn etwas?“

„Ihre Trauer hält sich doch in bescheidenen Grenzen“, stellte Nina fest, „das fällt schon auf!“

„Das habe ich schon hinter mir, die Trauer“, gab er zurück.

„Na schön, lassen wir das für den Moment“, fuhr Nina fort. „Wie wollen Sie mir erklären, dass das Pflegeheim Ihre Telefonnummer hat?“

„Die habe ich schon vor Jahren hinterlassen, für Notfälle. Die geistig behinderte Schwester, das blieb ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Das passte nicht in die Welt, in der Erna lebte.“

„Und wie wurde Ihre Frau benachrichtigt, wenn Sie angeblich keine Ahnung hatten, wo sie zu finden war?“

„Auf jeden Fall nicht von mir. Ich wurde weder angerufen noch sonst irgendwie verständigt.“

„Es hat keinen Zweck zu lügen“, ermahnte Nina, „selbstverständlich prüfen wir die Verbindungen nach. Das ist völlig problemlos.“

Er reagierte nicht darauf. Keine Unsicherheit, er schien höchstens belustigt.

„Also“, hakte Nina schroff nach, „wann kam der Anruf?“

„Kein Anruf, wie schon gesagt“, stellte er ruhig fest. „Auf den Busch klopfen hilft da auch nicht, kleine Frau!“

„Ich bin Beamtin“, versuchte Nina, sich mehr Respekt zu verschaffen. „Sie haben mich gefälligst mit Frau Böhringer anzusprechen, nicht so herablassend, als kleine Frau!“

Er nickte. „Da haben Sie wohl Recht, nur fällt es schwer, jemandem Respekt entgegenzubringen, der kaum trocken hinter den Ohren ist, Frau Böhringer“, gab er zurück.

Nina schluckte ihren Ärger herunter. Der Typ war ein alter Macho, sinnlos, den ändern zu wollen. Sie schüttelte nur leicht mit dem Kopf und verdrehte die Augen.

Schneider konnte es nicht lassen, sie zu belehren. „Ist doch wohl klar, dass Erna ihre Schwester inzwischen einige Male besucht und dabei eine Nummer hinterlassen hat, die zu ihr führt!“

„Die Leiterin hat mir nur Ihre Rufnummer angegeben“, erwiderte Nina spitz.

Schneider schüttelte den Kopf. „Macht auch wenig Sinn, die Telefonnummer einer Toten weiterzugeben, finden Sie nicht?“

Nina fühlte, dass sie errötete. Über diesen Aspekt hatte sie bisher noch gar nicht nachgedacht. Wie peinlich, dass ausgerechnet dieser Idiot…

„Haben Sie ein Alibi für die Tatzeit?“, fragte sie stattdessen.

„Nicht schlecht, der Versuch“, antwortete er anerkennend. „Sie sind doch nicht ganz so harmlos, wie man denken könnte.“

„Letzten Samstag“, presste Nina hervor, „wo waren Sie da?“

„Hier“, antwortete er, „hier auf meiner Baustelle. Haben Sie das Gerüst gesehen? Ich erneuere die ganze Rückseite.“

„Am Samstag?“, zweifelte Nina.

„Wann denn sonst? Ich mache fast alles selbst.“

„Waren Sie allein?“

Er zuckte wiederum mit den Schultern. „Ja, den ganzen Tag.“

***

Stolz vermeldete der Chef der Grenzacher Polizeistation, Meinrad Wappel, seine neusten Erkenntnisse an Kommissar Krüger.

„Dass der Wagen schon seit ein paar Tagen da herumsteht, ist uns natürlich gleich aufgefallen. Ohne die vielen Befragungen, die wir durchführen mussten, wäre alles viel schneller gegangen“, führte er aus. „Der Besitzer, Stefan Hehlen aus Frankfurt, ist nicht auffindbar. Sieht also ganz so aus, als ob wir einen Verdächtigen haben.“

Krüger räusperte sich. „Einen Verdächtigen?“

„Ja“, bestätigte Wappel, „nach dem Mord ist er untergetaucht. Soweit ich ermitteln konnte, ist er vermögend. Der Mann dürfte sich schon irgendwo in der Südsee an den Strand gelegt haben.“

Nach kurzem Nachdenken entschloss sich Krüger, nicht darauf einzugehen. „Danke Herr Kollege“, sagte er nur, „wir werden Ihren Bericht in die Untersuchung einbeziehen.“

„Internationale Zielfahndung“, ließ Wappel fallen.

Krüger sah ihn entgeistert an, „was meinen Sie damit?“

„Na, diesen Hehlen, den muss man suchen, das ist doch klar!“

Krüger seufzte. „Sind Sie mit den Befragungen der Anwohner durch?“

„Nein, aber das ist doch nicht mehr notwendig, jetzt wo klar ist, wer der Täter ist“, antwortete Wappel leicht genervt.

Jetzt platzte Krüger der Kragen. „Sie fahren mit den Befragungen fort, liefern nur Fakten. Deren Beurteilung überlassen Sie gefälligst uns. Haben Sie das verstanden, Herr Kollege Kriminalmeister?“

Wappel sah ihn entgeistert an, dann begriff er. Die Herren Kommissare wollten seinen Erfolg als den ihren verkaufen. So wie immer. Er machte die Arbeit, die sonnten sich in den Ergebnissen. Anstelle der verdienten Beförderung ließen die ihn in Grenzach versauern.

„Haben Sie verstanden?“, wiederholte Krüger eine Spur schärfer.

Wappel nickte. „Vollständig, Herr Kommissar!“

„Dann machen Sie sich bitte an die Arbeit, ich habe zu tun!“

Wappel stapfte aus Krügers Büro. Dieser sah ihm kopfschüttelnd nach, danach bestellte er Nina zu sich.

Mit spitzen Fingern schob er ihr den Hefter zu, den Wappel gebracht hatte. „Schreiben Sie bitte einen neuen Bericht, übernehmen Sie aber nur die Tatsachen“, sagte er zu ihr, „danach schauen wir das gemeinsam an.“

***

Nina kämpfte sich durch die Seiten. Das Wesentliche, ein Fahrzeug, dessen Besitzer verschwunden war, parkte seit Tagen in der Nähe des Rheins. Immerhin eine saubere Identifikation der Person. Der Rest bestand aus wirren Vermutungen, die zusammengefasst den Verschwundenen als wahrscheinlichen Täter bezeichneten.

Stefan Hehlen, neunundvierzig, ledig, selbständiger Makler aus Frankfurt am Main, nicht als vermisst gemeldet. Keinerlei Einträge im Polizeiregister. Ein Foto des Mannes war an die Akte angeheftet. Ob sich Wappel die Mühe gemacht hatte, das Bild der Heimleiterin oder dem Pfarrer zu zeigen, war nicht vermerkt.

***

Krüger ließ das Fahrzeug abholen, Nina machte sich auf den Weg nach Grenzach. Der Pfarrer hielt es für möglich, dass Hehlen an der Beerdigung teilgenommen hatte, wollte sich jedoch nicht festlegen.

Schließlich saß Nina wieder Frau Schultheß gegenüber, die das Foto achselzuckend betrachtete. „Tut mir leid, Frau Böhringer, ich kann Ihnen nicht helfen.“

„Das macht nichts“, versuchte Nina, zu trösten. „Wie ist das abgelaufen, nachdem Linda verstorben war? Wer hat wen benachrichtigt? Waren Sie es selbst?“

Die Heimleiterin schüttelte den Kopf. „Nein, das macht Schwester Ingrid, das gehört zu ihren Aufgaben.“

Nina sah sie fragend an. „Ist sie anwesend?“

„Möchten Sie mit ihr sprechen?“

„Ja, bitte!“

Schwester Ingrid erschien als traditionell wirkende Krankenschwester mit weißem Häubchen, unter dem sich graue Haare erkennen ließen. Eine dunkle Brille mit eckigen Gläsern rundete das Bild ab.

Die Brille ist furchtbar, dachte Nina spontan. Jemand sollte ihr sagen, dass es auch modische Gestelle gibt.

Frau Schultheß stellte sie vor, und Schwester Ingrid führte Nina zu einem winzigen Kabuff, offenbar ihr Büro.

Schon auf dem Weg erklärte Nina, was sie wissen wollte.

„Ja, ich habe Frau Schneider angerufen“, bestätigte Schwester Ingrid, „habe sie jedoch nicht erreicht, nur einen Anrufbeantworter. Sie hat jedoch gleich zurückgerufen, es waren höchstens zehn Minuten vergangen.“

„Wissen Sie die Nummer noch?“

Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über das Gesicht der Schwester. „Nein, Frau Böhringer, auswendig nicht!“

Sie schob eine Schrankfront zur Seite. Für Türen war in dem winzigen Raum kein Platz. Dahinter wurde ein alphabetisch geordnetes Register sichtbar. „Hier sind die Daten aller Bewohner hinterlegt, für jeden zugänglich. In einem Notfall muss das schnell gehen“, erklärte sie.

„Ist die Liste oder das Blatt von Linda noch da?“, wollte Nina wissen.

„Möglich.“ Schwester Ingrid zog ein Blatt Papier hervor. „Ja, da ist es!“

Genau wie Lukas Schneider vermutet hatte, war eine zweite Nummer mit einem anderen Stift vermerkt.

„Kann ich das mitnehmen?“

Ingrid zog die Brauen hoch. „Mitnehmen…“, wiederholte sie.

„Eine Kopie würde genügen“, schwächte Nina ab.

Die Schwester nickte. „Das sollte kein Problem sein, wenn die Chefin einverstanden ist.“

„Haben Sie sonst noch jemanden verständigt? Die zweite Nummer angerufen, zum Beispiel?“, fragte Nina weiter.

„Nein.“

„Könnte es sonst jemand getan haben?“

„Was getan, die alte Nummer angerufen, meinen Sie?“

Nina bestätigte.

„Dazu gab es keinen Grund. Meine Schicht hatte gerade angefangen, und bis die Ablösung erschien, lag Linda schon aufgebahrt in der Kapelle. Ihr Zimmer stand bereits leer, als ich ging.“

„Dann ist es eher unwahrscheinlich“, stellte Nina fest.

„Sehr unwahrscheinlich. Angehörigen eine Todesnachricht mitzuteilen ist nicht jedermanns Sache“, antwortete Ingrid.

Nina nickte verständnisvoll. Sie gab die Nummer an Grünwald durch, noch bevor sie den Rückweg antrat.

***

Wie Grünwald schnell herausfand, gehörte der Anschluss zu einer Adresse in Freiburg. Darunter war allerdings keine Erna Schneider gemeldet. Offiziell wohnte sie immer noch bei ihrem Mann in Emmendingen, einige Kilometer nördlich von Freiburg.

Am späten Nachmittag suchte Nina mit Erwin Rohr und einem Techniker die Wohnung auf, die im dritten Stock eines grauen Mehrfamilienhauses lag.

Der Briefkasten mit der Aufschrift S. Schneider quoll über. Ein Zeichen, dass schon einige Tage keiner zu Hause gewesen war.

Nachdem sie einige Male geklingelt hatten, öffnete Rohr die Tür. Das einfache Schloss der Wohnung bot kaum Widerstand.

Die Rollläden waren herabgelassen, nur zwischen den Lamellen sickerte etwas Licht in die Räume.

„Hallo, hier ist die Polizei, ist jemand da?“

Nachdem auch dieser Ruf ohne Wirkung verhallt war, traten sie ein.

Der Flur führte direkt in ein Wohnzimmer mit offener Küchenzeile an der Seite. Zwei verschlossene Türen gingen vom Flur ab. Angeklebte Schilder deuteten auf ein Bad und ein Schlafzimmer.

Die Möbel schienen neuwertig. Ein dicker Orientteppich aus Wolle lenkte den Blick auf eine Polstergruppe mit niedrigem Beistelltisch, alles sehr klassisch und gepflegt.

Ganz anders das Schlafzimmer. Viel roter Plüsch, glänzende Bettwäsche. Vor dem breiten Bett stand eine Kamera mit Stativ, ausgerichtet auf die Mitte der Zimmerwand, der nichts von dem, was im oder auf dem Bett passierte, entging.

Rohr betrachtete die Szene nachdenklich. Nina öffnete den Schrank, der mit Unmengen von Spitzendessous in allen möglichen Farben vollgestopft war.

Rohr folgte einem Kabel, das in einer Steckdose endete. Direkt unter einem großen Aktbild. Rohr hob es vom Haken und stellte es auf den Boden. Dahinter, in einer Nische, erschien ein Computer mit Bildschirm und Tastatur.

„Cybersex“, murmelte der Techniker.

Während Nina das Bad durchsuchte, nahmen sich Erwin Rohr und sein Mitarbeiter den Rest der Wohnung vor.

Der Anrufbeantworter im Wohnzimmer blinkte nervös. Der Techniker drückte auf einen Knopf. Insgesamt drei Nachrichten wurden abgespielt, die sich alle an eine Melanie richteten. „Wo bist du, wann sieht man dich wieder, machst du Urlaub?“

„Vermutlich ihr Künstlername“, grinste Rohr.

Nina steckte den Kopf aus der Tür. „Kein Anruf vom Heim in Grenzach?“

Die Herren schüttelten den Kopf.

„Dann hat sie das gleich gelöscht“, stellte sie fest.

In einer Schublade fanden sich schließlich persönliche Papiere, die belegten, dass es sich um die Wohnung von Erna Schneider handelte. Eine Geburtsurkunde, ein Blutspenderausweis und ein abgelaufener Reisepass.

Damit war der Zweck des Einsatzes erledigt, eine vollständige Durchsuchung sah der Beschluss nicht vor.

Trotzdem versiegelten sie die Wohnung, nachdem alles bis auf den Pass wieder an seinem Platz lag.

***

Am Samstag war es soweit: Die Hochzeit von Eric Guerin und Michélle Steinmann, die in der Sankt-Georgs-Kirche in Sélestat stattfinden sollte. Die altehrwürdige Kirche aus dem Mittelalter, im gotischen Stil errichtet, hatte Guerin schon immer sehr bewundert.

Die Feierlichkeiten begannen jedoch schon am Freitag. Krüger hatte den Tag freigenommen. Das Brautpaar wurde im Wochenendhaus Krügers in Kintzheim untergebracht, damit sie sich ungestört auf die standesamtliche Trauung vorbereiten konnten.

Auch die Trauzeugen Kommissar Gruber mit seiner Partnerin Sonja Sperling waren bereits am Freitag eingetroffen. Diesen Tag wollten sie feiernd im engsten Kreis zusammen verbringen. So gut man sich auch inzwischen kannte, noch nie waren sie alle gleichzeitig beieinander gewesen.

Am Samstag war kaum noch mit einer ruhigen Minute zu rechnen, wenn sich die Kollegen des Paares einfanden. Also viele Polizisten aus Freiburg, die Michélle kannten. Bei Guerin war mit sämtlichen abkömmlichen Polizeibeamten des Elsasses zu rechnen, die sich den Abgang ihres größten Konkurrenten nicht entgehen lassen wollten. Ihm hatte keine widerstehen können, lautete das gängige Gerücht, das natürlich so nicht stimmte. Aber dass es viele gewesen waren, dass ließ sich nicht bestreiten.

Nach dem eher nüchternen Verwaltungsakt verbrachte man den Nachmittag und Abend vorwiegend im Garten, das Wetter spielte mit, blauer Himmel, angenehme Temperaturen. Selbstverständlich wurde nicht über die Arbeit gesprochen. Dazwischen liefen letzte Vorbereitungen, von denen das Brautpaar möglichst nichts mitbekommen sollte.

Samstagmorgen, ab acht Uhr, gab es ein großes Frühstück im Garten, mit allen möglichen Köstlichkeiten: Duftende Croissants, edle Käse, Kaffee und Tee, Fruchtsäfte, kaum ein Wunsch blieb unerfüllt. Elisabeth hatte den Dorfbäcker und den Dorfwirt verpflichtet, die ihr Bestes gegeben hatten.

Extra für Michélle hatte Sonja eine bekannte Haarstylistin einfliegen lassen, damit sie sich nicht in einen Salon bemühen musste. Die Stylistin war zufällig eine der besten Freundinnen von Sonja, aber das blieb natürlich geheim. Den von Michélle selbst ausgemachten Termin hatte Sonja diskret abgesagt.

Nach und nach trafen die Gäste des engeren Kreises ein. Grubers Töchter Edith und Alexandra, als Überraschung für Krüger Elisabeths Tochter Sandra mit Freund Simon.

Um zehn Uhr fuhr die sechsspännige Hochzeitskutsche vor, die das Brautpaar nach Sélestat bringen sollte. Dafür war seit Längerem diskret gesammelt worden. Weder Michélle noch Guerin hatten etwas davon mitbekommen.

Zum absoluten Höhepunkt für Krüger wurde dann allerdings, dass er Michélle an Stelle ihres schon vor ihrer Geburt verschwundenen Vaters, zum Altar führte. Michélle hatte sich das schon vor längerer Zeit gewünscht, und Krüger war einverstanden gewesen.

Danach entglitt der Ablauf der Feier dem engeren Kreis. Die Kirche war kaum groß genug, um alle Gäste aufzunehmen, viele Polizisten in Uniform, Verwandte und Bekannte, alles in allem mehrere hundert Personen.

Das Brautpaar durchschritt ein nicht enden wollendes Spalier. Ansprachen von Vorgesetzten und Kollegen Guerins, nur unterbrochen durch mehr oder weniger originelle Rituale, die das Paar absolvieren musste.

Das Abendessen fand in einem elsässischen Schloss statt, das man für Anlässe mieten konnte. Das blieb so ziemlich das Einzige, dass Guerin selbst organisiert hatte.

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