Читать книгу Das Geheimnis der Verschwundenen - Tamara Diekmann - Страница 4
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ОглавлениеMandy betrat gerade das Zimmer im Polizeirevier und es war wieder so ein Fall, der ihr nahe ging. Seit Vorgestern wurde eine Jugendliche vermisst. In den vergangenen Monaten häuften sich solche Fälle und bisher wurde keiner aufgeklärt. Mit jedem neuen Verschwinden wurde die Angst größer, dass das eigene Kind das nächste sein konnte und daher war sie froh, dass sie kinderlos war. Dennoch fühlte sie mit den Eltern mit.
Es war eine bedrückende Stimmung, die ihr entgegen schlug, was sie jedoch nicht verwunderte. Vielleicht, so hoffte sicherlich nicht nur sie, würde dieses Mal alles ein gutes Ende haben. Die meisten Anwesenden kannte sie von anderen Pressekonferenzen, aber immer wieder erblickte sie neue Gesichter. Es waren nicht nur die kleinen Zeitungen vertreten, sondern auch das ein oder andere Überregionale Blatt hatte Vertreter geschickt und sogar ein paar Fernsehreporter entdeckte sie.
Schweigend setzte sie sich auf einen freien Platz, holte Notizblock, Stift und Kamera hervor und wartete. Immer wieder wunderte es sie, dass noch relativ viele Kollegen mit den altbewährten Utensilien arbeiteten und nur hin und wieder Laptop oder Netbook gezuckt wurden. Aber es störte sie auch nicht, da sie selber besser mit Stift und Papier arbeiten konnte. Man konnte sich rasch Notizen, Skizzen oder Fragen aufschreiben, ohne lange tippen zu müssen. Vereinzelt grüßte man sich stumm mit einem Kopfnicken, aber selten wechselte man vorher Worte. Jeder wollte seinen Bericht schreiben, seine Informationen für sich behalten. Vielleicht tauschte man sich danach noch kurz aus, aber auch das kam selten vor. Es war ein Wettbewerb, wer schrieb den besten Text, erhöhte so die Verkaufszahlen und konnte womöglich eine Prämie einstreichen.
Auch das Letzte Gemurmel erlosch, als der Pressesprecher und ein Kommissar den Raum betraten und es herrschte banges Schweigen. Nur das quietschen der zurückgeschobenen Stühle und das Tastaturgetippe waren Zeichen, dass sich etwas tat.
"Meine Damen und Herren" begann der Pressesprecher "mein Name ist Walter Miller und ich bin Pressesprecher der Landeskriminalamtes. An meiner Seite sitzt Kriminaloberkommissarin Gertrud Wörner"
Die angesprochene erhob sich kurz, nickte den Anwesenden zu und setzte sich wieder. Sie war nervös, sortierte ihre Unterlagen und daraus schloss Mandy, dass es keine guten Nachrichten waren, die hier in kurzer Zeit mitgeteilt werden würden.
"Wie Sie bereits wissen, wird seid ein paar Tagen die 14 jährige Elena von ihren Eltern vermisst. Leider gibt es immer noch keine heiße Spur, die uns helfen könnte. Alles weitere wird Ihnen Frau Wörner sagen. Bitte." Er nickte ihr zu, ließ sich nieder und blickte über das Publikum.
"Ich begrüße Sie und bedanke mich für Ihr zahlreiches Erscheinen" Mandy schmunzelte, da sie nicht der Meinung war, dass viele Medienvertreter den Weg hierhin gefunden hatten, konzentrierte sich aber wieder auf die Kommissarin.
"Es stimmt, wir haben noch keine weiteren Hinweise zum Verschwinden des Mädchens. Zeugenaussagen werden weiterhin aufgenommen und nachgegangen, was bisher aber noch zu keinem Ergebnis geführt hat. Auch zu den anderen Vermissten der letzten Monate gibt es nichts neues. Ob ein Zusammenhang zwischen den Fällen besteht, können wir nicht bestätigen, aber leider auch nicht ausschließen. Ungewöhnlich ist, dass es sich dabei um Personen verschiedenen Geschlechts und Alter handelt, was vermuten lässt, dass es sich dabei um unabhängige Fälle handelt."
Da musste Mandy ihr zustimmen. Die Personen, um die es gerade ging, waren wirklich ganz verschiedene Typen. Sie waren zwischen 6 und 54 Jahre alt, sowohl männlich als auch weiblich. Selbst das Aussehen konnte anders nicht sein. Das Einzige, was auf den gleichen Täter hindeuten könnte, war die Nähe der Orte, an denen die Leute verschwunden waren. Es folgte ein kurzer Rückblick auf die bisherigen Ermittlungen, auf die Suchtrupps, die immer wieder aufs Neue durch Wälder, Felder und Parks geschickt wurden. Natürlich wurde die Personenbeschreibung des Mädchen wiederholt, aber all das war der Journalistin bereits bekannt. Ernüchternd und ohne neue Infos machte sie sich schließlich auf dem Weg nach Hause. Endlich Feierabend.
***
Der nasse Spätsommertag Anfang September begleitete Mandy auf dem Weg in ihre Wohnung. Mit ihrem Kleinwagen quälte sie sich aus dem Innenstadtbereich heraus, mitten durch den Feierabendverkehr. Sobald der Verkehr stockte, schwankten ihre Gedanken zurück zur Konferenz. Es ließ sie einfach nicht los, dass es keine Hinweise gab. Jeder Täter hinterließ doch Spuren, aber vielleicht war es im Fall Elena noch zu früh um auf erste Ergebnisse zu hoffen. Das es aber offensichtlich bei den anderen Angelegenheiten noch nichts Neues gab, verwunderte sie. Da diese aber von der Polizei angesprochen wurden, war Mandy fast davon überzeugt, dass es sich um ein und den- oder dieselben Täter handelt konnte.
Abgelenkt merkte sie fast zu spät, wie die Ampel vor ihr auf Rot umgesprungen war, so dass sie beinahe auf ihren Vordermann aufgefahren wäre. Nach dem kurzen Schreck war sie froh, als sie endlich die Stadtgrenze passiert hatte und sich der Verkehr lichtete. Die umliegende, leicht hügelige Landschaft übersah sie und auch, dass sie hätte abbiegen müssen. Stattdessen fuhr sie einfach weiter. Erst kurz danach bemerkte sie ihren Fehler und stellte fest, dass sie sich in genau dem Gebiet befand, in dem die Jugendliche zuletzt gesehen worden war. Mandy war bekannt, das es in der Nähe einen Wanderparkplatz gab, den sie anfuhr, um zu wenden. Als sie ihn jedoch erreichte, blieb sie stehen und entschloss kurzerhand, ein bisschen durch die Gegend zu laufen. Der Boden war nass, was Mandy aber nicht davon abhielt, auszusteigen. Ihre Regenjacke und der Regenschirm lagen auf der Rückbank. Sie holte beides hervor und machte sich auf den Weg.
Auf dem sandigen Pfad lief sie in den Wald. Es war ein Mischwald, der hin und wieder kleinere Tümpel verbarg, die von einem Bach aus den südlich gelegenen Mittelgebirgen gespeist wurde. Für die nahen Ruhrpottler ein kleines Paradies nur 100 km vor ihrer Haustür. Bei besserem Wetter war es ein hoch frequentiertes Naherholungsgebiet, jetzt aber im Regen traf man nur auf ein paar Läufer, hartgesottene Wanderer oder Hundeführer. Von den Touristen, die besonders im Hochsommer unterwegs waren, war keiner zu sehen.
Während ihres Marsches fiel ihr auf, dass jeder jeden mehr oder weniger genau musterte. Alle waren vorsichtiger und aufmerksamer, seitdem die Vermisstenmeldungen bekannt waren. Sie selber ertappte sich auch dabei. Ob das nun beruflich bedingt oder aus dem gleichen Grund war, konnte sie nicht sagen. Das saftig grüne Moos am Wegesrand und das dämmerige Licht unter dem Laub ließen diesen Ort märchenhaft erscheinen. Als ihr das Märchen von Rotkäppchen in den Kopf kam, musste sie grinsen, aber die Erinnerung daran, dass hier wirklich ein Kind spurlos verschwunden war, ließ sie wieder ernst werden. Ein hölzernes knacken schreckte sie auf, bis sie ein flüchtendes Reh sah, dass in einigen Metern Entfernung neben ihr fort sprang. Kurz sah sie dem Tier nach, wandte sich aber dann wieder dem Weg zu. Sie entdeckte viele Fußabdrücke im feuchten Boden, bis sie an eine Weggabelung kam, an der Plakate, Blumen und Kerzen platziert waren. An den Bäumen hingen noch Reste des Absperrbandes der Polizei, die auf einen Tatort hindeuteten. Die Plakate mit den Aufschriften "Warum?" oder "Wo bist du?" bewiesen die Vermutung, dass es hier gewesen sein muss. Ein Teddybär mit einem Stück Papier zwischen den Armen erregte Mandys Aufsehen. "Bitte komm wieder. Wir vermissen dich und deine gute Laune. Deine Klassenkameraden" Darunter hatte jedes Kind unterschrieben. Aus einem Bedürfnis heraus pflückte sie eine Wildblume in der Nähe und stellte sie neben dem Zettel in die Arme des Plüschtieres. "Ich hoffe wirklich, dass das ein gutes Ende findet, aber ich glaube nicht daran." Dieser Satz sagte genau das aus, was wahrscheinlich vielen auf dem Herzen lag. Noch kurz verharrte sie, bis sie zurück zu ihrem Auto ging.
***
Es kam vor, aber nur selten, dass Mandy ohne nachzudenken umher lief. In der Regel war ihr Kopf voller Notizen, Aufgaben und Ideen, die sie in ihrem Beruf verarbeiten wollte, aber nach ihrem Besuch an der Waldgabelung war ihr nicht danach. Sie hätte es nicht beschreiben können, wenn man sie darum gebeten hätte, aber sie empfand gerade etwas, was man vielleicht mit friedlich, entspannend, aber auch bedrückend zugleich umschreiben könnte. In dem Moment drängte es sie nicht nach Hause, sondern weiter umher zu fahren, was sie schließlich auch tat. Unbewusst steuerte sie jeden ihr bekannten Ort an, an dem eine der vermissten Personen das letzte Mal gesehen worden war. Eine Erklärung, was sie sich davon erhoffte hatte sie dafür nicht. Mal war es schwer, die Stelle zu finden, woanders dafür umso leichter. Überall, wo es ihr Verlangen war, pflückte sie eine Blume und legte sie ab. Als letztes kam sie dorthin, wo der 6 jährige Sven verschwunden war. Ein kleiner, wuseliger Kerl, so schien es. Sie hatte sein Foto noch im Kopf, da es der erste Fall dieser Reihe war, mit dem sie es zu tun bekam. Es folgten Eindrücke der Pressekonferenz, als sich die Polizei dazu äußerte, die 23jährige Mutter, die schwer gezeichnet um ein Lebenszeichen ihres Jungen gebeten hatte. Ihr kam der Name der Mutter wieder in den Sinn... Esperanza, spanisch, die Hoffnung... und Mandy spürte, wie ihr eine Träne die Wange hinunter glitt. Nein, sie kannte die Familie nicht, hatte sich nur während ihrer Recherche zu den Familienverhältnissen der Betroffenen intensiver mit ihnen befasst, aber plötzlich spürte sie eine tiefe Verbundenheit zu der ihr unbekannten jungen Mutter.
Es wurde dunkler und der Regen wieder stärker, als Mandy endlich in ihrem Auto saß. Noch sah sie sich nicht in der Lage, nach Hause zu fahren, zu sehr beschäftigte sie das Schicksal des kleinen Sven. Erst Minuten später startete sie den Motor, wendete und schlug die Richtung ein, in die sie eigentlich schon vor Stunden hatte fahren wollen. Ganze drei Stunden war sie umher gefahren, ohne zu wissen warum.
Kurz bevor sie abbiegen musste, kam tatsächlich noch die Sonne raus, was aber keinen positiven Einfluss auf sie hatte. Die feuchte Straße spiegelte das Licht der tiefstehenden Sonne und blendete sie, als sie plötzlich einen Jungen vor ihr Auto laufen sah. Geistesgegenwärtig trat sie in die Bremsen, spürte einen Widerstand und wie ihr Wagen über etwas fuhr. Ein dumpfer Klang begleitete die Sekunden, bis sie stand, sich zitternd abschnallte und ausstieg. Sie lief direkt hinter ihren Wagen und sah eine dunkle, leicht feuchte Spur und schließlich einen kleinen, leblosen Körper. Als sie sich niederkniete um genauer nachzuschauen, wurde ihr schwarz vor den Augen und sie ging zu Boden.
Erst eine kühle und feuchte Männerhand, die ihr durchs Gesicht fuhr, ließ sie wieder zu sich kommen. Irritiert schaute Mandy in das dazugehörige Gesicht, dann in die Richtung, wo der Körper liegen musste.
"Ist alles okay mit Ihnen?", wurde sie gefragt
"Ich.. ich weiß nicht... das Kind, wo ist das Kind?"
"Welches Kind?", wollte der Unbekannte nun wissen.
"Ich... ich hab es nicht gesehen... es lief vor mein Auto und dann... dann lag es da." Mandy deutete mit einem schwachen Kopfnicken an die Stelle.
"Nein, es ist nichts passiert, außer, dass Sie ein Reh überfahren haben"
Darauf folgte Mandy dem Blick des Mannes und sah wirklich nur ein totes Tier.
"Ich versteh nicht...", war alles, was sie hervor brachte. Wenig später fuhr ein Krankenwagen vor.
***
Nachdem man sie im Krankenhaus untersucht hatte und nichts außer ein Schock und einem Bluterguss am Kopf vom Sturz festgestellt worden war, rief sie sich ein Taxi und ließ sich nach Hause fahren. Ihr Wagen wurde noch in ihrer Anwesenheit verladen und in die Werkstatt gefahren. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass da wirklich nur ein totes Tier lag, hatte sie sich entschlossen, anzugeben, dass es tatsächlich ein Wildunfall war, aber selber davon überzeugt war sie nicht. Sie wusste, was sie gesehen hatte und das war ein Junge, der ihr vor das Auto gelaufen war und da dann auch tatsächlich gelegen hatte, bis sie Ohnmächtig wurde. Da es aber keine Beweise oder Zeugen gab, außer sie selber, die in dem Moment wirklich geschockt war, konnte sie das Gegenteil nicht beweisen. Sie fügte sich der Mehrheit und den Fakten, die vorlagen, da ihr anders eh keiner glauben würde.
Zu Hause angekommen, betrat sie den Flur, schmiss ihre Tasche und Jacke auf den Boden, legte ihre Kamera beiseite und ging direkt weiter auf die Couch. Nachdem sie etwas zur Ruhe gekommen war, machte sie sich einen starken Kaffee, deckte sich mit einer Decke zu und starrte Löcher in die Luft. Irgendwann entschloss sie sich, ins Bett zu gehen um wirklich zur Ruhe zu kommen.
Als es knarrte, schrak Mandy hoch. Schweißgebadet saß sie im Bett, in ihrem Kopf schwirrten die Bilder der letzten Monate umher, neben Textauszügen, die sie selber verfasst oder gelesen hatte. Schließlich zwang ein stetiges Klopfen in ihrem Schädel sie wieder dazu, sich hinzulegen. Die erneuten Versuche, zu Schlaf zu kommen, scheiterten daran, dass sie immer wieder diesen Schatten vor ihrem Auto sah. Jung, aufgeweckt, verwegen. Je länger es in ihr herumspukte, umso deutlicher erkannte sie, um wen es sich handelte. Es war der kleine Sven. Aber er schien so lebhaft zu sein, so, als würde er mitten im Leben stehen, sorgenfrei umherziehen, was aber nicht sein konnte. Darauf folgte das Bild des Körpers, den sie überfahren hatte und ihr wurde erneut schwarz vor Augen. Sie meinte, eine Stimme zu hören, eben so jung, aber nicht so fröhlich, wie es zu den Bildern gepasst hätte: "Hier bin ich... Hilf mir..." Dann das Geräusch des dumpfen Aufpralls und das Gefühl, über etwas gefahren zu sein. Irgendwann schlief Mandy wieder ein.
Ihr Wecker holte sie aus dem Schlaf, was ihr im ersten Moment nur recht war, bis ihr Schädel ein deutliches Zeichen gab, dass sie sich an die Vorgaben des Arztes halten sollte und die nächsten Tage nicht in der Lage war, zu Arbeiten. Trotzdem stand sie auf, machte sich was zu essen, kontrollierte kurz ihre E-Mails, legte sich dann aber wieder hin. Zwar nicht auf Grund der anhaltenden Schmerzen, sondern weil die letzte Nacht ihren Tribut forderte und die fehlenden Stunden Schlaf nachgeholt werden wollten.
***
Sie konnte es nicht lassen und fragte bei Kollegen nach, ob es irgendwas Neues im Fall Elena gab, wurde aber immer wieder enttäuscht. Auch Sven ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und mehrmals hatte sie den Eindruck, dass sie sein Bild immer wieder sah oder seine Stimme hörte. Mit jemandem darüber reden wollte sie nicht, da sie davon ausging, dass ihr keiner Glauben würde, was sie wiederum verstehen konnte.
Sobald es ihr ein bisschen besser ging, entschloss Mandy, etwas an die frische Luft zu gehen. Wie so oft, wenn sie irgendetwas zu sehr beschäftigte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Platz. Es war eine kleine Lichtung in einem nahegelegenen Wald auf einer Ebene. Einer der Findlinge diente ihr als Sitz und sie genoss die Aussicht über den kleinen See und den angrenzenden, früheren Steinbruch. Da man diesen Tag doch noch als Sommertag bezeichnen konnte, lauschte sie den Bienen und Vögeln, die eifrig umher flogen, summten und zwitscherten.
Die Strahlen wärmten sie, was sie zum träumen anregte und ihre Gedanken drifteten ab, in eine dunkle, aber nicht unangenehme Welt.
Sie befand sich in einem dämmrigen Raum. Um sie herum standen einige Leute, die sie aber nicht bemerkten. Unsicher tastete sie sich vor, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Es war eine bunt gemischte Truppe, Alte, Junge, Jugendliche standen beieinander und unterhielten sich. Die Gespräche gingen über verschiedene Themen. Teilweise wurde diskutiert, woanders geflirtet. Was Mandy allerdings stutzig machte war, das alles seltsam emotionslos schien. Es wurde zwar gelacht, aber sie würde es nicht als ein 'von Herzen' beschreiben, eher aus Höflichkeit. Die ganze Atmosphäre hatte etwas von Anstand und Benehmen. Keiner unterbrach den anderen, man ließ ausreden und es blieb sachlich, so, wie man es aus früheren Zeiten und Filmen kannte. Selbst Leute, bei denen Mandy sicher war, dass man sich nicht ausstehen konnte, blieb alles normal und freundlich. Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas diese Personen miteinander verband.
Der Schrei eines Bussards holte sie zurück in die Realität. Ihr Blick fiel auf den Steinbruch und sie meinte, eine Person da zu sehen, was doch eher ungewohnt war. Erst beobachtete sie diese noch etwas, aber dann trieb sie eine Innere Kraft an, näher heran zu gehen.
Nach wenigen Minuten erreichte Mandy die ehemalige Einfahrt. In etwas Entfernung parkte ein Kombi, auf dessen Heckscheibe wie bei so vielen anderen Autos auch "Mama's Taxi" aufgeklebt war. Mit einem kleinen Lächeln lief Mandy weiter. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals den alten Bruch betreten zu haben und spontan fiel ihr auch kein Artikel ein, den sie jemals damit in Verbindung gebracht hatte. So ließ sie sich überraschen und von der Neugierde leiten. Vermutlich hatte man hier früher Basalt abgebaut. Vereinzelt lagen Metallteile oder noch gut erhaltene Transportgefährte umher, die bereits dem Rost zum Opfer gefallen waren. Die Büsche, Bäume und herumliegende Steinbrocken machten ein Vorankommen nicht sehr einfach, dennoch kroch Mandy voran. Immer wieder trat sie in Pfützen, die von Fliegen und Mücken belagert waren und den Störenfried mit Flug- und Stechattacken zu vertreiben versuchten. Müll und weiterer Unrat lag verteilt auf dem Boden, bis aus dem kleinen Dschungel ein weniger stark bewachsener Fleck auftauchte. Auf einem Stein entdeckte Mandy die Person, welche sie von ihrem Platz aus beobachtet hatte.
***
Bevor sie sich nährte, blieb sie in etwas Entfernung stehen und hielt kurz inne. Bei der Fremden handelte es sich um eine junge Frau, die sehr mitgenommen wirkte und weinte. Bisher schien diese Person sie noch nicht zu bemerken. Erst als Mandy von einem Stein abrutschte, Äste knackten und sie fluchte, wandte sich die sitzende in ihre Richtung.
"Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken", begann Mandy
"Schon okay.", war die Antwort
Mandy hatte sich mit ihrer Einschätzung nicht getäuscht. Scheinbar trauerte die Fremde.
"Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" erkundigte sich Mandy
"Ja, geht schon."
Aber die Journalistin ließ sich nicht täuschen, als sie schließlich erkannte, wer da saß.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Sie versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber ihr schlug nur trauerndes Schweigen entgegen. Schließlich stand sie neben der jungen Frau, die sie mit roten Augen ansah. "Es tut mir Leid", war alles, was Mandy nun hervor brachte. Ihr Gegenüber wandte den Kopf ab und schluchzte leise. "Wenn ich wenigstens Gewissheit hätte. Dann hätte ich einen Ort, an dem ich trauern kann." Jetzt war es Mandy, die erst betreten schwieg, dann aber doch Worte fand: "Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen."
"Bringen Sie mir meinen Jungen zurück oder sagen Sie mir, wo ich ihn finde. Er ist doch alles, was ich habe."
"Wenn ich was wüsste, würde ich Ihnen das sagen. Aber das kann ich leider nicht."
"Ich weiß. Selbst die Polizei weiß nicht mehr weiter. So bleibt mir nur dieser Platz, an dem er immer mit seinen Freunden gespielt hat. Wir wohnen nicht weit weg, so dass er immer hier in den Wald und in den Steinbruch gefahren ist. Abenteuer erleben." Ein schwaches Lächeln zeichnete sich ab.
"Was für Abenteuer denn?", wollte Mandy nun wissen.
"Naja, Schätze suchen, gegen Drachen kämpfen, Buden bauen. Eben das, was sie in dem Alter so machen. Haben Sie Kinder?"
Die direkte Frage überraschte sie. "Nein. Mein Beruf lässt mir dazu keine Zeit. Außerdem fehlt mir der passende Mann."
"Ich verstehe. Ja, die meisten Männer ziehen den Schwanz ein, wenn es ernst wird. Genau wie Svens Vater. Als ich ihm sagte, dass ich schwanger bin, hat er seine Sachen gepackt, ist ausgezogen und zu seiner Ex zurück. Hat mich sitzen lassen und sich der Verantwortung entzogen. Wie sooft."
Für die Journalistin war es nicht neu, aber es war etwas anderes, selbst davon zu hören, als in Unterlagen zu lesen 'Alleinerziehende Mutter'.
"Weiß er davon, dass Sven weg ist?" Vorsichtig tastete sie sich näher an Infos.
"Ich habe versucht, es ihm zu sagen. Alles was ich zu hören bekam: 'Ist doch nicht mein Problem. Du wolltest das Kind. Ich habe damit nichts zu tun.' Dann hat er aufgelegt. Es interessiert ihn kein bisschen. Nicht mal zu seinen Geburtstagen hat sich der Vater gemeldet."
"Zahlt er Unterhalt?"
Esperanza lachte auf: "Wovon denn? Der hat ja nichts. Lebt von dem, was seine Ex verdient. Nein, alles was ich bekomme, ist das vom Jugendamt und das bisschen, was ich als Verkäuferin verdiene. Aber uns fehlt es an nichts. Wir haben ein Dach über den Kopf, haben Essen und er hat Spielzeug. Auch wenn er immer viel lieber draußen war." Sie holte ein Photo hervor, dass den Jungen zeigt. "Das ist mein Engel mit dem Hund unserer Nachbarn." Es war ein Golden Retriever, der vor dem Kind lag und in die Kamera schaute. "Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Ich verschwende ihre Zeit."
"Dafür brauchen Sie sich nicht entschuldigen. Vielleicht, weil sie einfach jemanden zum reden brauchen. Außerdem bin ich krankgeschrieben und würde sonst nur in meiner Wohnung die Zeit absitzen. Mein Name ist übrigens Mandy."
"Esperanza", stellte sich Svens Mutter kurz vor und wischte sich Tränen aus dem Gesicht.
An einer nahen Steinwand lief ein kleiner Vogel entlang, der vor einem Loch stoppte und sich lautstarke schreienden und hervor reckenden Jungvögeln entgegen stand. Der, der am lautesten war, bekam einen Falter in den Schnabel gestopft und schließlich verschwand das Elterntier wieder.
"Glaubst du, er lebt noch?"
Mandy fuhr erschrocken zusammen. "Ich hoffe es."
"Ich nicht. Sein Körper wird irgendwo unter Laub verscharrt sein. Wenn ich nur wüsste, wo."
"Glaub erst daran, wenn du es weißt. Alles andere macht dich nur kaputt."
"Das bin ich schon. Er war alles, wofür ich gelebt und gearbeitet habe. Sein Lachen fehlt mir so. Die Bilder, die er gemalt und mir geschenkt hat, vermisse ich. Sein Weinen, wenn er sich weh getan hat, höre ich immer wieder im Schlaf. Ich will ihm helfen, aber ich kann nicht. Ich hoffe nur, dass er nicht zu sehr gelitten hat."
"Er wird gefunden und dann kannst du ihn wieder in die Arme schließen."
"Ihn nicht. Nur seine leere Hülle. Kein Lachen, kein Weinen. Nur Kälte."
Die Worte schmerzen Mandy, aber sie ahnte, dass es so kommen würde. Unwahrscheinlich, dass ein Kind nach Monaten des Verschwindens auf ein Mal munter auftaucht, so, als wäre nichts gewesen.
***
Als die Sonne kurz hinter den aufziehenden, dunklen Wolken verschwand, wurde es plötzlich unangenehm kühl. Mandy begann zu frieren, aber auch Esperanza ging es nicht anders. Ein starker Wind kam auf, so dass beide etwas näher aneinander rückten, sich aber dann doch entschlossen, unter einem Überhang Schutz zu suchen. Nicht viel später öffnete sich der schwarze Vorhang und es begann zu regnen. Ohne ein Wort zu wechseln, warteten sie das Unwetter ab. Als Esperanza plötzlich laut rief: "Sven, da ist Sven!", und hervor lief, meinte auch Mandy für einen Moment, den Jungen in dem Bruch zu sehen und folgte Esperanza. Diese hielt wenig später mitten im Regen an, ließ die Schultern und den Kopf sinken, und ließ sich auch nicht dazu bewegen, wieder ins Trockene zu kommen, so dass beide Frauen in kürzester Zeit durchnässt waren.
Mandy umfasste die Schultern der anderen und führte sie so wieder dorthin, wo sie vor kurzem noch standen. "Hilf mir... Mama... Bitte... ich brauche dich", hörte sie die Stimme rufen, die sie schon mal vernommen hatte, schaute sich noch ein Mal um, kam aber zu dem Entschluss, dass es eine Täuschung gewesen sein musste, bis Esperanza abrupt stoppte und schrie: "Sven, Engel... Wo bist du? Komm zu mir, bitte!" Nur mit Mühe konnte Mandy die junge Mutter davon abhalten, erneut in das Unwetter zu laufen. Als sie im trockenen waren, half sie Esperanza, sich auf den Boden zu setzen und hoffte, dass sie sich wieder beruhigte. "Mein Junge... da war mein Junge. Ich hab ihn gesehen, er braucht meine Hilfe! Lass mich gehen!"
"Nein. Das war eine Täuschung! Da war niemand!", redete Mandy auf sie ein.
"Doch! Ich hab ihn gesehen! Er hat nach mir gerufen! Er lebt!"
"Dann wäre er hier. Er wäre zu dir gekommen und dir gefolgt, Esperanza. Da war niemand. Wirklich!"
"Sven... Engel..."
Hilflos nahm Mandy Esperanza in den Arm. Ihr fiel nicht ein, was sie sagen konnte, da sie von ihrer eigenen Aussage nicht überzeugt war. Aber das konnte nicht sein! Sie spürte, wie der andere Körper bebte. Nicht aus Angst, nicht aus Kälte, sondern aus Trauer und Verzweiflung.
So plötzlich wie das Unwetter aufgezogen war, so schnell verschwand es auch wieder. Innerhalb weniger Minuten erstrahlte der Steinbruch im warmen Licht. Die Regentropfen fielen zügig von den Blättern und Ästen. Es roch nach Sommerregen, nach der Frische von Natur. Die erwärmten Steine dampften und auch das Leben in der Tierwelt kehrte zurück. Die Vogeleltern flogen Futter im Akkord, zum Wohle des Nachwuchses, der sich lautstark bemerkbar machte.
"Ich glaube, ich fahre besser nach Hause." Damit erhob sich Esperanza und auf wackeligen Beinen verließ sie den Unterstand. Besorgt ließ Mandy sie ein paar Meter gehen, entschied aber dann: "Ich glaube, ich bring dich nach Hause. So kannst du kein Auto fahren."
"Doch, ich kann das. Sind nur ein paar Meter."
"Nein, nicht in dem Zustand. Das kann ich nicht verantworten!"
Nach etwas zureden sah Svens Mutter schließlich ein, dass ihre Begleiterin Recht hatte, gab ihr die Adresse und Autoschlüssel.
Es war wirklich nicht weit. Nach wenigen Minuten erreichten sie das Haus. Das sechs-Parteien-Haus hatte zwar auch schon bessere Zeiten erlebt, aber sobald sie im Inneren waren, zeugte der Zustand und die Einrichtungen davon, dass es nur äußerlich ungemütlich aussah. Esperanza wohnte im Ersten Obergeschoss und als sie noch im Treppenhaus waren, machte sich der Hund der Nachbarn vom Bild bemerkbar, hörte aber auf, sobald die beiden die Wohnung betreten hatten.
***
Sobald sie hinter sich die Tür geschlossen hatten, zog Mandy ihre nassen Schuhe aus. Auf der Kommode an der Garderobe lag eine Kinderzeitschrift, die an Sven Böhm adressiert war. Als Thema hatte das Heft "Fledermäuse" angegeben und zeigte auf dem Titelblatt eines der flatternden Nachttiere. "Sowas schaut er sich gerne an. Ich lese ihm dann immer das vor, was er interessant findet."
Mandy merkte, wie Esperanza im Zwiespalt war. Einerseits hoffte sie daran, dass er noch lebt, aber andererseits schien sie sich damit abgefunden zu haben, dass er wahrscheinlich nicht mehr lebt. Sie folgte ihr in das Wohnzimmer. In einer Ecke standen Bilder, Kuscheltiere und Kerzen. Aber auch Briefe und Gedichte lagen da. "Das ist seine Ecke", wurde Mandy erklärt. "Immer wenn ich was für ihn habe, lege ich das dazu."
"Darf ich?", fragte die Besucherin vorsichtig
"Ja, ich mache uns einen Tee. Oder lieber Kaffee?"
"Danke, Tee ist in Ordnung." Dann lief sie zu der Ecke. Ihr Blick schweifte über das Geschriebene. Sie zeugten von tiefem Schmerz und Verzweiflung. Hoffnung schien der Verfasser kaum noch zu haben. Die ersten beiden Zeilen eines Gedichtes erinnerten sie an ihren Tagtraum von eben:
"Die Dunkelheit hält dich gefangen,
gibt dich nicht mehr frei..."
Weiter kam sie nicht, da sie sah, wir ihr der Tee gereicht wurde. "Schreibst du die Gedichte?"
"Ja, vielleicht kann ich so besser damit umgehen."
"Aber es hilft dir nicht, oder?"
"Ich weiß es nicht. Eher helfen mir die Briefe, die ich ihm schreibe."
"Sind das die in den Umschlägen ohne Namen?"
"Genau. Ich weiß nicht wo er ist. Also kann ich die nicht adressieren."
"Hast du Hilfe oder Unterstützung?"
"Meine Eltern sind für mich da. Die leihen mir auch immer das Auto, wenn ich mit dem Kleinen unterwegs...bin... war... . Wenn ich doch bloß Gewissheit hätte."
"Und von außen?"
"Die Polizeiseelsorger kümmern sich um mich und haben mir einen Termin bei einer Therapeutin besorgt. Ohne weiß ich, schaffe ich das nicht. Es ist so, als würdest du in ein tiefes Tal gehen. Immer tiefer und es wird immer dunkler. Du weißt nicht, wann das ein Ende hat. Wann es wieder bergauf geht. Dir kann keiner sagen, wie es weiter geht. Du spürst nur den Schmerz und die Einsamkeit. Und weniger der Schmerz, sondern die Einsamkeit macht einen krank. Alles Gewohnte wird auseinander gerissen. Vertrautes ist nicht mehr da. Es fehlt an allen Ecken und Kannten, die immer näher kommen und dich zerquetschen wollen. Du willst schreien, entkommen, aber kannst nicht, da du nicht weißt, wie du von dem aktuellen Punkt fort kommst. Jeden seidenen Faden, jeden Strohhalm, alles was nach Halt aussieht, ergreifst du. Aber oftmals fällst du nur weiter hinab, da niemand da ist, der dich auffängt."
Diese Aussage tat weh, aber sie führte dazu, dass Mandy die Person verstand, die auf ein Zeichen ihres Sohnes wartet oder das Ende der Leiter finden wollte. Den anderen Angehörigen, wie die von Elena, wird es nicht anders gehen. Wie schlimm muss es sein, wenn Eltern ihr Kind verlieren und nicht wissen, wo es ist?