Читать книгу Das Geheimnis der Verschwundenen - Tamara Diekmann - Страница 5

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Erst als es dunkel wurde, kam Mandy los. Esperanza schien froh gewesen zu sein, jemanden zum Reden zu haben, der keine blöden Kommentare los lässt oder Fragen stellt, die alles noch schwerer machen.

"Vielen Dank, dass du da warst. Normalerweise ist das nicht meine Art, aber im Moment weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht."

"Keine Ursache. Wenn ich helfen kann, egal ob ich die Leute kenne oder nicht, dann tue ich es. Hätte ich dich im Bruch alleine zurückgelassen, hätte ich ein schlechtes Gewissen gehabt."

"Ja... der Bruch... Was hast du da eigentlich gemacht? Bisher habe ich da noch nie jemanden angetroffen."

"Oberhalb ist der Wald mit einer kleinen Lichtung. Da hat man einen schönen Blick über die Landschaft und den See. Wenn ich nachdenken muss oder einfach mal Ruhe brauche, bin ich oft da. Wie du schon sagtest, ist kaum einer dort, daher war ich auch überrascht, jemanden zu sehen, der da herum läuft. Also habe ich nachgeschaut und dich angetroffen."

"Danke"

"Dafür brauchst du dich nicht zu bedanken. Ich habe das gerne gemacht. Jetzt werde ich aber wirklich nach Hause gehen. Hier sind meine Nummer und Adresse." Sie überreichte ihr eine Visitenkarte. Es war eine mit privaten Daten, da sie es nicht für sinnvoll hielt, ihr eine dienstliche zu geben, um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Sie war wirklich privat hier und alles, was sie hier erfahren hatte, würde niemals an die Öffentlichkeit gehen, auch wenn es sicherlich eine gute Story geben könnte.

"Du kannst mich immer anrufen oder vorbei kommen, wenn du einen Gesprächspartner brauchst. Also, gute Nacht." Sie drückten sich zum Abschied und schließlich ging Mandy nach Hause.

Nach 15 Minuten war sie angekommen. Esperanza hatte ihre Klamotten zwar in den Trockner getan, aber ihr war nach umziehen zu Mute. Gerade als sie sich der Tür nährte und das Licht anging, sah sie auf der Treppe etwas liegen. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie eine Blume. Erst als sie drin war, stellte sie fest, dass es eine war, die sie an Svens letztem Sichtungsort abgelegt hatte. Sie wusste das so genau, da es in der Ecke kaum noch etwas blühendes gab und sie suchen musste, bis sie was gefunden hatte und das war eben diese langstielige, violette Blume.

Irritiert sah sie sich um, fand aber niemandem, der sie hätte hinlegen können, was auch verwunderlich wäre, da sie ja den ganzen Tag unterwegs war. So schloss sie kopfschüttelnd die Tür, suchte nach einem Gefäß, füllte es mit Wasser und stellte das Pflänzchen rein, was sie schließlich gedankenverloren betrachtete. "Ich will noch nicht... Hilf mir...", waren die Worte, die ihr einen Schauer über den Rücken jagten, der sie frösteln ließ. "Wer ist da?", fragte sie in die Stille, aber bekam keine Antwort. Für einen Augenblick glaubte sie, einen Schatten an der weißen Wand entlang huschen zu sehen, besann sich aber darauf, dass da nichts war. "Oh man. Jetzt sehe ich schon Gespenster, höre Stimmen... Ich glaube, ich habe mir doch mehr bei dem Sturz getan, als ich dachte." Der Unfall, der Sturz, der Junge... seit diesem Tag nach der Konferenz begann alles. Vielleicht hatte sie sich doch zu sehr mit dem Schicksal der anderen befasst und ihr Unterbewusstsein spielte ihr einen Streich nach dem anderen.

Am nächsten Morgen war es das Handy, was sie weckte. Sie hatte besser geschlafen, als erhofft und es war später Vormittag, als sie den Anruf entgegen nahm: "Hallo Esperanza, wie geht es dir?"

...

"Gibt es denn was neues?"

...

Mandy richtete sich überrascht auf und rang nach Worten.

"Ähm... nichts zu danken. Weißt du doch. Aber freut mich, dass sie dir gefällt. Komm doch später auf einen Tee vorbei. Dann können wir reden, wenn dir danach ist."

...

"Schade, okay, dann ein anderes Mal. Bis dann."

Zitternd legte sie das Telefon beiseite und ließ sich danach wieder ins Kissen fallen.

"Was geht hier vor???", war alles, was ihr gerade einfiel.

Ein Unbekannter hatte wie ihr, Esperanza die gleiche Blume vor die Haustür gelegt. Diese glaubte daran, dass sie von ihr war, was aber nicht zutraf. Zu erst hatte sie an einen Nachbarn oder an Kinder gedacht, die ihr eine Freude machen wollten, aber dazu passte nicht, dass ihre neue Bekannte ebenso beschenkt worden war. Schließlich verband die beiden nichts, außer der gestrige Tag.

***

Nachdem Mandy eine Woche krankgeschrieben war und sie auch ihr Auto wieder hatte, fing für sie wieder der Alltag an. Etwas unsicher stieg sie ein, aber nach wenigen Minuten hatte sie die alte Sicherheit wie vor dem Unfall wieder. Wie sie nicht anders erwartet hatte, wurde sie freundlich von ihren Kollegen begrüßt. Das Arbeitsklima war sehr angenehm und keiner kommentiere ihren Crash. Lediglich erkundigte man sich, wie es ihr geht und bot Hilfe an, falls die Arbeit doch noch zu viel werden würde. An dem Artikel zu der Pressekonferenz musste sie nicht mehr arbeiten, da eine Kollegin die Aufgabe übernommen hatte. Es war Mandy nur recht, dass sie sich um anderes kümmern konnte, das nicht so schlagzeilenträchtig war. Sie wollte etwas Abstand zu dem nehmen, was seine Spuren hinterlassen hatte. Daher lehnte sie auch das Angebot eines weiteren Kollegen ab, der zu ihr kam: "Grüß dich. Schön das du wieder an Bord bist. Wie sieht es mit den Vermisstensachen aus? Willst du da dran bleiben oder erst einmal nicht?"

"Nein, den kannst du übernehmen. Ich sollte mich auf was anderes konzentrieren, was weniger umfangreich ist, damit ich wieder was fertig bekomme."

"Okay, danke. Jens hatte was zu Geistersichtungen im Angebot. Da gibt es doch den einen Guru, der meint, Verbindungen zu Verstorbenen herstelle zu können, der vor kurzem ein Buch veröffentlicht hat. Der hat in ein paar Wochen in der Bürgerhalle eine Lesung. Wäre das was für dich?"

Mandy musste lachen: "Klar, das hört sich sehr lustig an. Immer diese Verrückten... und denen glaubt man auch noch. Dann werde ich mich mal mit dem Herren beschäftigen."

Solche reinen Recherchearbeiten gefielen ihr immer wieder. Man hatte seine Kontakte wie Verlage, Agenturen und bereits vorhandene Berichte, mit denen man arbeiten konnte. Allein das Internet würde dazu viel hergeben. "Dann werde ich mal auf Geisterjagd gehen", scherzte sie mit ihren Kollegen und war froh, dieses Thema spätestens nach der Lesung abhaken zu können. Vielleicht konnte sie sich dann wieder auf ernsteres Konzentrieren.

Nicht viel später stand sie im Büro des Chefredakteurs Jens. "Ah, du brauchst also wieder Aufheiterung nach den letzten Monaten. Timo hatte bereits gesagt, dass du den Guru übernimmst. Hast du schon eine Idee, was du machen und wie du vorgehen willst?"

"Ich denke, ich schau mal nach, was es in den Staaten so dazu gibt. Die sind da ja noch ein bisschen verrückter als wir. Natürlich eine Biographie, Textauszüge des Buches, Meinungen einholen, Rezensionen lesen und eine Diskussion. In welcher Reihenfolge ich das mache, weiß ich noch nicht genau. Aber das wird was interessantes. Also wenn ihr mich dann lachen hören solltet, wisst ihr, warum."

"Macht nichts, wenn du da dran bist, kommt wieder Stimmung in die Bude hier."

"Ich werde mein bestes geben, um euch zu erheitern.", versprach sie, nahm ein paar Fleyer zur Lesung an sich und machte sich an die Arbeit.

Das Glanzpapier zeigte einen älteren Mann um die 60 Jahre alt mit langem, grau-meliertem Haar und einem kleinen Bart. Der Hintergrund war dunkel und nur ein schwacher, gelb-goldener Schein umgab das Portrait und ließ so eine seltsame Stimmung aufkommen. Genau passend für das Thema, womit er sein Geld verdiente. Er nannte sich Jean, der Vermittler und war doch, zumindest auf dem Bild, eine beeindruckende Figur. Die Vorstellung, dass es sich dabei um eine Trollähnliche Gestalt, klein und dick, handeln konnte, erheiterte sie.

***

Je mehr sie sich in ihr neues Thema einarbeitete, umso seltsamer fühlte sie sich. Anders als sie gehofft hatte, dass sie Abstand von den anderen Sachen bekommt, plagten sie immer wieder die Gedanken zu dem Erlebten. Sie war zwar davon überzeugt, dass so etwas nicht möglich ist, wie es der Guru anpries, aber mit ihren kürzlich gemachten Erfahrungen sah sie das auch in einem etwas anderen Licht. Sie konnte nicht so distanziert daran gehen, wie es ihr lieber gewesen wäre, so dass es ihr schwerer fiel, ohne eigene Wertung die Texte zu verfassen. Bei der Biographie was es ein leichtes, da sie sich nur auf die Fakten berufen konnte, die ihr vorlagen. Jedoch bei den Berichten von 'Klienten' wie der Guru die nannte, die zu ihm kamen, kam sie ins zweifeln und überlegte oft, was wahr und was nur Illusion war. Sie hatte ja selber vor so einer Entscheidung gestanden, es dann aber als Trugbild abgelehnt. Was also wäre, wenn sie sich darauf einlassen, leiten würde? Wahrscheinlich würde man sie als Verrückte in die Anstalt einliefern. Aber wäre es nicht einmal interessant, das als Recherche einfach mal auszuprobieren? Eine bessere Begründung hätte sie nicht haben können, falls sie in der nächsten Zeit anders auffallen würde. Alle wussten, woran sie schrieb, daher würden ihre Kollegen sich ihren Teil denken, aber sie nicht böse damit aufziehen.

Nach ein paar Tagen erkundigte sich Jens danach, wie sie voran kam: "Und? Schon was gefunden?"

"Ich mach es mir jetzt einfach und probiere das mal aus, ob das wirklich 'geht' und wie so eine Sitzung abläuft. Irgendwo müssen ja diese Behauptungen her kommen, dass die Klienten mit Verstorbenen gesprochen haben. Sollte ich also etwas komisch drauf sein und die anderen fragen, weißt wenigstens du, was los ist." Sie zwinkerte ihrem Chef zu und bekam auch das Okay: "Von mir aus, aber übertreibe es nicht. Wir wollen dich wieder so haben, wie bisher auch. Dann wünsche ich dir viel Spaß bei deinem Selbstexperiment. Weißt du schon, mit wem du in Kontakt treten willst?"

"Naja, er soll ja auch mit Tieren reden können. Ich frag ihn mal, ob er mir sagen kann, was aus meinem Hund Alf geworden ist."

"Ach, war das der Mini-Collie?

"Er sah aus wie einer, war aber ein Sheltie. Die 'Taschenvariante' davon.", konterte sie.

"Schon gut, schon gut. Für mich bleibt es aber ein Mini-Collie. Bestelle ihm dann mal schöne Grüße von uns. War immer lustig mit ihm, bis er leider viel zu früh eingeschläfert werden musste."

"Das werde ich machen. Aber ich bezweifle, dass das ankommen wird. Geldmacherei ohne Sinn und Verstand."

"Sieh es so: Wirtschaftlich gedacht. Du weißt doch, dass wir ein Großteil unseres Geldes für unsere Lieben, egal ob Mensch oder Tier, ausgeben."

"Da hast du auch wieder recht. Wir werden sehen, was es bringt."

"Ich bin dann mal auf deinen Erfahrungsbericht gespannt." er klopfte ihr auf die Schultern und setzte seinen Weg fort.

Nun hatte sie freie Bahn und konnte sich darum kümmern, wie so etwas ablief. Noch nie hatte sie sich damit befasst, aber ihre Neugierde war geweckt.

Es war schwieriger als gedacht, einen Termin bei dem Herren zu bekommen und sie zog kurz in Erwägung, sich als Pressevertreter vorzustellen, aber da sie nicht anders behandelt werden wollte, als die Übrigen, verwarf sie den Gedanke schnell wieder. Außerdem konnte es dann ja auch sein, dass sie direkt abgewiesen worden wäre, da irgendetwas faul an der Sache war, was sie auch selber vermutete.

Mandy las interessiert die Berichte der Leute, die so was schon mal gemacht haben und war belustigt, wie verschieden eine Sitzung wohl abzulaufen schien. Es gab sogar welche, die davon überzeugt waren, dass sie ihre Toten während des Gesprächs berühren und spüren konnte und das alle behaupten, vorher keine Getränke oder ähnliches zu sich genommen zu haben. Einige sprachen von einem tranceähnlichen Zustand oder von Hypnose, was vielleicht auch eine Erklärung sein konnte.

***

Nach ihrem ersten Treffen im Steinbruch kamen Esperanza und Mandy mindestens einmal pro Woche zusammen. Tranken was zusammen, gingen spazieren oder unternahmen sonst was. Der Altersunterschied der beiden betrug gerade mal sieben Jahre, so dass sie noch ähnliche Interessen und Gesprächsthemen hatten. Für Mandy war es eine Herzensangelegenheit, der Jüngeren die schwere Zeit etwas zu erleichtern und Lasten abzunehmen, die die junge Frau in ihrer momentanen Situation nicht alleine stemmen konnte. Oft war sie nur Zuhörer und Tröster, aber das war das, was Esperanza benötigte.

Die beiden saßen in einem kleinen Kaffee und unterhielten sich, als eine ältere Frau an ihren Tisch kam und einen Fleyer mit den Worten "Ja, es hilft wirklich. Ich habe es versucht" ablegte.

Während Mandy für den Zettel nur ein müdes Lächeln über hatte, studierte ihre Begleitung ihn etwas genauer, legte ihn dann aber auch beiseite. "Nein, ich glaube nicht. Das bringt mir meinen Jungen auch nicht wieder. Sowas funktioniert eben nicht."

Mandy ergriff ihre Hand: "Ich glaube auch nicht daran. Irgendwann wirst du Klarheit darüber haben, was passiert ist. Daran glaube ich."

Die Angesprochene schnäuzte sich kurz und wischte eine Träne fort, als sie schließlich den Zettel zerriss und in den Aschenbecher legte. "Der macht Geld auf Kosten der Trauer und der Schmerzen der anderen. Sowas sollte verboten werden."

"Sehe ich auch so. Ich werde mir aber mal aus beruflichen Gründen anschauen, was da abläuft. Ich kann dir ja dann berichten, ob was dran ist."

"Was? Nur wegen dem Typen?"

"Ja, das ist mein Job. Mein Chef hat sein okay gegeben. Es wird sicherlich lustig. Ernst nehmen werde ich das nicht, so lange ich keine Beweise habe, dass das tatsächlich klappt."

"Da bin ich mal gespannt."

"Ich auch, und mein Chef ebenfalls."

Nachdem die beiden sich öfters getroffen haben, hatte Mandy ihr mitgeteilt, dass sie Journalistin ist. Esperanza hatte das einfach akzeptiert, ohne Vorwürfe laut werden zu lassen. 'Es wird doch eh geschrieben, was gerade passiert' war alles, was sie dazu zu sagen hatte.

Beide nippten an ihren Tassen, als wieder Esperanza das Wort ergriff: "Glaubst du, da wo er jetzt ist, geht es ihm gut? Ich glaube oft, ich sehe ihn in meiner Nähe oder höre sogar seine Stimme. Das hört sich albern an, aber es ist einfach so."

Mandy überlegte kurz: "Ich könnte mir vorstellen, dass es dir noch eine Zeit lang so vorkommen wird. Vielleicht so lange, bis du weißt, was passiert ist. Du sagtest mal, dass es die Einsamkeit ist, die am meisten Weh tut. Vielleicht ist das ein Prozess, um sich damit abzufinden. Aber ich bin kein Psychologe und kann das nicht beurteilen."

"Was solls, so habe ich wenigstens das Gefühl, dass er bei mir ist, irgendwo, und ich denke immer an ihn. Oder er schwebt wirklich als kleiner Geist wie in den Kinderbüchern umher und passt auf die Menschen auf, die ihm wichtig sind."

"Dann sollten wir einen Kakao bestellen und dabei an Sven denken." Mandy sah in ein aufleuchtendes Gesicht und rief die Bedienung zu sich. Nicht viel später wurde serviert und für einen Moment schien die Welt in Ordnung zu sein. Sie glaubten, sein kindliches Lachen zu hören und Mandy kam zu dem Entschluss: "Wenn er tot ist, geht’s im bestimmt gut, da wo er jetzt ist. Er schaut auf uns hinab und freut sich, dass es uns für einen Moment gut geht."

***

Der Tag an dem Mandy den Termin hatte, kam, wie die Lesung auch, immer näher. Am Abend vor dem Gespräch kam sie relativ spät von der Arbeit wieder. Sie holte Werbung und andere Post aus dem Briefkasten und während sie mit einem Fuß die Tür zustieß, überflog sie die Papiere. Das meiste war wirklich Werbung, ein paar Rechnungen zum Monatsende waren wie immer dabei, aber auch ein einfach gefaltetes, weißes A4 Blatt lag dazwischen.

Sie beachtete es erst nicht, drehte es kurz um und war drauf und dran, es weg zu schmeißen, als sie auf der Innenseite ein Bild sah. Die andere Post legte sie zur Seite und schlug das Blatt auf. Eindeutig hatte ein Kind gemalt. Man konnte zwar erkennen, welche Formen da waren, aber für Mandy gab es im ersten Moment keinen Sinn. Sie erkannte ein Haus und ganz woanders ein Auto, in dem eine Frau saß. In einer anderen Ecke war eine Blume gemalt. Die Farben waren bedrückend, es herrschten dunkle Farben vor. Die Blume hatte einen leichten Blaustich. Über all diesen einzelnen Bildern war ein schwarzer Bogen oder ein Strich, was aber auch eine Wolke sein konnte. Unmittelbar darunter hing ein Kind. Es war an den Armen gefesselt, so als sollte es nicht hinab stürzen. Um die Figur herum schwebten Farb- und Gesichtslose Geschöpfe, die man nur mit Mühe als Menschen erkennen konnte.

Das Kind hatte einen traurigen Ausdruck, die Eckzähne waren besonders betont. In dem Kreis, der den Bauch darstellen sollte, standen drei Buchstaben: ICH. Mehrmals schaute sie sich das Bild noch an, bis sie in dem Haus weitere Lettern erkannte: MAMA.

Hinweise auf einen Namen fand sie nicht. Sie versuchte, das Gemälde zu interpretieren, was ihr aber schwer fiel.

Nachdem sie wieder die halbe Nacht wach gelegen hatte, schlief sie unruhig ein. Der Traum war wirr, wie so vieles andere auch:

Die Zeichnungen verfolgten sie und bewegten sich, wie in einem Stummfilm. Das Kind hing an den Schnüren vor dem Auto, dass sich langsam bewegte und es schließlich überrollte, während kurze Zeit später die Blume auf dem Auto zu wachsen schien. Der überfahrene Körper wurde an den Fäden wie eine Marionette hochgezogen und schwebte dann auf das Dach des Hauses. Eine Frau schaute aus dem Fenster, sie war traurig. Schließlich wuchs auch da die Blume auf dem Dach. Als das Kind wieder über allem schwebte, tanzten die anderen Gestalten um es herum, so als würden sie ein Ritual vollführen. Auch hier war das Pflänzchen vorhanden. In den kleinen Händen sah es so aus, als wäre das noch alles, was es hatte und verkrampft festhielt, um den kleinen Schatz nicht zu verlieren.

Eine kindliche Stimme übertönte ihren Wecker: "Hilf mir!!" Schweißgebadet erhob sich Mandy und wie so oft schaute sie sich suchend um, sah aber niemanden, von dem der Ruf gekommen sein könnte. Alles, was ihr ins Auge fiel, war die violette Blume... die sie eigentlich in der Küche platziert hatte.

***

Mandy war fast froh, dass sie aufstehen konnte, obwohl sie sich wie gerädert fühlte. Schweren Schrittes ging sie ins Bad und hoffte, dass es ihr nach einer kalten Dusche zumindest etwas besser ging. Schnell stellte sie jedoch fest, dass ihre Hoffnung vergebens war, sie weder einen klareren Kopf bekam und noch wacher wurde.

Ihr Frühstück verlief ähnlich. Zum einen brachte sie kaum einen Bissen runter und zum anderen machte sie diese Ruhe nur noch nervöser. Auch, als sie das Radio einschaltete, wurde es nicht besser. So lief sie schließlich wie ein unruhiger Tiger im Käfig umher, hielt ihre Kaffeetasse weiter in der Hand und schaute mal da und dann wieder woanders nach, ohne genau zu wissen, was sie suchte. Als sie an die Stelle kam, an der eigentlich das Glas mit der Blume stehen sollte, fand sie nur einen kleinen Brocken Basalt. Instinktiv wusste sie, wo er her kam: Aus dem Steinbruch in dem sie auf Esperanza gestoßen war. Kurz dachte sie darüber nach, diese anzurufen und sich zu erkundigen, sah dann aber auf die Uhr und stellte fest, dass sie sich auf dem Weg zu ihrem Termin machen musste. Ihren Block, das Diktiergerät und ihre Schlüssel steckte sie ein, zog einen Mantel drüber und im letzten Moment, bevor sie ihre Wohnung verlassen wollte, ergriff sie das Basaltstück. Sie fuhr mehr als eine Stunde bis sie an der Adresse ankam, die man ihr gegeben hatte.

Es war ein ländlich gelegener Hof umgeben von Feldern und Wäldern. Die Zufahrt war nicht gepflastert und daher matschig. Hier und da standen Obstbäume, die noch voller Früchte waren und gerade als sie sich einen Parkplatz suchte, huschte eine weiße Katze über den Hof. Das alles machte nicht den Eindruck, dass hier ein Geisterredner wohnen würde. Eher hatte sie gedacht, dass er ein Zimmer in einem Altbau hätte, der dunkel eingerichtet und mit Kerzen beleuchtet ist. Als sie ausstieg, kam ein kleiner, schwarzer Hund auf sie zu gerannt, der sich schwanzwedelnd vor sie setzte und darauf wartete, begrüßt zu werden. Erst dann trat aus einer Seitentür ein älterer Mann hervor. Er war schlank, aber die Haare und der Bart waren so wie auf dem Fleyer. Er wirkte lebensfroh und voller Energie, sehr freundlich und gepflegt.

Mandy hatte einen unsympathischen und eingebildeten Greis erwartet und war von der Erscheinung angenehm überrascht.

"Sie müssen Mandy sein", begann er. "Es freut mich, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben." Mit einem festen Händedruck begrüßte er die Journalistin.

"Ja, danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben."

"Entschuldigen Sie bitte, dass ich diese Lokalität für unser Gespräch gewählt habe, aber ich glaube, das ist in Ihrem Fall angebrachter."

Mandy stutze und hakte nach: "Wo führen Sie denn sonst Ihre Gespräche, wenn ich fragen darf?"

"Ich erkläre Ihnen alles im Haus. Da ist es wärmer. Trinken Sie lieber Kaffee oder Tee?"

"Danke, dann lieber Kaffee." Es war die Frage, die sie erwartet hatte und nur aus Höflichkeit ging sie darauf ein, würde aber keinen Schluck nehmen.

***

Sie folgte ihm in das Gebäude. Auch hier zeigte sich, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, aber nicht negativ. Es war im Landhausstil eingerichtet, schwere, dunkle Holzmöbel gaben dem Gemäuer Charme. Zu dem Dunklen gesellten sich warme Farben und viele Fenster, die alles in einem kräftigen Licht erstrahlen ließen. Es roch nach getrockneten Kräutern und Früchten. Mandy folgte dem Mann in ein Nebenzimmer, in dem sie auf einem ledergepolsterten Holzstuhl platz nahm.

"Schauen Sie sich ruhig um. Wie trinken Sie denn Ihren Kaffee?"

"Schwarz bitte."

Dann ließ er sie zurück.

Lange hielt es sie nicht auf dem Stuhl und sie erhob sich wieder. An den Wänden waren Chinesische Symbole zu sehen, aber auch Runen der Germanen oder Alt-Gälische Wörter. Sie sah Räucherstäbchen und schaute sie sich genauer an. Um welche Düfte es sich handelte, konnte sie nicht sagen. Auf einer Schale waren Ying und Yang in Sand gemalt, umrandet von Edelsteinen und überall Pflanzen und Kerzen. An den Fenstern hingen Tücher, die vielleicht der Verdunklung dienten.

Ein schwacher Windhauch zeigte ihr, dass jemand das Zimmer betrat. Sie drehte sich um, lief in die Richtung ihres Stuhls und setzte sich wieder.

"Ich befasse mich viel mit Naturreligionen und anderen Kulturen. Daher die Symbole und Wörter." Der Guru schob ihr den dampfenden Kaffee entgegen.

"Nun, warum haben Sie mich hier her bestellt?"

"Weil ich das Gefühl habe, dass Sie was besonderes sind. Das Sie irgendetwas haben, was Sie von den meisten anderen Menschen unterscheidet."

"Wie kommen Sie darauf?"

"Das weiß ich noch nicht. Jahrelange Erfahrung und ein Bauchgefühl vielleicht. Was kann ich also für Sie tun?"

"Ich musste mich vor Jahren von meinem Hund trennen, da er nicht mehr richtig laufen konnte. Da kein Arzt sagen konnte, woran das lag, aber es auch nicht besser wurde, habe ich ihn schließlich einschläfern lassen. Mich würde interessieren, ob Sie mir vielleicht helfen können, ob es damals die richtige Entscheidung war. Also was er tatsächlich hatte."

"Denken Sie oft an ihn?"

"Ja."

"Wie lange beschäftigt Sie schon diese Frage?"

Mandy wusste nicht, worauf er hinaus wollte und überlegte.

"Es hört sich vielleicht blöd an, aber noch nicht so lange. Ich spiele mit dem Gedanke, mir einen Neuen zuzulegen. In dem Zusammenhang hat sich dann die Frage aufgedrängt, woran es wirklich lag."

"Wie lange ist es her, dass Sie diese Entscheidung getroffen haben und sich von Ihrem vierbeinigen Freund trennen mussten?"

"So drei, vier Jahre ist das schon her."

"Haben Sie ein Bild dabei und wie heißt er?"

"Moment. Er hieß Alf und war ein Sheltie." Nun durchsuchte sie ihre Unterlagen und dabei fiel das Bild aus ihrem Block, dass sie am vorherigen Tag bekommen hatte. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte ihr Gegenüber es bereits aufgehoben und betrachtete es nachdenklich.

"Woher haben Sie das Bild?"

Mandy sah auf. "Das lag gestern bei mir in der Post. Da hat sich vielleicht ein Nachbarkind einen Scherz erlaubt oder einfach den falschen Briefkasten erwischt. Wollen Sie es haben?" Ungewollt war es aus ihr herausgerutscht.

"Nein. Ich denke, das ist für Sie gedacht. Es gibt in dieser Welt nur selten Zufälle."

In dem Moment zog sie rasch ihre Hand zurück, da sie den Eindruck hatte, etwas kaltes würde darüber streichen.

"Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mandy?"

"Ich... ich denke schon." Und schon hielt sie das Bild ihres Hundes in der Hand. "Das ist er"

Einen Augenblick starrte der Guru sie an, als würde er in ihr Inneres schauen, was einen Schauer bei Mandy auslöste. Die eisblauen Augen schienen sie zu durchbohren.

"Okay. Dann konzentriere dich auf deinen Atem und werde ruhiger. Wenn du damit Schwierigkeiten hast, passe dich meinem Rhythmus an. Sobald dein Inneres Auge bereit ist, die Verbindung aufzubauen, lasse es zu. Ich werde es spüren und deine Hand nehmen. Es kann sein, dass du dich dabei erschreckst, lass es einfach passieren. Du wirst von alleine wieder zu dem Punkt gelangen, der dich in die Lage versetzt, ihm gedanklich deine Frage zu stellen. Wenn er der Meinung ist, dass du eine Antwort bekommen solltest, wirst du sie auch erhalten."

"Soll ich ihn mir einfach vorstellen?"

"Ja, stell dir einen schönen Moment mit ihm vor, in dem du davon überzeugt warst, dass es euch beiden gut geht. Alles weitere wird geschehen."

Sie gab sich alle Mühe, der Aufforderung nachzukommen, gab es aber nach einigen Minuten auf.

"Dann konzentriere dich auf meinen Atem. Das wird dir helfen"

Dass er die Anrede wechselte, fiel ihr nicht auf, nur dass seine Stimme immer weiter entfernt schien. Langsam kam sie zu Ruhe, spürte, wie ihr Atem von ihm geleitet durch ihren Brustkorb in die Lunge strömte, sich dort ausbreitete und die verbrauchte Luft wieder empor wanderte. Sie zuckte kurz zusammen, als er ihre Hand ergriff und in dem Moment hatte sie den Eindruck, als würde sich eine Wand aus Wolken vor ihr auftun.

Sie sah sich auf einer Wiese liegen, neben ihr rollte Alf auf dem Rücken auf die andere Seite. Er war noch jung. Die großen Pfoten machten ihm hin und wieder Probleme, ab und zu stolperte er über sie. Sein Fell war noch nicht so lang und seine Augen hellwach und aufmerksam. Jede ihrer Bewegung nahm er wahr und schien zu analysieren. In Gedanken rief sie ihn: "Alf mein kleiner. Alf." Der Vierbeiner kugelte zu ihr, legte eine Pfote auf ihren Oberkörper und ließ sich kraulen. Eine warme Stimme, die Mandy zuvor noch nie gehört hatte, antwortete ihr: "Ja, hier bin ich. Mir geht es gut. Aber du fehlst mir so." In diesem Zustand fühlte Mandy trotzdem noch, wie sich eine Träne ihren Weg bahnte. "Sag mir Alf. Was war los?" Wie von selber ließ sie sich auf das Gespräch ein. Es bedurfte keiner Hilfe, es war einfach da. "Du brauchst dir keine Gedanken machen, Mandy. Es war richtig. Ich war krank. Eine Krankheit, die nur sehr selten vorkommt und nur die wenigsten Ärzte hätten mir helfen können, wenn sie jemals davon gehört hätten." Sie spürte, wie ihr Herz leichter wurde. Wieder vernahm sie die Stimme: "Aber Frauchen, du bist hier nicht wegen mir. Jemand anders braucht deine Hilfe." Dann senkte sich die Wolkenwand und langsam öffnete sie wieder die Augen. Alles war verschwommen und erst dann wurde ihr klar, dass sie weinte.

"Ruh dich aus. Wenn du willst, kannst du dich etwas hinlegen." Mit den Worten stand der Mann auf und ließ sie alleine.

***

Wie lange sie gesessen und umher gelaufen war, konnte Mandy nicht sagen. Nur, dass sie aufgewühlt und durcheinander war. Es schien alles so absurd zu sein, so mysteriös und geheimnisvoll. Ein Phänomen, für das sie keine Erklärung fand. Die Stimme, die letzten Worte, hallten immer wieder in ihrem Kopf. Würde ihr jemand genau das erzählen, was sie gerade erlebt hat, sie würde das für Schwachsinn halten und diese Person nicht weiter beachten. Erst, als der Guru sich erkundigte, wie es ihr ginge, registrierte sie, dass sie nicht mehr alleine war.

"Es ist schwierig, zu verstehen, was Sie gerade erlebt haben. Aber das ist okay und normal. Zu Wesen, die uns einst mal nahe standen oder es immer noch tun, haben wir eine unsichtbare, schwer begreifliche Verbindung. Die wenigstens wissen, dass es das gibt. Wissenschaftlich gibt es keine Begründung, wie das kann. Aber wir müssen und können nicht einfach alles erklären, sondern müssen es akzeptieren und so annehmen, wie es ist."

Mandy dachte über die Worte nach. Vielleicht hatte er recht und es war einfach so. Sie hatte eine Frage, die sie schon länger beschäftigte, beantwortet bekommen, aber neue Fragen kamen auf, bei denen sie aber noch nicht in der Lage war, sie auszusprechen.

"Ich habe den Eindruck, dass da noch mehr ist, was Ihnen auf der Seele brennt. Das Bild. Darf ich es noch ein mal sehen?"

Wortlos holte sie es vor, betrachtete es ein weiteres Mal und versuchte einen Sinn oder zumindest ein Zeichen darin zu erkennen.

"Haben Sie Kinder oder hatten Sie mal eines?", War die Frage.

"Nein."

"Geht es irgendeinem Kind in Ihrem Bekanntenkreis im Moment nicht gut und hat es Angst zu sterben oder seine Eltern zu verlieren?"

Auch das verneinte sie.

"In Ihrer Nachbarschaft vielleicht?"

Sie überlegte. Alles, was ihr dazu einfiel, waren die vermissten Personen: "Eigentlich nicht. Ich hatte bis vor kurzem beruflich viel mit der Reihe verschwundener Leute zu tun. Vielleicht haben Sie davon gehört. Aber warum sollte ausgerechnet mir so ein Bild in den Briefkasten geworfen werden?"

"Was machen Sie beruflich?"

"Ich bin Journalistin bei einer Zeitung."

"Vielleicht erhoffen sich Kinder, dass Sie helfen können, die anderen wieder zu finden. Beschäftigt Sie eine bestimmte Person?"

Sie überlegte kurz, kam aber schnell zu einer Antwort: "Ja. Ein Junge. Er war der erste der Reihe, der verschwand. Ich habe vor kurzem seine Mutter durch Zufall kennen gelernt."

Der Mann lächelte. "Zufälle gibt es nicht. Aber damit will ich Sie nicht belästigen. Wie heißt er?"

"Sven."

"Glaubt seine Mutter noch daran, dass er lebt?"

"Nein. Sie ist fest davon überzeugt, dass er tot ist. Vielleicht findet man seine Leiche im Herbst, wenn alles kahl ist. Ich würde es ihr wünschen."

"Ja, da haben Sie recht. Die Ungewissheit ist das schlimmste, was den Angehörigen widerfahren kann."

"Und die Einsamkeit", fügte Mandy hinzu.

Darauf nickte er nur.

"Können Sie nicht versuchen, herauszufinden, was mit ihm ist?", brach es aus ihr hervor.

Er schaute auf. "Ist das der wahre Grund, dass Sie zu mir gekommen sind? Oftmals erkennt man erst die Wahrheit, wenn anderes ausgesprochen ist."

"Ich weiß es nicht. Es ist nur... sie wird niemals hier her kommen. Aber sie hätte gerne Antworten."

"Wir können es versuchen. Wenn der Junge bereit ist, mit dir zu sprechen, wird er ein Zeichen geben."

"Danke. Aber ich habe kein Bild von ihm."

"Dann wird es schwieriger und anstrengender, aber es ist nicht unmöglich."

"Er muss tot sein?"

"Ja, das ist leider die Bedingung, dass ich Kontakt zu ihm herstellen kann."

"Okay" Da sie ja wusste, wie alles ablaufen würde, konzentrierte sie sich auf ihren Atem, was ihr dieses mal auch viel besser und schneller gelang. Sie spürte, wie ihr Atem tiefer und langsamer wurde und wie er ihre Hand umfasste.

Das Geheimnis der Verschwundenen

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