Читать книгу Das Geheimnis der Verschwundenen - Tamara Diekmann - Страница 6
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ОглавлениеEin heller Energiestrom verband sie, aber dieses Mal dauerte es, bis sich etwas tat. Die Wolkenwand, die bei Alf der Beginn war, ließ auf sich warten. Ein paar mal sah es so aus, als würde sich etwas tun, aber dann zerfiel sie wie ein Schneeball in einzelne Flocken, um schließlich ganz zu verschwinden. Im nächsten Augenblick stiegen Nebelschwaden auf, hinter denen Mandy einen schwachen Umriss zu sehen glaubte.
In Gedanken rief sie den Namen: "Sven? Sven? Bist du das?
Aber sie bekam keine Antwort.
"Sven, wenn du mich hörst, gib mir ein Zeichen. Deine Mutter vermisst dich."
Es überraschte sie, als sie die Stimme vernahm, die sie bereits mehrmals gehört hatte: "Mama"
In dem Moment hatte Mandy den Eindruck, als würde sich der Boden unter ihr auftun und sie verschlingen wollen. Dann hörte sie die Stimme ihres Partners: "Sven. Was ist los? Sprich mit uns." Aber auch da kam keine Antwort. Eine Hand griff nach dem Umriss, zog ihn fort und als Mandy glaubte, gleich bewusstlos zu werden, tauchte der Kopf des Jungen durch die Nebelschwaden hindurch, wurde aber wieder zurück gezerrt. Schließlich brach die Verbindung ab. Erschrocken sahen sich beide an. Dass Mandy nicht begriff, was da gerade passiert war, verwunderte sie nicht, aber als auch ihr Gegenüber nicht zu wissen schien, was das zu bedeuten hatte, war sie verunsichert.
"Was...?"
"Ich weiß es nicht. Sowas ist mir noch nie passiert."
"Keine Erklärung?"
"Im Moment nicht. Ich muss nachdenken."
Darauf stand er auf, stellte sich ans Fenster und sagte erst mal nichts. Weiter ging er zu einem Regal, nahm etwas heraus und ließ es nach einer kurzen Pause fallen. Kleine Holzstücke verteilten sich auf einem Tuch und es dauerte noch etwas, bis er wieder zu Mandy kam.
"Und? Lebt er noch oder nicht mehr?"
"Schwierig. Sehr schwierig. Lass mich versuchen, es dir zu erklären." Er setzte sich wieder ihr gegenüber.
"Du hast gemerkt, wie es ist, wenn die Person oder das Tier, welches man fragt, wirklich tot und tatsächlich bereit zum Gespräch ist."
Sie stimmte zu.
"Wenn es tot ist, aber nicht reden will, ist es anders. Nicht immer gleich, aber auch nicht so, wie gerade."
"Ja aber was dann?"
"Lebt das Geschöpf noch, bleibt alles schwarz. Keine Wand, nichts."
"Das war es aber auch nicht."
"Das ist ja das Problem. Sowas habe ich noch nie erlebt."
"Vielleicht ein Mittelding?" Kam ihr ins Gedächtnis.
"Wie soll das gehen? Wenn man halbtot ist, lebt man noch, also bliebe es schwarz."
"Wenn man dem Tot näher als dem Leben ist?"
"Das gleiche. Man lebt noch."
"Vielleicht ist er noch nicht so lange tot und es lag daran?"
"Nein, das ist auch anders. Ich habe mal die Verbindung zwischen einem Ehepaar hergestellt. Er war gerade ein paar Stunden tot und hatte kein Testament hinterlassen. Also kam sie in ihrer Not zu mir und da hat alles so geklappt, wie bei dir und Alf auch. Das heißt, daran kann es auch nicht liegen."
Stille.
Schließlich entschloss Mandy, das es vielleicht besser wäre, zu gehen. "Ich glaube, ich fahre nach Hause. Vielleicht fällt Ihnen dann etwas ein, was das eben war."
"Das wollte ich gerade vorschlagen. Ich muss nachdenken. Sollte ich eine Idee haben, melde ich mich bei dir. Okay?"
"Das wäre super. Vielen Dank."
Sie gaben sich die Hände und als Mandy draußen war, atmete sie tief durch.
***
Esperanza und Mandy saßen im Café. Noch immer hatte Mandy keine Erklärung dafür bekommen, was bei dem Versuch, Kontakt zu Sven aufzunehmen, vorgefallen war. Von ihren Erfahrungen hatte Mandy bisher noch nichts erzählt.
"Ich will ja nicht neugierig sein, aber du warst doch bei dem Medium, oder? Wie war es denn?"
Eigentlich war es eine einfache Frage, nur was Mandy darauf antworten sollte, wusste sie nicht. Sie war selber noch nicht soweit, dass sie sagen konnte, was irgendwie Sinn ergab und was vielleicht nur Einbildung war. Wie viel konnte sie ihrer Begleiterin tatsächlich zumuten, ohne als verrückt und unglaubwürdig zu erscheinen?
"Es war... interessant, aber auch sehr anstrengend."
"Was passiert da?"
"Man konzentriert sich auf seinem Atem und irgendwann hast du das Gefühl, in eine andere Welt abzudriften. So, als wärest du in Trance."
"Und dann?"
Mandy zuckte mit den Schultern. "Kommen Erinnerungen und Bilder vor. Wie in einem Traum läuft das ab"
"Und? Glaubst du das, was du gesehen hast?"
Die Journalistin lächelte: "Ich sagte ja, wie im Traum." Und zwinkerte ihr zu.
"Wundert mich nicht. Also Schwachsinn."
Darauf bedurfte es keine weitere Erklärung und das Thema war beendet. Bewusst hatte Mandy nichts weiter erzählt und der Jüngeren einfach zugestimmt.
"Dir scheint es aber etwas besser zu gehen, Esperanza. Oder täuscht der Eindruck?"
"Ach weißt du, die neue Therapeutin hilft mir wirklich. Aber auch, dass du mich ablenkst, macht vieles leichter. So denke ich nicht immer an ihn."
Einerseits freute sie sich darüber, dass sie ihr helfen konnte, aber dass sie angab, weniger an ihren Jungen zu denken, schmerzte sie. "Hast du denn ab und zu noch den Eindruck, dass er bei dir ist, wie damals im Steinbruch?"
"Ja, abends bei Gewitter oder wenn es stürmisch ist, glaube ich, ihn zu sehen. Aber es ist anders, als damals."
"Wie anders?"
"Naja, er ruft nicht mehr nach mir, schaut mich stumm an. Ihn umgibt dann immer so ein ein gelblich-silbernes Licht. Aber er sieht traurig aus und ich habe dann immer den Eindruck, dass er zwar zu mir will, ihn aber etwas festhält und ihn daran hindert."
Die Aussage erinnerte sie an das, was sie vor kurzem erlebt hatte. "Hast du mal ein Bild von ihm? Ich würde mir gerne eines ansehen."
Etwas erstaunt sah Esperanza auf, stimmte dann aber zu: "Wenn ich dran denke, bringe ich mal eines mit. Er hat viel gemalt."
Sie wusste nicht, was sie sich davon erhoffte und wie sie darauf kam, aber war auch erleichtert, dass Esperanza ihr deswegen keinen Ärger machte.
"Was hast du denn damit vor?", wurde sie gefragt.
"Keine Ahnung. Vielleicht, mich einfach daran erfreuen, dass er Spaß am malen hatte."
Eine kurze Pause des Schweigens trat ein.
"Es ist seltsam. Wir kannten uns nicht und nur, weil ich um meinen Jungen im Steinbruch getrauert habe und du gerade da warst, haben wir uns getroffen. Du hast mir bisher mehr geholfen, als so manch andere. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass uns etwas verbindet."
"Mir geht es ähnlich. Als ich damals ziellos umher gefahren bin und die letzten Orte der Verschwundenen aufgesucht habe, empfand ich an Svens letztem Ort etwas, was ich vielleicht auch als Verbundenheit zu euch gedeutet habe. Weißt du, ich habe auch oft den Eindruck, dass ich ihn irgendwo sehe oder sogar höre. Womöglich gibt es wirklich etwas, was uns verbindet, nur wir können es nicht erklären."
Als die Bedienung zu ihnen kam und einen Kakao abstellte, sahen sich die beiden Frauen an. Esperanza war diejenige, die reagierte: "Wir hatten aber nichts bestellt."
"Aber ein kleiner Junge kam doch eben zu mir und sagte, ich sollte doch bitte einen Kakao zu Ihnen bringen. Er würde gleich nachkommen."
"Was für ein Junge?" erkundigte sich nun Mandy.
"Er war ganz aufgeregt, hat auch nur bestellt und ist dann noch mal kurz raus.", war die Antwort
"Ah... okay. Danke." Daraufhin sah Esperanza irritiert zu Mandy.
Erst als die verunsicherte Bedienung außer Hörweite war, erkundigte sich Svens Mutter.
"Was ist? Weißt du etwas, was ich nicht weiß? Sven ist tot, er kann nicht bestellt haben, außerdem hat er sich früher immer davor gedrückt."
"Ich weiß gar nichts... nur, dass ich seit einiger Zeit vieles nicht mehr verstehe."
Nachdenklich tranken beide ihren Kaffee aus, aber keine ließ den Kakao aus den Augen. Plötzlich kippte die Tasse um und der noch dampfende Inhalt verbreitet sich über die weißen Tischdecke. Geschockt sahen sich die Frauen an und als beide dann ein kindliches "Entschuldigung" hörten, aber nichts entdeckten, sprang Esperanza auf und rannte weinend aus dem Café. Mandy schaute ihr noch hinterher, kümmerte sich dann um den ausgelaufenen Kakao, zahlte und folgte ihrer Bekannten.
***
Mandy fand Esperanza bei einem Brunnen. Diese saß auf einem Randstein und starrte in das plätschernde Wasser. Sie sah kurz auf, widmete sich dann aber wieder dem Nass."Geht's wieder?", erkundigte sich Mandy.
"Ich kriege zu viel. So langsam glaube ich, dass ich verrückt werde und durchdrehe. Überall sehe und höre ich Sven, aber er ist nicht da!"
Mandy holte tief Luft und entschloss sich zu einem weiteren Schritt: "Ich muss dir was sagen. Nicht nur du siehst und hörst ihn, auch ich. Ich hatte dir erzählt, dass ich die Orte angefahren habe. Das war kurz bevor wir uns kennen gelernt haben. Auf dem Rückweg hatte ich einen Autounfall. Offiziell war es ein Wildunfall. So sah es für die Polizei auch aus. Das Reh lag noch am Straßenrand. Allerdings habe ich einen Jungen überfahren. Vielleicht eher seinen Schatten, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall stieg ich aus und sah nach ihm. Es war definitiv ein Junge, der so aussah wie Sven. Als ich ihm helfen wollte, wurde ich bewusstlos und erst als ein LKW-Fahrer sich um mich kümmerte, kam ich wieder zu mir. Als ich dann nach dem Kind sehen wollte, lag da das Tier. Damit fing alles bei mir an."
"Das kann nicht sein. Wie geht das?"
"Ich weiß es selber nicht. Es ist so vieles passiert, wofür ich keine Erklärung habe."
"War das alles?"
"Nein. Daraufhin habe ich die gleiche Gestalt immer wieder gesehen. Auch im Steinbruch, als du glaubtest, deinen Sohn da zu sehen."
"Warum sagst du das erst jetzt?", wolle Esperanza wissen.
"Weil ich immer noch nicht weiß, wie das sein kann. Ich stehe vor der gleichen Situation wie du. Ich frage mich, ob ich verrückt werde, was Illusion und was Realität ist."
"Hat es was mit deiner Frage zu tun, ob ich dir mal ein Bild von ihm mitbringen kann?"
Kurz dachte Mandy nach. "Vielleicht schon, ich habe mir bei der Frage wirklich nichts gedacht. Aber komm mit zu mir, da kann ich dir etwas zeigen."
Auf dem Weg zu Mandy wechselten beide kein Wort. Jede hing ihren Gedanken nach, versuchte sich klar darüber zu werden, was das zu Bedeuten hatte. Erst, als Mandy aufschloss, begann sie ein neues Gespräch: "Mir sagte vor kurzem jemand, dass es keine Zufälle gibt. So langsam glaube ich das wirklich. Aber komm rein."
Nervös folgte Esperanza ihr. Im Wohnzimmer sah sie sich kurz um, blickte auf den Tisch und lief zielstrebig in die Richtung.
"Wie kommt das denn da hin?" stellte sich Mandy die Frage. "Eigentlich lag es auf meinem Schreibtisch."
"Wo hast du das her?", erkundigte sich die Jüngere.
"Es lag bei mir im Briefkasten. Kennst du es?"
"Nein. Aber so hat Sven immer gemalt. Er konnte keine Wolken zeichnen und hat dann immer Striche hingezeichnet." Traurig betrachtete sie das Bild.
"Weißt du, wer es dir gegeben hat?"
"Nein. Aber dann gibt es noch etwas. Nur muss ich erst schauen, wo es ist." Suchend sah sich Mandy um, lief dann in die Küche, ins Schlafzimmer und wieder zurück.
"Was denn?"
"Oh man, ich dreh hier gleich durch! Wo ist die schon wieder?" Erst als sie im Bad nachsah, fand sie das Glas mit der Blume.
"Oh, die gleiche, wie du sie mir gegeben hast." Esperanza erkannte das Pflänzchen.
"Nein, von mir kam die nicht. Als ich von dir nach Hause kam, lag die vor meiner Tür. Am nächsten Tag hattest du mich angerufen und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, hab ich deine Vermutung einfach bestätigt."
"Seltsam."
"Ich weiß."
Esperanzas Blick wanderte von dem Bild zur Blume und wieder zurück. "Sag mal, ist da die gleiche gemalt, wie wir sie bekommen haben?" Nun war Mandy erstaunt. Aber musste nach einigem hin und her zustimmen: "Das sieht fast so aus."
"Was hat es denn nun mit dem Blümchen auf sich?"
"Es ist die Gleiche, die ich an Svens letztem Platz abgelegt habe. Frag mich jetzt bitte nicht nach dem warum."
Ratlos ließen sich die beiden auf der Couch nieder.
***
"Dann bin ich doch nicht auf dem besten Weg, verrückt zu werden" stellte Esperanza fest. "Das ist wenigstens etwas beruhigend. Aber wie kann das alles sein?"
"Ich weiß es nicht."
"Wie ist das mit dem Medium? Meinst du, der kann helfen?"
Mandy seufzte. "Er weiß auch nicht so wirklich, damit etwas anzufangen."
"Also doch alles Hokuspokus."
"Ganz ehrlich: Nein.", konterte Mandy
"Wie, nein? Erzähl doch keinen Blödsinn."
"Tu ich nicht. Nur kann ich auch da nicht sagen, ob Illusion oder Realität. Das ist im Moment alles irgendwie undurchschaubar. Ich könnte dir natürlich sagen, was genau da los ist. Aber ich denke, du wirst mir nicht glauben, außer, du erlebst es selber."
"Und dann?"
"Das wird sich danach zeigen."
"Ich bezweifle, dass das was bringt. Außerdem kann ich mir das finanziell nicht leisten, so einen Schwachsinn zu machen. Der nimmt doch sicherlich eine horrende Gebühr dafür."
"Vielleicht kann ich mit ihm reden, falls du wirklich bereit wärest, dich darauf einzulassen."
"Und was hast du davon?" Esperanza schien verbittert.
"Nichts, außer vielleicht Antworten auf einige Fragen, die ich mir stelle."
"Ich weiß nicht. Hast du etwa noch Kontakt zu ihm?"
"Ja. Eben weil er sich das ein oder andere auch nicht erklären kann und er sich melden wollte, falls er eine Idee hat, was dahinter stecken könnte."
"Okay, frag ihn mal, was er dafür haben will. Das alles lässt mir jetzt gerade keine Ruhe."
"Ja, das kenne ich. Ich rufe ihn die Tage mal an."
***
Es wunderte Mandy nicht, dass Jean äußerst erfreut darüber war, dass Esperanza bereit war, sich darauf einzulassen. Gerne kam er ihr entgegen und wollte auch keinen Obolus dafür nehmen. Vielleicht, weil es ihm wie Mandy ging, die darauf hoffte, Klarheit darüber zu bekommen, was los war. So musste keiner lange darauf warten, bis er Esperanza und Mandy zu sich kommen ließ. Obwohl es für die Journalistin das zweite mal war, auf den Hof zu fahren, war sie nervös und konnte nur zu gut verstehen, wie es ihrer Freundin ging. In Gedanken verloren fuhren sie auf das Gelände, wechselten, wie auch auf der Fahrt dort hin, kein Wort, was beiden nur recht war. Hin und wieder sah Mandy zur Beifahrerin und versuchte einzuschätzen, was diese gerade dachte und was in ihr vor ging, gab aber rasch auf, da sie mit ihren eigenen Gedanken zu tun hatte.
Wie beim letzten Mal kam zuerst der Hund und dann der Besitzer. Ein leises "Ist er das?", machte auch Mandy auf ihn aufmerksam. Sie stimmte zu und lief ihm entgegen. Mit etwas Abstand folgte Esperanza, immer noch skeptisch, aber bei weitem nicht mehr so angespannt. Nach der Vorstellung, Esperanza hielt sich immer noch etwas zurück, folgten die Frauen ihm ins Haus. Wieder umfing Mandy diese Wärme und das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Ihre Ruhe übertrug sich auch aus die Jüngere, die langsam auftaute und die ersten Fragen stellte: "Wie funktioniert das denn nun?"
"Das werde ich Ihnen gleich erklären. Sie brauchen keine Angst haben. Es geht alles mit rechten Dingen zu. Das Einzige, was sie machen müssen ist, sich nachher auf Ihren Atem zu konzentrieren. Sie nehmen nichts zu sich, was Sie nicht wollen, wie oftmals behauptet wird, sondern reisen in Ihr Inneres, das Ihnen im Idealfall ermöglicht, mit Ihrem Jungen zu reden."
"Klappt das immer?", wollte sie nun wissen
"Nein, es ist ein Gespräch und wenn der Gesprächspartner nicht will oder nicht kann, da er noch lebt, werden Sie ohne Antworten wieder nach Hause fahren müssen."
"Also wenn er noch lebt, war der ganze Aufwand umsonst?"
Kurze Stille und Mandy sah, wie sich in Esperanzas Gesicht so etwas wie Hoffnung breit machte und diese sich wünschte, dass es zu keiner Unterhaltung kam. Zwar hatte Mandy das Thema angesprochen und berichtet was vorgefallen war, aber die Jüngere schien ihr nicht zu glauben. Sie selber erhoffte sich, dass es daran lag, dass Sven nicht mit ihr Reden wollte, sich das aber bei seiner Mutter änderte. Sicher hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was noch dahinter stecken konnte, aber wie auch zuvor war sie zu keiner Erklärung gekommen. Sie hatte lange mit Jean telefoniert, der aber auch noch nicht weiter gekommen war. Die Möglichkeiten, die er in Betracht zog, woran er aber auch selber nicht zu glauben schien, waren zu absurd, als das sie in Frage kämen.
Schließlich kamen sie in den Raum, der nach frischem Räucherwerk roch. Es war kein aufdringlicher Geruch, sondern eher entspannend und beruhigend. Überwiegend war es Lavendelduft, der ihnen entgegen kam und sofort angenehm in die Nase drang.
"Setzen Sie sich. Kann ich Ihnen etwas anbiete?"
Esperanza lehnte sofort ab, während Mandy um ein Glas Wasser bat. Noch einmal erklärte er Esperanza, auf was es gleich ankam und als sie sich noch mal kurz mit Mandy unterhalten hatte, um sicher zu sein, dass alles so verlief, wie diese es bereits kannte, stimmte sie zu.
***
Esperanza brauchte länger, um Jean zu folgen und sich fallen zu lassen. Mandy bewunderte erneut, mit welcher Ruhe und Geduld er sie führte. Zuerst sollte Esperanza alleine versuchen, Sven zu finden und anzusprechen. Sobald das einigermaßen gelang, würde Jean ihr ein Zeichen geben, dass sie sich dem Kreis, wie er es nannte, anschließen konnte. Um keine Störung zu erzeugen, begann sie parallel zu den anderen beiden damit, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, wie sie es vermehrt zu Hause zum Zweck der Entspannung und des Stressabbaus geübt hatte. Mittlerweile fiel es ihr leicht, zur Ruhe zu kommen und einfach mal abzuschalten, und wenn es auch mal nur für wenige Minuten bei der Arbeit.
Früher als erwartet bat Jean sie, sich anzuschließen und sie spürte sofort, wie schwer es Esperanza fiel, dem zu Folgen, was der Vermittler wollte. Überraschend schnell hatte sich Mandy auf Esperanza eingestellt, ergriff ihre Hand und fühlte dessen schwitzende Handfläche. Als alle drei im gleichen Takt waren, hörte sie Jean in Gedanken zu: "So ist gut. Hilf ihr. Stell dir vor, wie ihr euch kennen gelernt habt, damit sie weiß, wer du bist. Ihre Gedanken sind blockiert, ich komme nicht so leicht an sie ran."
"Esperanza, hörst du mich?", begann Mandy.
Es dauerte etwas, bis ein zögerliches "Ja" kam.
"Lass es zu. Ich bin bei dir."
Gedanklich sprach Mandy auf sie ein, bis sie schließlich lockerer wurde.
"So ist gut. Dir passiert nichts. Ich passe auf dich auf."
Mandy spürte, wie Jean mehr und mehr zu ihnen kam. "Lass es zu Esperanza. Mandy weiß, was passiert, vertraue ihr." Nicht viel später waren alle Blockaden und Ängste auf allen Seiten abgebaut. "Sehr schön. Nun folge deinem Atem, wie er in deine Lunge strömt, sich ausbreitet, wie ein warmer Strahl. Folge ihm, lausche deinem Herzschlag. Alles ist gut. Wir sind bei dir."
Die Journalistin lauschte der Stimme, stellte keine Fragen, sondern stand Esperanza bei.
"Nun stell dir einen schönen Moment vor, den du mit Sven verbracht hast. So, als würdest du daneben stehen und euch selber zusehen. Lass es einfach geschehen."
Nur die Atemgeräusche waren zu hören. Es schien nicht so lange zu dauern, wie bei ihrem Versuch, mit Sven Kontakt aufzunehmen und als Mandy spürte, wie Jean's Händedruck fester wurde, wusste sie, dass es nicht mehr lange dauern würde. Wenige Atemzüge später sah sie den Nebel, spürte die Kälte und wieder glaubte sie, eine kalte Hand auf ihrer zu spüren. Das Bild war anders, als beim ersten Versuch. Jedoch schien es noch dunkler zu werden. Von einem schwachen Schein umgeben, sah sie den Jungen auf einer Parkbank sitzen. Wieder bemerkte er sie erst nicht, als jedoch Esperanza seinen Namen rief, wandte er sich ihnen zu. Seine Augen waren farblos, so als wäre er blind, sein Gesicht ohne Ausdruck, ohne Mimik, vielleicht etwas traurig, aber das war eher eine Vermutung. Noch einmal rief ihn seine Mutter, bis er sich umsah und vorsichtig erhob. Er sagte nichts, blickte aber in ihre Richtung. "Er hat Angst", gab Jean zu verstehen. "Rede mit ihm, frag, was er hat."
"Sven, mein Junge. Was ist los? Wo bist du? Bitte sag was."
"Sven, bitte, gib deiner Mutter ein Zeichen, dass du sie verstehst.", ergänzte Mandy.
Aber es kam nichts. Der Junge streckte seinen Arm zu ihnen, so, als hoffte er, dass sie ihn an die Hand nahmen und ihn zu sich holte, aber sobald er die nebelige Wand berührte, schleuderte es ihn zurück. Man hörte nur den Aufprall, aber kein Schrei oder Wehklagen. Überraschend schnell stand er wieder auf, lief erneut in ihre Richtung, jedoch ohne den erneuten Versuch, seinen Arm auszustrecken. Schwach hob er die Hand, so als wollte er sagen: "Ich will ja, aber ich kann nicht."
"Junge, wo bist du?", wollte nun Jean wissen. Daraufhin blickte Sven hinter sich, deutete mit dem Kopf ins Dunkle, ohne ein Wort zu sagen. Er bewegte nicht mal die Lippen, schien sie verkrampft geschlossen zu halten.
"Sven, mein Engel, sag ein Wort, bitte." Es war ein flehender Hilferuf einer Mutter, die um ihr Kind bangte.
Was darauf folgte, ließ alle drei zusammenfahren: "Ich bin kein Engel, ich werde ein Vampir!" Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich weitere Gestalten hinter dem Nebel auf, umfassten das Kind und zogen es in die Dunkelheit. Der Kontakt brach ab und anstatt Antworten zu bekommen, kamen nur mehr Fragen auf.