Читать книгу Sommerglück - Tanja Bern - Страница 5
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ОглавлениеEs ist zwei Uhr nachts, und ich fühle mich leergeweint. Ethan ist noch immer fort. Nachdem ich ihm erzählt habe, dass die kleine Leslie wahrscheinlich nicht von ihm ist, flüchtete er Hals über Kopf aus der Wohnung.
Er ignoriert jeden meiner Anrufe. Ich habe sogar gewagt, bei Megan anzurufen, doch auch dort ist er nicht aufgetaucht. Ebenso wenig im Krankenhaus.
Draußen zieht ein Sturm auf. Der Wind heult um die Häuser, Regen lässt mich kaum die Straße erkennen.
Ich fühle mich ruhelos. Ich habe Angst um ihn.
Wo ist er?
Ein leises Gurren und zarte Pfötchen auf meinem Knie lassen mich aufschauen. Fia schmiegt sich in meine Hand.
„Ach, mein kleiner Schatz …“
Sie miaut auffordernd.
„Ja, du hast recht, ich muss ihn suchen gehen.“
Ich gehe in den Korridor und schnappe mir meine Jacke, in deren Tasche ich noch den Autoschlüssel finde. Ethan ist also zu Fuß unterwegs.
Ich eile durchs Treppenhaus, ziehe mir die Kapuze tief in die Stirn und wage mich hinaus.
Draußen tobt ein wahrer Orkan. Unsere Straße steht unter Wasser, weil der Ablauf die Masse an Regen einfach nicht schafft. Der Land Rover steht auf der anderen Seite, ich haste hinüber und atme erleichtert auf, als ich im Wagen sitze und die Fahrertür zumachen kann.
Aber wo soll ich suchen?
Bei unserem alten Spielplatz? Ich habe mich in der Vergangenheit immer wieder dorthin geflüchtet.
Wie so oft bin ich froh, dass Ethan einen Geländewagen fährt. Ob ich mit einem anderen Kleinwagen so problemlos mein Ziel erreichen würde, bezweifle ich.
Ich parke so nah wie möglich, halte aber vom Fluss Abstand, denn der gebärdet sich wie ein Raubtier und droht fast über die Ufer zu treten. Mit der Taschenlampe aus dem Kofferraum mache ich mich auf den Weg. Mein Parka bietet kaum Schutz, die Böen lassen mich stolpern. Endlich bin ich in dem alten Hinterhof des mittlerweile verlassenen Hauses. Ich klettere über den morschen Zaun und renne über die Wiese, bis ich an der Eiche ankomme. Ich ignoriere das Dickicht von Himbeersträuchern und nehme unseren Geheimweg über die unteren Äste des Baumes.
Die alte Schaukel wird vom Wind hin und her geworfen, sogar das Metallgestänge schwankt.
„Ethan?“
Ich leuchte die Gegend ab, aber alles ist verlassen.
„ETHAN!“
Nichts. Ich höre nur, wie der Sturm braust und die Eiche zum Knarren bringt.
Ich fluche, gehe zurück zum Auto und überlege. Wo könnte er noch sein? In Salthill am Strand? Vielleicht sogar auf der Farm?
Das alles fühlt sich falsch an.
Wer ist noch seine Vertrauensperson?
Ich flüchte in den Wagen und schaue ratlos durch die Scheibe auf den Regen. Dann blitzt eine Erinnerung in meinen Gedanken auf.
Wir stehen in seinem Elternhaus, Ethan ist todtraurig, weil der Hund der Familie gestorben ist. Nur ein Mensch konnte ihn trösten – seine Mum.
Der erste Impuls ist, zu dem alten Haus zu fahren, das wir erst vor Kurzem verkauft haben. Doch seine Worte hallen in mir wider. Dieses Haus hat sein Herz verloren.
Es gibt nur einen Ort, an dem er sein kann.
Ich trotze dem Wetter, fahre durch die halbe Stadt. An der hohen Mauer des Friedhofs stelle ich den Wagen ab. Das schwarze Tor ist natürlich verschlossen, also klettere ich über den Eisenzaun, der den Eingang einfasst. Meine Jacke verhakt sich in eine der Spitzen des Gestänges, und ich fluche leise. Ich befreie mich und bin nun vorsichtiger.
Ich laufe den Hauptweg entlang, versuche mich zu orientieren. Grabsteine ragen wie Mahnmale auf. Eines der Hochkreuze weist mir den Weg, denn ich erinnere mich an das hohe Grabmal mit der gälischen Schrift. Ich biege in den Seitengang und renne über den unebenen, matschigen Pfad. Der Strahl meiner Taschenlampe wandert umher, bis ich eine Gestalt entdecke.
Ethan kniet vor dem Grab seiner Mutter. Er ist völlig durchnässt, hat nicht mal eine Jacke an. Ich hocke mich zu ihm, nehme ihn in den Arm. Widerstandslos lässt er mich gewähren.
„Ethan … komm nach Hause. Bitte …“
Doch er sagt kein Wort. Nur der Sturm heult wie ein Geisterheer und peitscht den Regen um unsere Körper. Meine Knie versinken im Schlamm, der sich vor dem Grab gebildet hat. Die Bäume beugen sich den Böen, und zwischen dem Pfeifen des Windes höre ich es knarren, als kämpften die Äste darum, nicht zu brechen.
Ich kann Ethan in diesem Augenblick nur festhalten, jedes Wort wäre fehl am Platz. Er bebt vor Kälte, scheint jedoch wie abwesend zu sein und erwidert meine Umarmung nicht einmal. Was hat diese Nachricht in ihm ausgelöst?
Ich verharre hier mit ihm, am Grab seiner Mutter, ignoriere das Toben des Wetters. Erst als meine Beine langsam einschlafen und ich die eisige Nässe kaum mehr aushalte, löse ich mich von ihm, sodass ich ihn ansehen kann. Meine Hände umfangen sein Gesicht, drehen es sanft in meine Richtung.
„Ethan, lass uns gehen … bitte.“
Er weicht meinem Blick aus, nickt aber. Ich helfe ihm hoch, und wir gehen über den Friedhof zurück zum Auto. Als ich in Richtung Ausgang gehen möchte, um wieder über den Zaun zu klettern, zieht Ethan mich in die andere Richtung. Verborgen hinter einem Gebüsch ist ein Stück Mauer herausgebrochen, und wir kommen ohne Mühe auf die andere Seite. Ich muss mich zuerst orientieren, doch Ethan scheint den Weg gut zu kennen, er führt mich zurück zur Straße, sieht mich dann fragend an. Ich nehme seine Hand und gehe mit ihm zum Land Rover.
Im Wageninneren atme ich auf, starte das Auto und hoffe, dass der Motor noch warm genug ist, um die Heizung zu nutzen. Lauwarme Luft, die sich rasch erwärmt, kommt aus der Klimaanlage, und ich halte meine Hände vor die Schlitze.
„Hoffentlich erkältest du dich nicht“, sagt Ethan leise, ohne mich anzusehen. Er starrt aus dem Fenster, obwohl dort nur Dunkelheit und Regen zu sehen sind.
„Um mich mache ich mir gerade die wenigsten Sorgen.“
Ich lege meine Hand auf seine, er lässt es zu, reagiert aber nicht darauf.
Der Nachrichtenton meines Smartphones erschreckt mich. Normalerweise würde ich in dieser Situation mein Handy ignorieren. Aber es ist mitten in der Nacht. Noch ein Notfall?
Ich greife nach dem Telefon, das in der Innentasche meiner Jacke ist, und schaue auf die Benachrichtigung in der oberen Leiste.
„Jacob?“, murmle ich verwundert.
Warum schreibt mich der Pater um diese Uhrzeit an? Ich öffne die Nachricht.
Ist alles in Ordnung bei euch? Du hast vorhin angerufen, aber ich war nicht schnell genug am Telefon.
Ich habe bei ihm angerufen? Als ich in der Anrufliste nachschaue, bestätigt sich das. Hat sich mein Smartphone wieder verselbstständigt? Vielleicht, als ich Ethan umarmt habe?
„Ethan, ich muss kurz mit Pater Brown sprechen.“
Er sieht mich verwirrt an, sagt aber nichts dazu.
Ich rufe Jacob an, damit er nicht beunruhigt ist.
„Hallo Sínead, was ist denn los?“
„Es tut mir leid, Jacob, ich wollte dich nicht erschrecken. Der Anruf war ein Versehen, ich muss auf die Taste gekommen sein.“
„Mitten in der Nacht?“
„Ethan und ich … wir … wir sind noch unterwegs.“
„Im Sturm?“
„Ich wollte dich nicht wecken, bitte entschuldige.“
„Du hast mich nicht geweckt, ich bin noch in der Kirche.“
„Mitten in der Nacht?“
„Womit wir eine Pattsituation haben. Wo seid ihr?“
Ich zögere, werfe Ethan einen Blick zu. Er sitzt wie apathisch da, als hätte die Nachricht, dass Leslie nicht seine Tochter ist, ihn regelrecht betäubt. Sollte er nicht wütend sein? Ich verstände es, wenn er vor Zorn toben würde, wenn er Megan zur Rede stellen würde. Aber diese Teilnahmslosigkeit erschüttert mich.
„Sínead?“, hakt Jacob nach.
„Wir sind vor dem Friedhof in Galway. Wir müssen … Ethan hat …“ Wie soll ich es Jacob sagen, ohne Ethan die Botschaft erneut unter die Nase zu reiben?
„Kurz gesagt, ihr habt ein Problem.“
„So kann man sagen.“
„Du kennst sicher die kleine Kirche in Coolough. Kommt dorthin, ich warte auf euch.“
„Jacob …“ Ich fühle mich überrumpelt.
„Bin ich euer Priester, oder nicht?“
„Das bist du.“
„Dann kommt zu mir. Vielleicht hat es ja einen Grund, dass sich dein Handy verselbstständigt hat.“
In diesem Augenblick fehlt mir die Kraft, mich Jacob zu widersetzen. Mit einem Seitenblick auf Ethan erkenne ich, dass ich allein nicht an ihn herankomme, also gebe ich nach. „Okay.“
Es dauert kaum zehn Minuten, dann parke ich vor der kleinen Kirche. Erst jetzt realisiert Ethan, wo ich uns hingebracht habe.
„Was sollen wir hier, Sínead?“
„Ich weiß es selbst noch nicht.“
Jacob steht mit einem Schirm bereits draußen und kommt nun an die Fahrerseite. Ich lasse die Scheibe herunter. Mit einem Blick auf uns erfasst er die Situation.
„Wir fahren in mein Cottage.“
Er steigt hinten ein und dirigiert uns zu seinem abgelegenen Häuschen. Als Jacob durch den Regen zu seiner Haustür geht, sieht Ethan mich mit gerunzelter Stirn an.
„Vielleicht kann er irgendwie … helfen“, flüstere ich. „Du bist völlig fertig.“
Er widerspricht mir nicht, reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Trotzdem weiß ich, dass er eigentlich nicht viel von der Kirche hält. Doch auch ihm scheint die Kraft zu fehlen, dem auszuweichen. Er steigt aus und folgt mir, als ich in das kleine Cottage gehe.
Drinnen kommt es mir ungemütlich kühl vor. Jacob betätigt den Lichtschalter und erhellt den Raum.
„Gleich wird es warm. Einen Moment nur.“
Er zündet einen Gasofen an, ich beobachte die blauen Flammen, die man hinter verziertem Glas schimmern sieht.
„Ihr seid ja völlig durchnässt!“ Er verschwindet in einem anderen Raum, und ich höre ihn dort rumoren. Ich ziehe Ethan zum Ofen, denn er zittert unkontrolliert vor Kälte.
Das kleine Cottage wirkt nun im Licht und mit der ausströmenden Wärme ganz anders als beim Eintreten. Die altmodische Einrichtung passt zu dem niedrigen Gebäude, es wirkt wie ein urwüchsiges Ferienhaus.
Jacob kehrt zurück und reicht uns trockene Kleidung. „Zieht euch besser um, ich bin in der Küche und mache uns einen Tee.“
Er geht in die schmale Küchenzeile und kämpft mit der Falttür, die er wahrscheinlich noch nie geschlossen hat. „Ich hab’s gleich“, sagt er mit einem entschuldigenden Lächeln. Endlich bewegt sich das alte Ding. Als es auseinanderklappt, steigt eine Staubwolke auf, hinter der Jacob verschwindet.
„Ich glaube, er wohnt noch nicht lange hier“, erkläre ich mit einem Schmunzeln und schäle mich aus den tropfnassen Sachen. Weil Ethan tatenlos dasteht und skeptisch auf die Falttür schaut, stupse ich ihn sachte an, zeige auf die Pfütze unter uns. „Wir ruinieren noch das alte Parkett.“
Er nickt und zieht sich um.
Wir sehen seltsam aus in Jacobs Kleidung. Mir ist sie viel zu groß und Ethan ein wenig zu klein. Aber im Moment ist das völlig unwichtig. Ich schiebe Ethan näher zum Ofen. Seine Hände sind eiskalt.
In der kleinen Küche pfeift der Wasserkessel, und wenig später ruckelt die Falttür.
„Das gibt’s doch nicht“, höre ich Jacob murmeln.
Ethan reagiert schneller als ich. „Warte, ich helfe dir.“ Er hebt die Kunststofflamellen an und öffnet die Tür mit einem Ruck.
„Danke!“, sagt Jacob. „Ist wahrscheinlich besser, wenn ich das Teil zulasse.“
Ethan schiebt die Lamellen vor und zurück, begutachtet die Führungsschiene, die oben angebracht ist. „Hast du ein Gleitmittel für Kunststoffe da?“
„Äh, nein, eher nicht.“
„Ich glaube, ich habe was hinten im Wagen, das müsste gehen. Man muss auch die Schiene mal nachziehen.“ Mit diesen Worten geht Ethan zurück in den Regen. Jacob schaut mich fragend an.
„Er hat erfahren, dass Megans Kind nicht seine Tochter ist. Er ist … völlig durch den Wind.“
„Und jetzt will er sich ablenken.“
„Ja … wie immer.“
Ethan kommt zurück, streicht sich das nasse Haar zurück. Wir lassen ihn die Falttür reparieren.
Jacob nimmt mir die tropfende Kleidung ab und bringt sie ins Badezimmer. Während ich unsere Pfütze aufwische, stellt er ein Tablett auf den Wohnzimmertisch.
„Für Ethan Whiskey in den Tee?“, fragt Jacob mich leise.
„Ja, das wäre glaub ich ganz gut.“ Ich setze mich auf die Couch und schnuppere. Der Duft des schwarzen Tees ist besonders, ich schaue auf das kleine Etikett am Teebeutel. „Glengettie? Die Sorte kenne ich gar nicht.“
„Ein walisischer Tee. Meine Grandma hat ihn geliebt.“
Ich umfasse die Tasse und starre auf die dunkle Flüssigkeit.
„Ist es nur das?“, flüstert Jacob.
Ich schüttle den Kopf.
Ethan legt den Schraubenzieher beiseite. „Die Tür ist wieder in Ordnung.“
Jacob und ich sehen auf.
„Ich danke dir, Ethan, dann setz dich doch zu uns“, bittet der Pater.
Ethan zögert. Ich sehe, dass er der Situation ausweichen möchte. Er wirkt wie ein Tier kurz vor der Panik. Sein Körper spannt sich an, bereit zur Flucht.
„Nur ein Tee zum Aufwärmen, Ethan.“ Ich strecke ihm die Hand hin.
Fast widerwillig setzt er sich zu uns, greift nach dem Tee. Ich sehe, wie er sich entspannt, als er den Whiskey schmeckt.
Jacob lehnt sich zurück. „Wahrscheinlich wundert ihr euch, warum ich nachts in der Kirche herumgeistere. Pfarrer O’Brien geht in den Ruhestand, und ich soll die Gemeinde fest übernehmen.“
Die Skepsis in seiner Stimme verwundert mich. „Das ist doch gut, … oder?“
Jacob lächelt, senkt den Blick. Ich sehe eine Spur Traurigkeit in seinem Gesichtsausdruck. „Irland wäre meine neue Heimat.“
Ethan ist verwirrt, ich sehe es ihm an. Wir beide können uns keinen anderen Ort als Heimat vorstellen. Ich weiß aber, dass bei Jacob weitaus mehr dahintersteckt. Er musste Cornwall verlassen, weil er sich in seine Pfarrhaushälterin verliebt hat.
„Die Kirche ist wohl ein guter Ort, um über so eine Entscheidung nachzudenken“, sagt Ethan. „Zumindest für einen Priester.“
Danach umgibt uns für einen Moment Stille. Auch der Sturm ist abgeebbt, nur das leise Geräusch des Gasofens ist zu hören.
„Hast du noch mal mit Anne gesprochen?“, wage ich zu fragen.
Endlich begreift Ethan, worum es hier wirklich geht. Ich hatte erwähnt, warum Jacob aus Cornwall fortmusste. Er schaut den Pater mitfühlend an.
„Sie hat mir geschrieben.“
Ich rutsche nach vorn, nehme noch einen Schluck Tee. „Aber du wirst nicht antworten, oder?“
Er zögert kurz. „Nein …“ Jacob atmet tief durch. „Ich erbat ein Zeichen. Als dein Handy klingelte, hat es mich ganz schön erschreckt.“ Er lacht unsicher auf. „So schnell hatte ich gar nicht mit einer Antwort gerechnet.“
Wir sehen den Pater verdutzt an.
„Wisst ihr, ich werde hier wirklich gebraucht, aus vielerlei Gründen. Und ich werde mich an die Insel gewöhnen. Wir haben uns ja schon ein bisschen angenähert.“
„Irland ist nicht so leicht zu zähmen“, bemerkt Ethan mit einem kleinen Lächeln.
„Ja, aber ich glaube, ich könnte mich hier wirklich wohlfühlen. Und das andere … wird vergehen.“
Ethan und ich schweigen. Es gibt Arten der Liebe, die niemals vergehen.
„Erzählst du mir von der kleinen Leslie?“ Jacob schaut Ethan an.
Ich sehe, dass es ihn überrumpelt, doch diesmal flüchtet er nicht.
„Sie ist nicht meine Tochter. Megan hat mich belogen. Zumindest sieht es so aus.“ Er kämpft mit sich, ich sehe es ihm an. „Sie ist noch so klein. Ich dachte …“ Ethan scheint nicht zu wissen, wie er es erklären soll.
Jacob nimmt den Teebeutel aus seiner Tasse und legt ihn auf den Unterteller. „Man verliebt sich schnell in diese kleinen Wesen, nicht wahr?“
Ethan sieht mich unsicher an, als fürchte er, ich könne verletzt werden. Ich greife nach seiner Hand.
„Sie umklammert immer Ethans Finger. Und sie hockt auf seiner Brust wie ein kleines Äffchen.“
Die Erinnerung daran lässt ein trauriges Lächeln über Ethans Gesicht huschen. Er fährt sich in einer nervösen Geste durchs Haar. Sein Blick senkt sich auf unsere Hände, seine Finger sind regelrecht verkrampft.
„Es fühlt sich an, als sei sie … als sei sie für mich … gestorben.“
„Aber das ist sie nicht“, sagt Jacob sanft. „Sie lebt, und du hast viel dazu beigetragen, denn du warst bei ihr, als sie jemanden brauchte.“
„Was soll ich denn jetzt tun?“
Der Pater seufzt leise. „Das kannst nur du entscheiden.“
Ethan richtet sich gerade auf, nun sehe ich doch Wut in seinen Augen aufflackern. Für einen Moment fürchte ich, dass sich das Gefühl vielleicht auf mich bezieht. Ich vertreibe diese Überlegung rasch und lasse die beiden Männer miteinander reden.
„Ich weiß nicht, ob ich Megan das verzeihen kann!“, bricht es aus Ethan hervor. „Aber warum sollte ich auch? Wenn Leslie gar nicht meine Tochter ist, dann … dann muss ich mich nicht mehr mit Megan befassen.“
„Aber hier geht es nicht um sie, oder?“
Ethan presst die Lippen aufeinander, schüttelt den Kopf. „Nein …“ Abrupt steht er auf. „Ich muss einen Moment allein sein!“
„Ethan!“
Mein Tonfall lässt ihn im Gehen erstarren.
„Du kannst nicht immer davonlaufen und alles beiseiteschieben. Dieses Mal nicht.“ Ich weiß, dass ich ihn damit in die Ecke dränge, aber ich kann nicht anders, denn ich sehe, wie er mehr und mehr zerbricht. „Fakt ist, sie hat dich belogen, und es war eine verdammt große Lüge. Aber sie brauchte auch unsere Hilfe, deshalb verstehe ich ihre Beweggründe.“
„Das will ich jetzt nicht hören! Ich habe schon genug für sie getan!“
Ich stehe auf, gehe zu ihm, vermeide aber jede Berührung. Sein Körper ist so angespannt, dass er mir wahrscheinlich ausgewichen wäre.
„Ethan, du sollst auch nichts mehr für sie tun. Ihre Freundin ist jetzt da, und wenn ich es richtig verstanden habe, ist Beverly gewillt, Megan und dem Kind beizustehen. Aber du musst entscheiden, ob du den Kontakt komplett abbrechen willst, … oder nicht.“
„Du brauchst Sicherheit“, wirft Jacob ein. „Vertrauen ist jetzt nicht mehr vorhanden.“
„Megan muss einen Vaterschaftstest machen“, stimme ich zu.
Ethan sagt nichts, steht nur da.
Ich versuche zu verstehen, wie er sich fühlt. In den letzten Jahren hat er viel verloren. Seine Eltern sind tot, die Geschwister gehen eigene Wege, haben sich komplett abgenabelt, und unsere Beziehung war in den letzten Wochen auch nicht einfach. Dazu kommt der Stress seiner Arbeit und die umfangreiche Renovierung unserer Farm. Nichts davon verarbeitet er wirklich. Ich frage mich plötzlich, wie ich mit dieser Situation umgehen würde. Bei der Vorstellung, meine Familie zu verlieren, blutet mir förmlich das Herz, und ich vertreibe diesen Gedanken schnell. Ich begreife, dass der drohende Verlust des Kindes nur der berühmte Tropfen ist, der nun alles zusammenbrechen lässt.
„Es gäbe noch eine Möglichkeit“, sagt Jacob, steht auf und legt tröstend eine Hand auf Ethans Schulter.
Ethan blinzelt. „Welche?“
„Solltest du wirklich nicht der Vater sein, möchtest den Kontakt zu der Kleinen aber trotzdem halten, könntest du ihr Patenonkel werden.“
„Zuerst muss ich mit Megan reden.“ Seine Stimme ist dunkler als sonst. Ich habe Ethan selten wirklich wütend erlebt, nun spüre ich mühsam unterdrückten Zorn.
„Ja, das solltest du“, sagt Jacob.
„Ich möchte jetzt nach Hause, Sínead.“
Ich akzeptiere seinen Wunsch und berühre zum Abschied Jacobs Arm. „Danke“, flüstere ich.
Als ich ins Auto steige, sitzt Ethan schon auf dem Beifahrersitz.
„War es okay für dich, hierherzukommen?“, frage ich vorsichtig.
„Ja, der Priester ist in Ordnung.“ Er weicht mir aus, sieht mich nicht einmal an.
„Ethan, es tut mir so leid, aber ich musste es dir sagen.“
Nun schaut er mich verwirrt an. „Natürlich musstest du das. Denkst du, ich mache dich irgendwie verantwortlich?“
„Die Angst davor ist da.“
„Nein, ich bin froh, dass du es mir gesagt hast und dass ich dir vertrauen kann.“
Wir stehen noch vor Jacobs Cottage, und ich sehe, wie der Pater drinnen die Lichter löscht. Ich wende mich Ethan zu. Behutsam lege ich meine Hand an seine unrasierte Wange.
„Du kannst mir immer vertrauen.“
Er nimmt meine Hand, küsst sie sachte. „Ich weiß.“
Ich sichere mich mit dem Gurt und starte den Land Rover. Der Sturm ist vorbei, der Morgen graut, ich sehe einen roséfarbenen Schimmer im Osten. Also fahre ich nicht nach Hause zu unserer Wohnung, sondern in Richtung Farm. Ethan protestiert nicht dagegen. Allerdings parke ich nicht in unserer Auffahrt, sondern fahre weiter die Anhöhe hinauf und stelle den Wagen bei einer Einbuchtung ab. Ich steige aus, gehe um das Auto herum, öffne die Beifahrertür.
„Komm!“
Ethan nimmt meine dargebotene Hand, und ich führe ihn weiter die Erhebung hinauf. Wir laufen über die sumpfige Wiese, bis oben ein kleines Plateau erscheint.
Es wird noch dauern, bis die Sonne aufgeht, aber ihr Schein ist schon sichtbar. Der Lough Corrib liegt wie ein Ruhepol zwischen den Wiesen. Nebelfelder ziehen über die Ebene. Die Oberfläche des Sees, der sich unter uns ausbreitet, spiegelt die Farben des Morgens wider. Unsere Farm liegt noch im Schatten der Nacht, aber ich weiß genau, wo unser Haus steht und wo die Weiden sind, nur von Trockenmauern getrennt.
„Du siehst sie nicht“, flüstere ich, „weil das Dunkel noch die Oberhand hat. Aber unsere Farm, sie ist da.“ Ich schmiege mich an ihn. „Egal, was noch passiert. Dort ist unser Zuhause, unsere Zukunft.“
Ethans Blick schweift umher, er fixiert einen Punkt in der Ferne. Ich lächle, denn auch er kennt den genauen Standort.
„Bald wird die Sonne aufgehen“, sage ich leise. „Du wirst schon sehen. Im Hellen sieht alles immer ganz anders aus.“
Ethan zieht mich in seine Arme, und wir bleiben so lange dort auf dem Hügel, bis endlich die ersten Strahlen des Morgens das Land in goldene Farben tauchen.