Читать книгу Schlüssel der Zeit - Band 4: Der Fuchs und der Räuber - Tanja Bruske - Страница 10
4. Der Weg zum Bayes
ОглавлениеKeyras Mund wurde so trocken wie Löschpapier. Der wird mich doch jetzt nicht etwa umbringen? Eben hat er mir noch meinen Anteil ausgezahlt …
„Tja … wohin sind denn die anderen verschwunden?“, fragte sie befangen.
„Nach so einem Überfall verteilen wir uns erst einmal – es sind auch nicht alle aus meinem Bayes. Du warst noch nicht bei vielen Überfällen dabei, oder?“
Keyra hatte keine Ahnung, wie sie auf diese Frage reagieren sollte. „Nun … mein Vater hat mir natürlich einiges beigebracht …“
Peter winkte ab. „Wie ich den Roten Sepp kannte, hat er dich vor allem in der Stadt antreten lassen, was? Er selbst ist ja gerne aufs Land, wenn er gesucht wurde, aber er war eben doch eher der Stadtkerl. Und von seinen Kodern hatte er nie welche dabei.“
„Ja, eben.“ Dankbar griff Keyra den Faden auf. „Aber jetzt musste ich auch aus der Stadt verschwinden.“ Welche Stadt auch immer das war.
„Da kam meine Nachricht wohl gerade recht?“
„Ja, schon. Allerdings …“
„Du weißt wohl nicht recht, wohin du dich jetzt wenden sollst?“
„Genau.“
„Du kannst erst einmal mit in meinen Kochemer-Bayes kommen. Es gibt genug Räubernester hier in der Gegend, wo du unterkommen kannst, wenn dir das Köhlerdorf nicht gefällt.“
Er will mich nicht umbringen, zum Glück. Keyra verbarg ihre Erleichterung nicht – schließlich ging Peter davon aus, dass sie eine Unterkunft suchte, da war ein Aufatmen wohl angebracht. „Danke. Was ist ein Bayes?“
Peter, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, wandte sich erstaunt um. „Hat dir dein Vater kein Rotwelsch beigebracht?“
„Doch.“ Was zum Geier ist Rotwelsch? Ist das diese Gaunersprache, von der auf den Arbeitsblättern die Rede war? Hätte ich mir vielleicht mal besser durchlesen müssen … „Aber dieses Wort kenne ich nicht.“
„Ein Bayes ist ein sicherer Ort, wohin wir uns zurückziehen können.“ Falls Keyras Unwissen das Misstrauen des Schwarzen Peters erregte, zeigte er es nicht. „Komm, es ist ein Stück weiter als die Hütte, in der wir uns getroffen haben.“
Sie gingen weiter durch den Wald. Keyra erkannte, dass ihr vorheriger Eindruck, es würde bald dämmern, sie getäuscht haben musste, denn die Nacht wollte noch nicht weichen. Ein paar Mal setzte sie an, Fragen zu stellen. Doch der Räuber würgte jede Unterhaltung ab: „Spar dir deinen Atem für den Marsch. Wir können später reden.“
Schließlich graute der Morgen doch noch, und fahles Morgenlicht sickerte durch das Blätterdach in den Wald. Keyra sah schließlich eine Rauchfahne aufsteigen.
„Dort ist der Bayes“, sagte Peter in diesem Moment.
Aus dem morgendlichen Halbdunkel schälten sich mehrere Hütten, nicht mehr als ein halbes Dutzend. Sie waren nicht besonders groß, einige sogar kleiner als das Häuschen, in dem sich die Räuberbande in der Nacht getroffen hatte. Außer den Rauchfahnen, die aus ein paar Löchern in den Dächern aufstiegen, war kein Lebenszeichen zu sehen, alles lag noch in tiefem Schlaf.
Peter wies auf eine winzige Hütte am Rand der Siedlung. „Das Haus steht momentan leer, da kannst du Quartier finden. In zwei der Hütten wohnen Köhler, denen es nichts ausmacht, sich das Heim mit Fahrenden wie uns zu teilen. Sie sind schließlich auch nicht gerne in der Stadt gesehen. Am Köhlerplatz weiter westlich wohnen noch weitere Köhlerfamilien.“
„Und deine Bande von heute Nacht?“
„Die wohnen nicht alle hier. Das ist die Hütte von Pfeiffers Basti und seiner Familie.“ Peter wies auf das größte Gebäude. Er verzog das Gesicht. „Fünf Koder, der braucht Platz. Lippes ist vor ein paar Tagen dort drüben eingezogen, beim Kahlen Michl. Michl hat Albschoss und konnte nicht mit zur Chesse. Pipp ist der Sohn von Köhler Kress. Die letzte Hütte gehört Hans von der Dhan, dem Langen Landsknecht. Er ist seit einem Jahr abgängig, wir wissen nicht, wo er sich herumtreibt. Seine Schickse, die Franken-Liese, wohnt mit den beiden Kodern noch dort.“ Der Räuber zuckte mit den Schultern. „Du wirst sie schon noch alle kennenlernen.“
Mittlerweile hatte sich Keyra zusammengereimt, dass „Koder“ wohl Kinder bedeutete – also lebten hier mindestens sieben Kinder. Was Albschoss war, wusste sie allerdings nicht. Hoffentlich nichts Ansteckendes …
„Und ich kann einfach so in die Hütte einziehen?“
„Sie gehörte dem Kurzen Karl – nicht dass er sonderlich klein gewesen wäre, aber sein Geburtsname war Karl Kurz. Der ist vor ein paar Monaten in Bad Orb am Henkersplatz an einem der drei Galgen aufgeknüpft worden. Seitdem steht die Hütte leer.“
„Na, großartig“, murmelte Keyra. Die Hütte eines Toten. Hoffentlich spukt er nicht drin herum. Noch vor einem Jahr wäre ihr niemals ein solcher Gedanke gekommen. Aber seitdem sie es regelmäßig mit Zeitreisen zu tun bekam, hielt sie alles für möglich.
Peter bemerkte ihr Unbehagen und grinste. „Karl hätte nichts dagegen gehabt. Wenn es dir nicht gemütlich genug ist, kannst du dir morgen ein Quartier in einem der anderen Bayes in der Nähe suchen.“
„Wie viele Bayes gibt es denn?“
„Im Huttischen Grund gibt es viele sichere Häuser. Vielleicht findest du in Eckardroth, Romsthal oder Kerbersdorf ein Quartier, oder im Krugbau von Steinau. Auch die Burg in Gelnhausen gilt als kochem.“
„Eine Burg?“
„Nein, der Stadtteil, der sich Burg nennt. Dort haben so viele unterschiedliche Herren das Sagen, dass es leicht ist, unterzutauchen.“
„Ich bleibe erst mal hier.“ Keyra täuschte ein Gähnen vor. „Ich bin erschöpft.“
„Das glaube ich.“ Peter betrachtete sie mitleidig. „Wo bist du denn auf dem Weg von Aschaffenburg untergekommen?“
„Hier und da“, meinte Keyra ausweichend. Sie hatte keine Ahnung, ob irgendwelche Bayes auf dem Weg gelegen hätten. „Wollte möglichst wenig Aufsehen erregen.“
„Sehr vernünftig. Dann ruh dich aus, wir reden morgen weiter. Direkt neben der Tür findest du Schwefelhölzer und ein Wachslicht.“
Keyra nickte, und als Peter sie auffordernd ansah und stehen blieb, ging sie in die Hütte. Ehe sie die Tür schloss, suchte sie im schwachen Morgenlicht nach der Kerze, fand sie jedoch nicht. Ach, auch egal, dachte sie und zog die Tür zu. Das fahle Licht reichte, um sich in der Hütte zu orientieren. Es gab ohnehin nur eine wacklige Truhe und ein Strohlager auf dem Boden. Der Kurze Karl war wohl nicht besonders anspruchsvoll.
Keyra setzte sich auf das Strohlager. Obwohl es ihrer inneren Uhr nach in ihrer eigenen Zeit erst früher Abend sein konnte, war sie tatsächlich erschöpft: Der ungewohnte lange Marsch war durchaus anstrengend gewesen. Aber nun wollte sie zunächst einmal in ihr Wächterbuch schauen. Dazu brauchte sie kein Licht, denn die Seiten leuchteten leicht, wie ein E-Book-Reader.
In ihrer Ledertasche fand Keyra neben dem Buch auch einen Kohlestift. Sie holte beides heraus, auch wenn sie nicht glaubte, dass sie den Stift bereits brauchte. Sie blätterte über die ersten Seiten hinweg, auf denen einzelne Einträge ihrer bisherigen Reisen standen – meist nur einzelne Worte. Auf einer neuen Seite prangten in der Keyra bekannten, akkuraten Handschrift, die nicht ihre eigene war, ein Ort und ein Datum: Kochemer Bayes in der Nähe von Orb, April 1634