Читать книгу Schlüssel der Zeit - Band 4: Der Fuchs und der Räuber - Tanja Bruske - Страница 8

2. Liebesschlösser

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Die Schulglocke ertönte, als Keyra auf den Parkplatz fuhr und ihre Vespa abstellte. Zehn vor acht, die erste Stunde begann.

Mistmistmist, ich bin zu spät! Manchmal kam sie sich vor wie das weiße Kaninchen aus „Alice im Wunderland“: Egal wie früh sie auch aufstand und wie sehr sie sich beeilte, am Ende kam sie doch immer auf den letzten Drücker. Sie riss sich den Helm vom Kopf und stopfte ihn in das Fach unter dem Sitz. Der Bus sollte um acht Uhr vor der Schule losfahren, und da stand er auch bereits mit laufendem Motor.

Ihr Geschichts-LK-Lehrer Sebastian Geiger stand vor dem Bus und sah sich ungeduldig um. Als er Keyra heran rennen sah, änderte sich sein Gesichtsausdruck und zeigte nun eine Mischung aus Erleichterung, Ärger und Belustigung. „Da bist du ja, Keyra. Ich dachte schon, der Spessart wäre als Ausflugsziel nicht aufregend genug für dich.“

„Wenn Sie es so ausdrücken …“, sagte Keyra, fügte aber gleich hinzu: „Tut mir leid, auf der Bundesstraße gab es einen Unfall, und deswegen sind alle Deppen über die Landstraßen gefahren, und …“

Geiger winkte ab. „Schon gut, geh einfach rein und such dir einen Platz. Wenn es dich beruhigt, du bist nicht die Letzte. In zwei Minuten fahren wir los, ganz gleich ob alle da sind.“

Keyra stieg kommentarlos ein. Sie wusste, dass Geigers Worte eine leere Drohung waren – solange niemand krankgemeldet war, würde der Lehrer natürlich warten. Sie ließ ihre Blicke über die Sitzreihen schweifen und entdeckte Lou, die ihr zuwinkte und neben sich deutete. Selbstverständlich hatte ihre beste Freundin ihr einen Platz freigehalten, so gehörte sich das schließlich. Nur blöd, dass sie auf dem Weg dorthin an Greta Strobel, der blöden Nuss, vorbeimusste.

„Die Kelly hält mal wieder den ganzen Verkehr auf“, quietschte Greta so laut, dass es der ganze Bus hören musste.

Keyra wurde rot und drängte sich weiter.

„Ach ja? Ich glaube, dein Schatzi Ben ist auch noch nicht da – vielleicht ist er es ja, der den Verkehr aufhält?“, rief Lou Greta zu.

„Ich glaube, Greta würde gerne mit Ben im Verkehr feststecken“, grölte Lukas, der Klassenclown, und die Jungs im Bus schmissen sich weg.

Keyra konnte sexistische Witze nicht leiden. Auch dann nicht, wenn Greta das Ziel war und erst recht nicht, wenn Ben irgendwie damit in Zusammenhang stand. Sie sagte jedoch nichts und ließ sich neben Lou auf den Sitz gleiten. Sie war froh, dass die Aufmerksamkeit der Schüler – den Teilnehmern von Leistungs- und Grundkurs Geschichte ihres Jahrgangs – von ihr abgelenkt war.

„Ben ist nicht ihr Schatz“, murmelte sie so leise, dass nur Lou es hören konnte.

„Deiner allerdings auch nicht“, gab Lou süffisant zurück. „Wo warst du denn schon wieder?“

„War viel los auf den Straßen.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Eigentlich hatte Keyra verschlafen, obwohl sie ihren Wecker extra auf zehn Minuten früher wecken gestellt hatte. Dann musste sie auch noch am Ortsausgang von Rüdigheim, wo sie wohnte, noch einmal umdrehen, weil sie ihr Wächterbuch liegen gelassen hatte. Ohne das Buch ging sie nirgendwo mehr hin.

„Hoffentlich nicht auf der Autobahn, sonst brauchen wir ewig nach Bad Orb“, stöhnte Lou. „Hat der Sozen-Seppl dir einen Anschiss verpasst?“

Keyra spähte um ihren Sitz herum, ob der Lehrer mittlerweile in den Bus gekommen war und die despektierliche Anrede mitbekommen hatte; aber er stand immer noch draußen. „Nein, er hat nur nen blöden Spruch gerissen. Wo Ben nur bleibt, der hat es doch von der hohen Tanne aus nicht weit …?“

In diesem Augenblick kamen Ben und Geiger in den Bus, Ben mit einem verschmitzten, entschuldigenden Lächeln, das offenbar nicht nur Keyras Herz erweichte. Auch Geiger sah nicht sauer aus, sondern klopfte Ben auf die Schulter und wandte sich dem Busfahrer zu.

„Wie macht der das nur, dass die Lehrer ihm jede Dummheit durchgehen lassen?“, flüsterte Lou an Keyras Seite.

„Charisma“, seufzte Keyra.

„Huhuuuuu, Ben!“, kreischte Greta durch den Bus. „Neben mir ist noch ein Platz frei!“

Zu Keyras Erstaunen, Gretas Entsetzen und zur Verblüffung des gesamten anwesenden Jahrgangs marschierte Ben jedoch an Greta vorbei und warf seinen Rucksack in die noch leere Sitzreihe vor Keyra und Lou. „Sorry Greta, ich hab gestern lange gezockt und brauch auf der Fahrt ein bisschen Ruhe“, rief er Greta über die Schulter zu, was eine erneute Lachsalve unter den männlichen Schülern des Jahrgangs zwölf der Otto-Hahn-Schule auslöste. Er zwinkerte Keyra zu und ließ sich auf den Sitz vor ihr fallen. Greta bekam einen knallroten Kopf und verschwand in ihrer Sitzreihe. Keyra und Lou sahen sich an und grinsten breit, während sich der Bus langsam in Bewegung setzte.

„Was zockst du denn so?“, fragte Lou, indem sie sich über die Lehne beugte.

„World of Dungeon Lords“, nannte Ben ein populäres Onlinespiel. Keyra war nicht besonders verwundert. Die meisten Jungs, die sie kannte, hatten einen Account – und auch ziemlich viele Mädchen.

„Hey, so ein Zufall – das spielt Keyra auch.“ Lous Augenaufschlag war so unschuldig wie nur möglich.

„Ach, echt?“ Ben lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fenster, sodass er die Mädchen hinter sich ansehen konnte. „Welches Level?“

„Ich spiele eine Diebin, Prestigeklasse Schattengänger, Level 32.“ Keyra wurde unter Bens interessierten Blicken nervös. „In letzter Zeit komme ich nicht so oft zum Spielen. Ich … ich habe viel zu tun …“

„Schade. Ich hab nen Barbar, Stufe 35 – würde sich bestimmt ganz gut ergänzen. Du kannst ja Bescheid sagen, wenn du mal wieder online gehst.“

„Klar. Ich weiß nur nicht, wann ich wieder mal Zeit habe.“

Lou rammte Keyra ihren Ellenbogen sanft in die Rippen, und Keyra biss sich auf die Lippen. Oh Mann, ich stelle mich aber auch dämlich an. Da bietet sich DIE Gelegenheit, mit Ben ins Gespräch zu kommen, und ich versaue es. Ich muss das Gespräch am Laufen halten.

„Hast du diese Quest mit der Drachenhöhle schon gelöst?“, fragte sie, um beim Thema World of Dungeon Lords zu bleiben.

„Du meinst das mit dem Schmied und dem Zauberring? Nee, ich scheitere immer an diesem seltsamen Rätsel, das der Gnom stellt …“

Sie redeten die ganze Fahrt bis nach Bad Orb, zunächst über das Spiel, dann über den Kinofilm, den beide vor Kurzem gesehen hatten. Auch, als sie aus dem Bus ausstiegen, waren Keyra und Ben noch ins Gespräch vertieft.

„He, ihr Zocker – ich weiß nicht, ob ihr es mitbekommen habt, aber der Sozen-Seppl sagt, wir müssen jetzt alle den Berg dort hochtraben, da steht der komische Turm und unsere Führung beginnt“, unterbrach Lou ihre Unterhaltung. Sie zwinkerte Keyra zu. „Danach müssen wir runter in die Stadt laufen, wo wir von einem Spessarträuber persönlich durch Bad Orb geführt werden. Aber vorher haben wir freundlicherweise eine Stunde Freizeit.“

„Juhu.“ Ben verdrehte die Augen. „Naja, vielleicht wird es ganz interessant mit dem Räuber. Wollen wir nachher ein Eis essen gehen, ehe wir mit Geschichte zugeballert werden?“

Keyra konnte ihr Glück kaum fassen. Ben Hartmann, der beliebteste Junge des Jahrgangs, in den sie seit Jahren heimlich und unheimlich verschossen war, wollte tatsächlich mit ihr Eis essen gehen. Vielleicht liege ich noch im Bett und träume.

Vor lauter Aufregung vergaß Keyra zu antworten. Erst, als Ben sie fragend ansah und Lou sich vernehmlich räusperte, fiel ihr das auf.

„Oh, klar, gerne. Ich liebe … Eis.“

Der Bus hatte sie bereits den Großteil des Hügels hinaufgefahren, der sich etwas großspurig „Molkeberg“ nannte. Während sie die restliche Distanz bis zu einem kleinen gelben Turm überwanden, erzählte Geiger, was es mit dem Turm auf sich hatte. In diesem Gemäuer war der Legende zufolge einst ein Räuber namens Peter von Orb eingemauert worden. Er war aber entkommen, was irgendwie mit einem Fuchs zusammenhing – Keyra bekam nicht alles mit, weil sie mit ihren Gedanken immer wieder abschweifte und noch immer nicht glauben konnte, dass Ben Hartmann wie selbstverständlich neben ihr lief.

„Das ist zwar nur eine Sage, aber es stecken viele Wahrheiten in den Geschichten“, sagte Geiger, während sich die Schüler am Fuße des Molketurms versammelten, der kaum so hoch wie ein Einfamilienhaus war. „Bei unserer Führung werdet ihr später mehr über die Spessarträuber erfahren und natürlich über die Geschichte der Salzsieder in der Stadt. Jetzt habt ihr eine Viertelstunde Zeit, um auf den Turm zu steigen und euch umzusehen.“

Keyra musterte die Metalltreppe kritisch, die zur Plattform des Turmes hinaufführte. Ihr Vater wäre beim Anblick der Konstruktion sicher in Tränen ausgebrochen, so sehr beleidigte der Anblick das Herz eines Restaurators. Ob stilecht oder nicht: Die Treppe wurde rege genutzt, sodass Keyra, Ben und Lou einen Augenblick warten mussten. Sie studierten derweil die Infotafel am Fuß der Treppe.

„Dieser Peter von Orb war also so etwas wie Robin Hood“, sagte Ben und wies auf die entsprechende Textstelle. „Er hat von den Reichen genommen und es den Armen gegeben.“

„Schöne Vorstellung – aber sicher nur ein Märchen“, meinte Lou trocken.

Keyra nickte. „Hast du das Arbeitsblatt über das Räuberwesen gelesen? Ich glaube nicht, dass sich die Leute damals so etwas wie Großzügigkeit leisten konnten. Das waren doch alles arme Schlucker.“

„Girls, ihr seid ganz schön unromantisch.“ Ben rollte mit den Augen. „Han Solo hatte auch Schulden und hat trotzdem alles für Prinzessin Leia riskiert.“

„Jetzt komm mir nicht mit Star Wars.“ Keyra musste lachen. Die Weltraumsaga schien für die Jungs ihres Jahrgangs stets die Antwort auf alle Fragen der Welt zu enthalten.

„Diese alten Schinken“, spottete Lou. „Wer glotzt so was überhaupt noch?“

Ben fasste sich scheinbar getroffen an die Brust. „Alte Schinken“, ächzte er. „Das sind Klassiker.“

„Harrison Ford ist leider mittlerweile auch ein Klassiker.“ Keyra winkte ab. „Wenn du mir allerdings mit einem schönen Schurken wie Kylo Ren kommst, könntest du mich vielleicht vom edlen Bösewicht überzeugen …“

„Also bitte! Die schlimmste Fehlbesetzung der Galaxis!“

Während sie so frotzelten, nahm der Ansturm auf den Turm ab, und auch Keyra, Lou und Ben stiegen schließlich die Metallstufen hinauf; allerdings erst, als die meisten schon wieder herunterkamen und sich auf den Bänken des Aussichtsplatzes verteilten.

„Seht mal!“ Ben wies auf zahlreiche Schlösser, die an die Metallstreben angebracht waren. „Liebesschlösser.“

Keyra hatte diesen Trend immer für ziemlich kitschig gehalten: Ein Schloss mit dem eigenen Namen und dem des Liebsten an einer Brücke oder Ähnlichem anzubringen und den Schlüssel in der Nähe wegzuwerfen, kam ihr ziemlich albern vor. Aber jetzt, mit Ben an ihrer Seite …

Sie betrachtete die verschiedenen, bunten Schlösser, meist aus Metall und mit verschnörkelten Namen und Daten darauf. Besonders ein rotes, herzförmiges Schloss fiel ihr auf. V.&P. 1.6.+3.4., war darauf eingraviert. Ob das ihre Geburtstage sind?, fragte sich Keyra.

„Na, ob du und Ben hier auch bald ein Schloss anbringt?“, flüsterte Lou ihr eine andere Frage zu. Keyra sah sich erschrocken um, doch Ben war bereits oben auf der Plattform angelangt.

„Bestimmt nicht, wenn ich weiter nur über Computerspiele und Filme rede“, gab Keyra leise zurück.

„Warum? Ist doch ganz geschickt, ihn bei etwas zu packen, das er mag – Männer denken nicht sonderlich kompliziert.“ Lou blinzelte ihr zu.

„Kommt hoch, der Ausblick ist nicht schlecht“, rief Ben. Die beiden Mädchen folgten seiner Aufforderung, und tatsächlich war der Ausblick über Bad Orb ziemlich beeindruckend. Die Stadt war ganz schön groß; die Häuser füllten das komplette Tal vor ihnen aus und verteilten sich auch über den gegenüberliegenden Hang.

„Das sieht ziemlich weit aus – wie lange wir wohl brauchen werden, um dort hinunter zu laufen?“ Keyra neigte zweifelnd den Kopf.

„Ist doch egal – ihr beide findet auf dem Weg sicher ein Gesprächsthema.“ Lachend lief Lou die Treppe hinunter und folgte den Schülern, die sich bereits auf den Weg zur Stadt gemacht hatten. Keyra war mit Ben auf dem Turm allein.

„Ähm“, sagte sie und fühlte, wie ihr die Befangenheit unter die Haut kroch.

Ben schien es nicht zu bemerken. „Oha, die vergessen uns glatt“, sagte er und wies auf die davon trottenden Schüler. „Komm, schnell, ehe alle guten Plätze im Eiscafé besetzt sind.“ Während Keyra noch nickte, nahm Ben ihre Hand und zog sie hinter sich her, die Stufen hinunter. Er ließ ihre Hand auch nicht los, als er den anderen nacheilte. Keyras Haut prickelte da, wo er sie berührte.

Mit einem Mal, sie hatten den Weg Richtung Stadt fast erreicht, blieb sie wie angewurzelt stehen. Auch Ben hielt inne. „Was ist denn?“

Nein! Bitte nicht jetzt! Doch es ließ sich nicht leugnen: Hinter Keyra sang ein Schloss.

Sie biss sich auf die Lippen. Der fragende Ausdruck in Bens Augen hätte sie beinahe dazu gebracht, mit den Schultern zu zucken, und weiter mit ihm zu gehen. Doch sie wusste nur zu gut, was dann passieren konnte. Wenn ich dem Ruf nicht folge, wird mich das Schloss auf anderem Weg holen.

„Ich … ich muss nochmal zurück.“ Keyra entzog ihre Hand sanft Bens Fingern.

Eine Mischung aus Verwunderung und Unglauben trat auf Bens Gesicht. „Warum denn?“

„Ich habe etwas verloren … auf dem Turm, glaube ich.“ Sie machte einen Schritt rückwärts.

„Was denn? Soll ich dir suchen helfen?“ Ben folgte ihr.

„Nein!!!“ Das Wort kam so vehement über Keyras Lippen, dass Ben konsterniert stehen blieb. „Ich … ich schaffe das schon. Es ist mein Schlüssel, er muss mir aus der Tasche gefallen sein. Ich hole ihn schnell.“

„Bist du sicher, dass du ihn dort verloren hast?“ Ben runzelte die Stirn und sah dabei verwirrt und verletzt aus. „Ich habe gar nichts liegen sehen.“

„Doch, es muss da oben gewesen sein, vorher hatte ich ihn noch.“ Keyra ging rückwärts, erst langsam, dann schneller. „Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.“

„Bist du sicher, dass ich nicht …?“

„Ja! Ich schaffe das, ich bin schon groß!“ Keyra drehte sich um und rannte zurück zum Turm. Mist, Mist, Mist! Sie hatte schroffer geklungen als beabsichtigt. Ben hält mich sicher für eine blöde Ziege und wird mich nie wieder ansehen.

Doch sie hatte keine Wahl. Ein Schloss rief nach ihr. Und sie hatte eine Ahnung, welches Schloss dort sang.

Es war tatsächlich das herzförmige Liebesschloss, aus dessen Schlüsselloch ein gleißendes goldenes Licht strömte. Eilig tastete Keyra nach dem Schlüssel an ihrer Halskette. Er pulsierte bereits erwartungsvoll. Nervös sah sie sich um, doch sie war vom Weg aus nicht zu sehen, wurde vom Turm verdeckt. Sie ging die wenigen Stufen der Metalltreppe hinauf, die sie zu dem singenden Schloss brachte – es hing in Höhe der ersten Plattform. Dieses Mal wuchs ihr Schlüssel nicht, sondern schrumpfte, bis er die richtige Größe für das Liebesschloss hatte. Rasch steckte sie ihn hinein und spürte unvermittelt den bereits vertrauten Sog, der sie schließlich ergriff und durch die Zeit riss.

Plötzlich war es dunkel um sie herum, und sie fiel aus zwei Schritt Höhe auf grasigen Grund. Wo – oder eher – wann auch immer sie war – eine Metallleiter gab es noch nicht.

„Aua!“, entfuhr es Keyra, als ihr Steiß auf den Boden prallte. Sie blinzelte, um sich zu orientieren. Es war Nacht, und über ihr spannte sich ein beeindruckendes Sternenzelt. Das Sternenlicht reichte jedoch nicht, um die Umgebung ausreichend zu erhellen. Sie war immer noch am Turm, glaubte sie. Der Umriss des Gebäudes erschien ihr klobiger, aber er war vorhanden.

„Wer da?“, erscholl ein Ruf von der Spitze des Turmes.

Ein Wächter! Keyra wollte instinktiv antworten, doch ein Impuls des Schlüssels ließ sie verstummen. Er schien sie wegzuziehen, fort vom Molketurm. Okay, dann gebe ich mal Gas, dachte Keyra und ließ sich von ihrem Schlüssel leiten. Sie schlug sich hastig in die Büsche und lief dann in den Wald hinein. Einmal rief der Wächter noch, dann hörte sie ihn nicht mehr. Vielleicht hatte er sie für ein Tier gehalten, das durch den nächtlichen Wald streifte.

„Wunderbare Idee, nachts in den Wald zu rennen, wo ich mich überhaupt nicht auskenne, und ohne zu wissen, in welcher Zeit ich überhaupt gelandet bin“, murrte Keyra, an den Schlüssel gewandt. Mit dem seltsamen Artefakt zu reden, wurde zu einer schlechten Angewohnheit von ihr. Doch einen anderen Gesprächspartner hatte sie nicht. Als sie sich weit genug von dem Molketurm entfernt glaubte, blieb sie stehen. Ihre Augen hatten sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt, sodass sie eine kleine Bestandsaufnahme vornehmen konnte. Sie trug mehrere Röcke übereinander, eine Weste und hatte eine lederne Tasche umgehängt. In dieser ertastete sie zu ihrer großen Erleichterung ihr Wächterbuch. Allerdings war es zu dunkel, um darin zu lesen. Die Haare hatte sie unter einer Haube oder einem Kopftuch verborgen. So ganz kam sie nicht dahinter, was sie da auf dem Kopf hatte, wollte aber auch nicht zu sehr daran herumnesteln. Die Stoffe waren grob, ihr Unterkleid kratzte. Meine unbekannten Kostümbildner waren dieses Mal nicht sehr spendabel gestimmt. Was auch immer das zu bedeuten hat.

„Und wohin jetzt?“ Der Schlüssel hatte offensichtlich genug von seiner Zweitprofession als Navi und war wieder zu einem leblosen Stück Bergkristall geworden. Von ihm bekam Keyra keine Impulse oder Hinweise mehr. „Na, danke auch.“ Sie brummte unwirsch und setzte ihren Weg durch den Wald fort. „Statt mir mit Ben ein Spaghetti-Eis zu teilen, renne ich in der Nacht durchs Nirgendwo. Ich hasse das, echt.“

Während sie noch schimpfte, tauchten erleuchtete Fenster im Dunkeln zwischen den Bäumen auf. Okay, also hatte der Schlüssel seinen Job bereits erledigt. Schön, mach ruhig Feierabend. Ich kümmere mich um den Rest.

Vorsichtig näherte sich Keyra der Hütte, bis sie vor der schief gezimmerten Tür stand. Sie hörte Stimmengemurmel von drinnen. Dort waren mehrere Personen, die ganz sicher nicht schliefen. Sie überlegte, ob sie zunächst durch eins der Fenster ins Innere spähen sollte.

Während sie noch darüber nachdachte, flog die Tür auf. Vor dem hellerleuchteten Hintergrund erkannte Keyra lediglich die schwarze Silhouette eines breitschultrigen Mannes.

„Ah, da ist sie ja endlich!“, rief eine jugendliche Stimme – angenehm und melodisch, und seltsamerweise erfreut. „Die Flinke Clara ist zu unserem Chawwerusch gekommen!“

Schlüssel der Zeit - Band 4: Der Fuchs und der Räuber

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