Читать книгу Schlüssel der Zeit - Band 5: Antoniusfeuer - Tanja Bruske - Страница 8
2. Das Ordenshaus
ОглавлениеStaunend sah Keyra sich um, während sie Leo und Christopher in eine Eingangshalle mit hohen Decken folgte. Die Decke war mit Stuck verziert, mehrere Säulen hatten wohl eher einen dekorativen als stützenden Zweck. Vier Türen gingen von der Halle ab, eine breite Freitreppe führte ins nächste Stockwerk.
„Kommen Sie, Keyra – ich darf Sie doch Keyra nennen?“ Christopher winkte ihr zu, ihm zu folgen. „Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.“
„Ich freue mich auch, hier zu sein.“ Keyra ging hinter Christopher die Treppe hinauf, Leo blieb dicht hinter ihr. „Ehrlich gesagt, habe ich geglaubt, der Orden interessiere sich nicht sonderlich für mich, bis Leo aufgetaucht ist.“
„Da haben Sie einen völlig falschen Eindruck bekommen.“ Sie erreichten den ersten Stock und standen in einem langen, geraden Gang. Er war weiß getüncht, und an den Wänden hingen zahlreiche Rahmen. Während sie weitergingen, betrachtete Keyra fasziniert die vielen Urkunden, Stammbäume, historische Dokumente und alte Karten. Christopher fuhr fort: „Ich muss zugeben, dass es eigentlich so war, dass wir von Ihrer Existenz nichts wussten, bis Ihre Großmutter Clara uns kontaktiert hat.“
„Das verstehe ich nicht. Es muss dem Orden doch bekannt gewesen sein, dass meine Mutter verheiratet war und ein Kind hatte.“
„Das war es. Ich will es Ihnen gerne erklären.“ Christopher hielt vor einer massiven Holztür an, öffnete sie und machte eine einladende Geste. „Hier ist mein Büro. Bitte, kommen Sie herein.“
Das Zimmer, das Keyra nun betrat, war eines der bemerkenswertesten, in denen sie je gewesen war. Ein riesiger Eichenschreibtisch dominierte den Raum von der Mitte aus. Die polierte Arbeitsfläche war über und über mit ledergebundenen Büchern, Folianten und losen Pergamentschriftstücken bedeckt, sodass der Laptop, der auf der Tischplatte stand, wie ein kleiner, aggressiver Eindringling aus der Moderne wirkte. Die Wände waren ausnahmslos mit Regalen zugestellt. In den meisten davon standen Bücher – nicht nur alte Exemplare, auch neuere Bände. Keyra erkannte geschichtliche Fachliteratur, physikalische Abhandlungen und klassische Romane.
Andere Regale waren mit merkwürdigen Apparaturen verschiedenster Zwecke gefüllt. Keyra erkannte unter anderem einen Sextanten, ein urtümliches Mikroskop, eine Laterna Magica, eine kleine Truhe und eine Porzellanpuppe in einem Biedermeierkleidchen. Vor einem zweiflügeligen Fenster stand ein Globus, der Keyra bis zur Brust reichte und in einem Holzgestell befestigte war. Von der Decke hingen ein hölzerner Käfig mit einem ausgestopften Vogel und das Modell von Leonardo da Vincis Flugmaschine. Über dem Schreibtisch war an der Decke die Schnitzerei der sich in den Schwanz beißenden Schlange in die Holzdecke eingelassen. Keyra kam sich vor wie in einem Antiquitätenladen.
„Setzt euch bitte“, sagte Christopher und wies auf zwei Ledersessel vor dem Schreibtisch. Er ging zu einem Teewagen und nahm eine Kanne und eine Tasse in die Hand. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Keyra?“
„Nein, danke, ich trinke keinen Kaffee“, sagte sie und ließ sich auf den angebotenen Sessel sinken. Der Sitzbezug knirschte, und sofort stieg ihr der Lederduft in die Nase. „Wenn Sie einfach ein Glas Wasser für mich hätten, Herr Custos?“
„Bitte, nennen Sie mich Christopher.“ Er schenkte aus einer Kristallkaraffe Wasser in ein schmales Glas ein, gab es Keyra, reichte Leo einen Kaffee und setzte sich schließlich selbst in einen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. „Wir haben einiges zu besprechen.“
„Das stimmt. Verraten Sie mir, warum Sie von meiner Existenz nichts wussten?“
Christopher lachte leise. „Nun, wir wussten natürlich, dass Clara eine Enkelin hat. Aber wir sind davon ausgegangen, dass Ihnen die Gabe nicht vererbt wurde.“
„Die Gabe durch die Zeit zu reisen, meinen Sie?“ Keyra nippte an ihrem Wasser. „Wie kamen Sie darauf?“
„Normalerweise zeigt sich diese Gabe recht früh. Wir hatten allerdings nicht bedacht, dass Sie niemals Kontakt zu einem Schlüssel hatten, da ihre Mutter … nun ja, schon so lange verschwunden ist.“
Keyras Finger umklammerten das eiskalte Glas fester. Sie schwieg abwartend.
„Außerdem hatten Sie die Veranlagung nur von einer Seite geerbt. Wir waren deswegen sehr überrascht, von ihrer ersten, ungeplanten Reise zu hören.“
„Von meiner Großmutter?“
„Ja, sie hat uns informiert, ehe sie erkrankte.“
Keyra biss sich auf die Lippen. Ihre Großmutter war nach einem Streit mit ihr zusammengebrochen, und sie gab sich noch immer die Schuld dafür, dass Clara Schlosser nicht ansprechbar war und in der Seniorendependance in Marköbel untergebracht werden musste. „Sie konnte mir nicht viel erzählen. Nur, dass ich eine Zeitwächterin bin und Dinge in der Vergangenheit in Ordnung bringen soll.“
Christopher und Leo tauschten einen raschen Blick. „Das ist richtig“, sagte Christopher. „Und um Sie dafür zu trainieren, stellt Ihnen der Orden einen Mentoren zur Seite. Er ist, wenn Sie in der Vergangenheit sind, Ihre Verbindung zur Gegenwart.“
„Durch das Wächterbuch – das habe ich auf dem Weg hierher erfahren.“ Keyra hatte das Gefühl, dass da etwas war, das ihr Christopher verschwieg. Sie fasste an ihre Kette und holte den Kristallschlüssel hervor, der bislang in ihrem Ausschnitt verborgen gewesen war.
Christophers Augen leuchteten auf. „Claras Schlüssel. Ich habe ihn lange nicht gesehen.“
„Leo sagte, dass der Schlüssel meiner Großmutter gehörte.“ Keyra strich über das glatte Bergkristall.
„Das stimmt, aber sie hat ihn seit einigen Jahren nicht mehr benutzt.“ Christopher verschränkte die langen, schmalen Finger und stützte sein Kinn darauf. „Clara ist das letzte Mal gereist, kurz bevor Ihre Mutter verschwand. Dann hat sie den Schlüssel abgelegt.“
Keyra machte große Augen. „Geht das?“
„Sicher. Aber der Orden war natürlich nicht begeistert.“ Christopher hob die Schultern. „Wichtige Aufgaben blieben hierdurch unerfüllt. Aber Clara wollte für Sie da sein und nicht riskieren, dass ihr dasselbe zustieß, wie Ihrer Mutter.“
„Wer entscheidet denn, welche Aufgaben ein Zeitwächter wann zu erledigen hat?“ Keyra ließ den Schlüssel los, sodass er nun offen auf ihrer Brust hing. „Der Orden?“
„Nein. Das ist … eine diffizile Angelegenheit.“ Christopher zögerte. „Der Schlüssel gibt das Signal; er weiß immer, wann es Zeit ist, etwas zu korrigieren. Der Orden kann nur versuchen, den Zeitwächter darauf vorzubereiten, stets einsatzbereit zu sein, und ihn aus der Gegenwart heraus unterstützen.“
Keyra lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Da sind so viele Sachen, die ich nicht verstehe. Woher kommen die Schlüssel? Stellt der Orden sie her?“
Neben ihr prustete Leo los, als hätte sie einen guten Witz gemacht.
Christopher schaute ihn strafend an. „Das ist eine berechtigte Frage. Keyra kann nicht wissen, welche Funktion der Orden hat. Nein“, er wandte sich wieder Keyra zu, „der Orden ist bei weitem nicht so alt wie die Schlüssel. Sie sind viele hundert Jahre alt.“
Keyra klappte der Mund vor Staunen auf.
„Die Entstehung der Schlüssel geht auf eine Frau namens Maria Prophetissa zurück. Sie war der Überlieferung nach Jüdin und lebte zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert in Alexandria. Sie gilt als Begründerin der Alchemie und war die bedeutendste Alchemistin der Antike und zudem Erfinderin. Sie erforschte etwas, das sie Tempus-Energie nannte.“
„Tempus wie lateinisch Zeit?“
„Ganz genau.“ Christopher nickte. „Diese Energie sammelt sich in bestimmten Objekten an, die Auswirkungen auf den Verlauf der Geschichte haben – sei es im Kleinen oder im Großen. Wir wissen heute nicht mehr genau, wie, aber es gelang ihr, diese Energie abzuzapfen und in die Schlüssel zu konzentrieren. So entstanden die Zeitschlüssel und andere Gegenstände, wie das Wächterbuch.“
„Wahnsinn“, hauchte Keyra.
„Maria fand allerdings heraus, dass es gefährlich war, diese Tempus-Objekte zu entfernen, weil das die Zeit aus dem Gleichgewicht bringen kann. Sie gründete den Orden der Zeitwächter, um genau das zu verhindern.“
„Moment: Es geht bei den Zeitreisen also immer um solche Tempus-Objekte?“, fragte Keyra.
„Nicht immer, aber meistens. Wenn Sie sich an Ihre eigenen Reisen erinnern, war gewiss oft ein Gegenstand damit verknüpft, oder?“
Keyra überlegte. „Die Urne in Wilhelmsbad – oder die Urkunde in Rüdigheim. Bei der Sache in Langenbergheim bin ich nicht ganz sicher, aber in Bad Orb könnte es Peters Fuchspfeife gewesen sein …“
„Und Ihre Aufgabe war stets erledigt, wenn Sie diese Gegenstände wieder an ihren rechtmäßigen Ort zurückgebracht haben, oder?“
Keyra nickte, schüttelte aber dann den Kopf. „Aber die Urne wurde später dennoch gestohlen!“
Wieder wechselten Christopher und Leo einen Blick, und Keyra hatte erneut das Gefühl, dass die beiden ihr etwas verschwiegen.
„Aber nicht zu dem Zeitpunkt, an dem du da warst und an dem der Diebstahl nicht vorgesehen war“, sagte Leo. „Wichtig ist, dass am Ende deiner Reise alles im Lot ist. Auch das funktioniert nicht jedes Mal. Du musst es trotzdem immer wieder versuchen.“
Keyra kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Wie konnte Maria solche Dinge herausfinden?“
Christopher seufzte. „Vieles verstehen wir auch nicht. Einiges ist im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Technisch sind einige Gegenstände, die wir von Maria erhalten haben, so weit entwickelt, dass einige Ordensmitglieder glauben, Maria sei selbst eine Zeitreisende gewesen und aus ferner Zukunft gekommen – dass sie irgendwie im alten Ägypten festsaß. Aber dafür gibt es keine Beweise.“
„Kann man denn nicht in die Zukunft reisen und nachfragen?“
„Nein – die Portale führen nur in die Vergangenheit und an den Ausgangsort der Reise. Und die Reisen steuert der Schlüssel, nicht der Wächter.“
Keyra deutete nach oben, auf die Schlangen-Schnitzerei. „Und was hat das zu bedeuten?“
„Maria hat den Ouroboros als Symbol des Ordens ebenso eingeführt wie den Wahlspruch ‚Hen to pan‘ – eins ist alles. Er ist ein Symbol der kosmischen Einheit. Wir glauben, dass er dafür steht, dass die Zeit im Gleichklang bleiben muss.“
Keyra zog die Stirn kraus. „Aber was bringt die Zeit ins Ungleichgewicht? Ich meine: Ja, ich habe verstanden, dass es geschieht, wenn so ein Tempusobjekt nicht da bleibt, wo es hingehört. Aber dann muss es durch irgendwelche äußeren Einflüsse bewegt werden.“
Christopher schürzte die Lippen. Keyra wartete darauf, dass er eine Erklärung abgab. Als er das nicht tat, setzte sie nach, weil sie eine Ahnung hatte: „Was ist Ihre Aufgabe, Christopher? Was tut ein Schlüssel-Hüter? Und wie viele Schlüssel gibt es überhaupt?“
Leo stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich habe ja gesagt, Keyra stellt viele Fragen. Vielleicht sollten wir …“
„Leopold!“, unterbrach Christopher warnend.
„Aber ich denke wirklich, dass …“
Christopher sprang auf, und der Sessel rutschte quietschend zurück. „Wir sollten uns kurz unter vier Augen unterhalten. Entschuldigen Sie uns, Keyra.“
Verblüfft sah Keyra dem Schlüssel-Hüter und ihrem Mentor nach, die eilig das Büro verließen. Was ist denn in den gefahren? Habe ich einen wunden Punkt getroffen?
Sie saß eine Weile da und nippte an ihrem Wasser. Dann stand sie auf und sah sich in dem Büro um. Sie betrachtete zunächst den Globus. Die Kontinente waren seltsam roh geformt, gelb und braun waren die vorherrschenden Farben. Es war ein wirklich beeindruckendes Stück, und Keyra fragte sich, ob es ein Original oder eine Reproduktion war.
Das Regal mit den antiken Gegenständen zog sie magisch an. Vor jedem Gegenstand befand sich ein kleines Kärtchen, auf dem der Zweck und die Herkunft des Objektes beschrieben waren. „Porzellanpuppe von 1843 aus dem Besitz von Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern“, las Keyra und bekam große Augen. „Die Puppe gehörte Sissi! Witzig. Ob das Tempus-Objekte sind?“
Sie nahm das Kärtchen, das vor einer kleinen hölzernen Truhe stand. Sie war sehr einfach gefertigt, aus dunkelbraunem Holz. „Truhe aus dem Antoniterkloster zu Roßdorf, circa 1500.“ Keyra schnalzte mit der Zunge. „In Roßdorf gab es ein Antoniterkloster?“
Im nächsten Moment begann ihr Schlüssel zu vibrieren und das kirschkerngroße, silbrig-glänzende Schloss an der Truhe fing an zu singen.
„Das ist nicht dein Ernst!“, stöhnte Keyra. „Jetzt? Ausgerechnet jetzt?“ Sie warf einen hilfesuchenden Blick zur Tür, doch natürlich tauchten Christopher und Leo in diesem Moment nicht wieder auf.
Keyra wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie ergriff den Schlüssel, der sanft golden leuchtete. Sofort verwandelte er sich in ein kleines Schlüsselchen, das problemlos in das winzige Schloss der Truhe passen würde. „Na schön“, grummelte Keyra. „Also los.“
Sie nahm die Truhe aus dem Regal und steckte den Schlüssel in das Schloss. In dem Moment, als das mittlerweile vertraute goldene Licht sie umfing, verlor sie die Besinnung.