Читать книгу Schlüssel der Zeit - Band 5: Antoniusfeuer - Tanja Bruske - Страница 9
3. Die Hebamme und der Ordensbruder
ОглавлениеAls Keyra aufwachte, war es überhaupt nicht so, wie es immer in Filmen und Romanen beschrieben wurde. Es war kein langsames Auftauchen aus der Dunkelheit der Bewusstlosigkeit. Es gab keine verwaschenen Stimmen, die langsam deutlicher wurden. Keyra war mit einem Schlag hellwach.
Sie riss die Augen auf und starrte an eine Holzdecke und lehmverputzte Wände. Ruckartig setzte sie sich auf – und bereute es sofort, denn ihr wurde schwindlig.
„He, nicht so schnell!“ Eine junge Frau eilte an ihre Seite und stützte Keyra, sodass sie nicht mit einem satten Klatschen zurück auf ihr Lager fiel. Das wäre gewiss nicht angenehm gewesen, denn Keyras Bett bestand aus einer harten Pritsche mit einer strohgestopften, dünnen Matratze. Keyra blinzelte und bemühte sich, nicht allzu klischeemäßig zu klingen, als sie fragte: „Wo bin ich?“
WANN bin ich?
„Ganz ruhig, Mädchen, du bist in Sicherheit. Du bist im Kloster des Heiligen Antonius in Roßdorf.“
Damit hatte ich fast gerechnet. „Und wie komme ich hierher?“ Keyra hoffte, dass es keine allzu dumme Frage war. Normalerweise wurde sie durch das Schloss gesogen und tauchte an der gleichen Stelle wieder auf. Da sich das Schloss dieses Mal in einer Truhe befunden hatte, ging sie davon aus, dass sich die Truhe irgendwo in der Nähe befand. Schließlich hatte sie – laut Infokärtchen – einst diesem Kloster gehört.
„Ich habe dich hierher gebracht.“ Die junge Frau lächelte Keyra beruhigend an. Sie war ein paar Jahre älter als Keyra, vielleicht Anfang 20, hatte weizenblonde Haare und eine helle Haut mit Sommersprossen. Am auffälligsten waren ihre leuchtend grünen Augen. „Mein Name ist Martha. Ich bin die Hebamme des Ortes und helfe den Antonitern hin und wieder im Spital aus. Als ich auf dem Weg hierher war, habe ich dich bewusstlos im Feld gefunden, am Rande der Straße, die nach Hanau führt. Bist du überfallen worden?“
„Ich weiß es nicht.“ Ah, die gute alte Amnesie-Lüge. „Ich … äh … hatte ich etwas bei mir?“ Eine Truhe zum Beispiel?
Martha griff nach einer Leinentasche, die neben dem Bett auf einem Schemel lag. „Diese Tasche.“
„Danke!“ Keyra griff nach der einfachen, sackähnlichen Tasche, die tatsächlich wie diejenige aussah, die sie bereits einige Male in der Vergangenheit bei sich gehabt hatte. Ich habe immer noch nicht gefragt, wer mich eigentlich umzieht und ausstattet. Sie spähte in die Tasche hinein. Zu ihrer Erleichterung sah sie ihr Wächterbuch, außerdem einen Brief und ein paar Wäschestücke. Eine Geldbörse konnte sie nicht entdecken.
„Was hatte ich denn an?“, fragte sie und sah an sich hinab. Momentan trug sie nur ein langes Unterkleid, das man Chemise nannte.
„Ich habe deine Sachen hier hingelegt“, sagte Martha. Ihre sanfte Stimme beruhigte Keyra, die sich orientierungslos und unwohl fühlte. „Weißt du deinen Namen?“
„Hm … Clara?“ Keyra hatte sich bereits daran gewöhnt, dass der Name ihrer Großmutter häufig ihren Tarnnamen darstellte.
Martha lachte. „Das klingt wie eine Frage, du bist dir also nicht ganz sicher, was? Na, Kopf hoch! Deine Erinnerung wird bald wiederkommen.“
Die Tür öffnete sich und ein junger Mann in einer schwarzen Kutte kam herein. Als er sich Keyra zuwandte, sah sie ein blaues, t-förmiges Kreuz, das im Brustbereich der Kutte aufgenäht war. „Ich sehe, dein Schützling ist aufgewacht“, sagte er und lächelte. Auch er war wohl nicht viel älter als Keyra, vielleicht in Marthas Alter. Er trug eine Tonsur in seinen braunen Haaren und hatte ein freundliches, rundes Gesicht, in dem fröhliche dunkle Augen blitzten.
„Gerade eben“, bestätigte Martha. „Das ist Severin, der Hospitalarius des Klosters. Er ist für alle Kranken im Hospital verantwortlich.“
„Das sind momentan nicht viele, dem Herrgott und dem Heiligen Antonius sei gedankt“, sagte Severin und schlug ein Kreuz. Diese Geste kam Keyra keineswegs übertrieben oder betont fromm vor – es geschah eher nebenbei und wirkte wie eine liebgewonnene Gewohnheit. „Deswegen haben wir genug Platz, um dir einen eigenen Raum zu geben, Mädchen. Wir wollten dich nicht zu den Siechen legen, denn krank bist du offenbar nicht. Was ist dir zugestoßen?“
„Sie glaubt, sie heißt Clara, aber sie kann sich nicht an viel erinnern“, antwortete Martha für sie.
„Hat sie vielleicht einen Schlag auf den Kopf bekommen?“ Severin zog fragend die Augenbrauen nach oben.
„Das ist möglich, sie hat jedoch keine schweren Kopfverletzungen, die darauf hindeuten. Ich würde sagen, sie hatte so etwas wie einen Schwächeanfall.“
Keyra mochte es nicht, dass die beiden so über sie redeten, als sei sie gar nicht da. „Ich glaube, es geht mir schon wieder ganz gut“, sagte sie. „Vielleicht brauche ich nur etwas Schlaf – ich fühle mich sehr erschöpft.“
„Natürlich, Mädchen“, sagte Martha sofort. „Du solltest dich etwas ausruhen.“
„Dann lassen wir dich jetzt alleine“, kündigte Severin an. „Martha, ich wollte dich ohnehin holen, weil du nach unserem Gast Mathis sehen sollst. Sein Fieber ist gestiegen.“
Martha runzelte die Stirn. „Das sollte nicht geschehen. Ich habe ihm extra …“ Während die beiden redeten, schienen sie Keyra völlig zu vergessen und verließen den Raum. Keyra wartete einen Moment, ehe sie nach der Tasche griff und das Wächterbuch hervorholte. Nach etwas Wühlen fand sie zudem ein Stück Kohle, das sie zum Schreiben benutzen konnte – Federkiel und Tinte hatte sie derzeit nicht zur Hand.
Kaum hatte Keyra das Buch aufgeschlagen, erschien Leopold von Wachtbergs akkurate Schrift: Der Antoniter-Orden, auch Antoniusorden, Antonier oder Antonianer, war ein christlicher Hospitalorden. Er wurde 1095 als Laienbruderschaft in St.-Didier-la-Mothe in der Dauphiné in Südostfrankreich gegründet und ist nach Antonius dem Großen benannt. Dies war ein christlicher ägyptischer Mönch, Asket und Einsiedler. Er wird unter anderem auch als Antonius der Einsiedler und „Vater der Mönche“ bezeichnet und häufig als Lehrer dargestellt. Er ist nicht zu verwechseln mit anderen Heiligen gleichen Namens, wie dem Heiligen Antonius von Padua.
Die Aufgabe des Ordens war die Pflege und Behandlung von Kranken, die am „Antoniusfeuer“ litten, einer im Mittelalter in Europa weit verbreiteten Krankheit.
Das Stammkloster des Ordens befindet sich in Saint Antoine l’Abbaye, wo der französische Adlige Gaston den Orden als Dank für die Heilung seines Sohnes vom Antoniusfeuer mit Hilfe der dort befindlichen wundertätigen Reliquien des Heiligen Antonius gestiftet haben soll. Das erste Antoniterkloster auf deutschem Boden wurde um 1190 in Roßdorf gegründet; die Generalpräzeptorei wurde 1441 nach Höchst am Main verlegt …
Keyra strich hastig dreimal mit der flachen Hand über die Seite und griff nach dem Kohlestift. „Leo, Stopp!“, schrieb Keyra in das Buch, ein gutes Stück unter die letzten Zeilen. Die Schrift verharrte. Es funktioniert, dachte Keyra begeistert.
„Kannst du mir erst einmal sagen, in welchem Jahr ich mich überhaupt befinde?“, kritzelte sie und hoffte, dass Leo ihre Schrift lesen konnte; mit Kohle schrieb es sich nicht eben elegant.
6. September 1502, kam die prompte Antwort. Dann, nach kurzem Zögern: Geht es dir gut?
„Ich war bewusstlos, als sie mich fanden, fühle mich aber fit. Irgendeine Alibi-Geschichte?“
In deiner Tasche müsste ein Brief sein, der dir weiterhilft. Du musst ihm dem Procurator geben, aber du darfst das Siegel vorher nicht brechen!
„Okay – sonst noch was für den Moment?“ Da fiel ihr selbst etwas ein. „Halt! Wenn das Kloster 1441 verlegt wurde und ich mich im Jahr 1502 befinde – warum bin ich dann im Kloster?“
Roßdorf war den Antonitern weiter wichtig, auch wenn viele Brüder abgezogen und die Reliquien und Altäre verlegt wurden. Es ist 1502 noch ein wichtiger Standort.
„Na schön. Gut zu wissen“, sagte Keyra laut, nachdem Leo keine weiteren Anstalten machte, sich zu äußern. Sie schwang die Beine über die Bettkante, stand auf und zog sich um. Das Kleid war ein sackähnliches Gebilde aus grobem, hellem Stoff. Kann ich nicht auch mal die Kleider einer Adligen bekommen?
Nachdem sie sich angekleidet hatte, griff sie in die Tasche und zog den Brief hervor. Er war tatsächlich versiegelt. Das Siegel war etwa so groß wie der Boden einer Kaffeetasse: ein rotes Oval mit einem schwarzen Rahmen und einem blauen T mit Serifen. Sie steckte Brief und Wächterbuch sorgsam zurück in die Tasche.
„Schön. Dann werde ich mich mal umsehen.“
Sie hängte sich die Tasche um und öffnete vorsichtig die Tür. Niemand war auf dem kleinen Gang zu sehen. Leise schlich sie hinaus und in den Gang hinein. Es herrschte Stille. Vielleicht waren in diesem Gebäude Kranke untergebracht, die schliefen. Keyra öffnete eine Tür am Ende des Ganges und blinzelte in helles Sonnenlicht. Vor ihr erstreckte sich das Gelände des Klosters. Sie hatte erwartet, etwas Ähnliches wie in der Rüdigheimer Kommende vorzufinden, aber dieses Kloster hatte eher etwas von einem Gutshof an sich: Ihr gegenüber erhob sich ein zweistöckiges Gebäude, zur Rechten erstreckte sich ein kleiner Kräutergarten. Links von dem Gebäude, aus dem sie getreten war, schloss sich ein weiterer, flacher Bau an; dahinter erhob sich eine Kirche von respektabler Größe. Dahinter schien es weiter zu gehen. Das ganze Gelände war von einer Mauer umgeben. Auf dem Hof liefen gackernde Hühner herum, und dazwischen tummelten sich Schweine, die kleine silberne Glöckchen um den Hals trugen.
Keyra hatte sich noch nicht an den unerwarteten Anblick gewöhnt, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie drehte sich um und sah sich einem dicken Mönch gegenüber. Er wirkte keineswegs so freundlich wie Severin: Sein Gesicht, das von einer breiten Knollennase dominiert wurde, war knallrot und die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen: „Na? Haben wir hier etwa eine Diebin?“