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Blitz-Feng-Shui

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Heute, am Anreisetag, passiert nichts. Um nicht weiter in Selbstmitleid zu verfallen, beschließe ich, mir den Kurort anzusehen. Ich bin entschlossen, nach vorne zu blicken. Im Flur begegnet mir meine Zimmernachbarin. Sie ist etwa in meinem Alter und hat ein unglaubliches Lächeln im Gesicht.

»Hallo, ich bin Tina. Bist du heute angekommen?«

Ich nicke verzagt. Sie scheint mir anzusehen, dass sich meine Begeisterung über diese Einrichtung bislang in Grenzen hält.

»Mach dir keine Sorgen, der Anfang ist hart, aber dann wird es toll. Ich bin in der Kur zu einem neuen Menschen geworden und genieße jeden einzelnen Tag!«

Okay, diese Worte und Tinas offenkundig gute Laune geben Anlass zur Hoffnung. Höflich stelle ich mich kurz vor und verabschiede mich dann schnell, weil ich mit so viel geballter Lebensfreude im Augenblick nicht umgehen kann. Auf dem Weg in den Garten begegnet mir der nächste Patient, ein sportlicher Typ, auch etwa in meinem Alter, und auch er strahlt mich mit einer unsagbaren Freude im Gesicht an. Er stellt sich als Olaf vor, wünscht mir alles Gute und versichert mir, dass ich den Aufenthalt hier sehr genießen werde. Ich habe schon wieder Wasser in den Augen und verabschiede mich auch von ihm ganz schnell, um nicht wieder weinen zu müssen. Obwohl diese Begegnungen mir in gewisser Weise Mut machen, habe ich noch kein großes Interesse daran, Kontakte zu knüpfen. Eigentlich möchte ich nur für mich sein. So wie schon die ganzen letzten Monate.

Nach dem Zusammenbruch ist es mir unglaublich schwergefallen, mich anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Anstatt gerade jetzt die Hilfe meiner Freunde anzunehmen, zog ich mich zurück. Die Nachricht meines Klinikaufenthaltes war für die Mehrzahl meiner Freunde ein großer Schock und kam für viele völlig überraschend, da ich mich kaum mitgeteilt habe, wenn es mir mal wieder schlecht ging. Das Bild der gut gelaunten und immer optimistischen Tanja sollte nach außen nicht bröckeln. Im Nachhinein hat das natürlich gar nicht geholfen. Denn wofür sind Freunde eigentlich da – wenn nicht auch in schlechten Zeiten?

Das Zentrum des Kurorts ist fußläufig in nur zehn Minuten zu erreichen. Alles ist gut ausgeschildert, sodass ich mich auf den Weg mache, um mein Ankommen etwas glücklicher zu gestalten. Der Weg führt durch einen wunderschönen Kurpark. Immer bergab. Es tut gut, bergab zu gehen, ganz ohne Anstrengung. Den Blick wieder für Neues öffnen, raus aus dem Alltag. Das ist es, was ich brauche. Neues erwartet mich auf jeden Fall. Merkwürdig, dass der Mensch per se immer Angst vor Veränderung hat. Was ist so schlimm an Veränderung? Neues/Veränderung löst immer das Alarmsystem im Körper aus, und spätestens dann meldet sich die Angst. Zumindest bei mir. Das führt natürlich dazu, dass ich am liebsten auf gewohnten Pfaden gehe. Nur, dass diese gewohnten Wege selten zu einem Ziel führen.

Für mich als Naturliebhaberin ist der Kurpark ein Augenschmaus. Palmen, Zedern, Oleander, seltene Kakteen, faszinierende Mammutbäume, Magnolien, Sumpfzypressen, heilsame Kräuter, Kastanienbäume und weit entfernt sind die Rebhänge in sonniger Lage zu entdecken. Was für ein wunderbarer Spaziergang in Richtung des kleinen Städtchens.

Der Ortskern der kleinen Stadt wirkt sehr einladend. Viele kleine Geschäfte reihen sich aneinander, und ich flaniere interessiert an den Schaufenstern vorbei. An einer Buchhandlung mache ich Halt. Ein neues schönes Buch. Das brauche ich. Lesen hat mich in den letzten Monaten gerettet. Für einen kurzen Moment in eine heile Welt eintauchen. Ablenkung pur vom Traurigsein, von der Angst. Gerade nachts. Wenn die Unruhe auftaucht, die Angst, Licht an und lesen. Von Menschen und ihren Träumen. Und immer mit Happy End! So wie hoffentlich auch im wahren Leben. Lesen gilt ja als eine der höchsten Formen der Entspannung, Eskapismus nennen das Leseforscher. Eine gezielte Flucht aus dem wahren Leben, das nun nicht immer so ist, wie man es gern hätte. Von daher glaube ich, dass die Taktik, nachts Bücher zu lesen, bewusst oder unterbewusst ein gutes Tool ist, den nächtlichen Wahnsinn zu unterbrechen.

»Guten Tag, können Sie mir eine Empfehlung für ein Buch geben? Bitte nicht zu schwere Kost und trotzdem mit Tiefgang, mit ganz viel Herz und einer großen Portion Humor. Das Happy End ist wichtig!«

Die Buchhändlerin schaut mich freundlich an.

»Warten Sie, da habe ich ein wunderbares Buch für Sie. Es hat Tiefgang, Humor, erzählt vom Ausbrechen aus dem Alltag, vom Mutigsein, es hat ein Happy End und es macht glücklich.«

»Genau so ein Buch brauche ich jetzt.«

»Es ist Die Mondspielerin von Nina George, und ich bin sicher, es wird Ihnen beim Lesen Freude bereiten. Machen Sie hier Urlaub? Wie lange sind Sie denn schon hier?«

»Nicht ganz. Ich bin hier zur Kur. Ich bin heute erst angekommen.«

»Und, wie gefällt es Ihnen?«

»Fragen Sie besser nicht.« Schon schießen mir wieder die Tränen in die Augen, und ich erzähle der sympathischen Buchhändlerin kurzerhand von meinem unglücklichen Start in der Rehaklinik und vor allem von meinem fürchterlichen Zimmer.

»Warum machen Sie in dem Zimmer nicht einfach Blitz-Feng-Shui?«

»Blitz-Feng-Shui?«

Ich glaube an die Wirkung von Feng-Shui, und ein sehr enger Freund von mir praktiziert bei jedem Umzug bei uns zu Hause energetisches Feng-Shui. Er räuchert alle Räume mit weißem Salbei aus, bevor wir einziehen, um Altes zu bereinigen und Platz für Neues zu schaffen. Aber Blitz-Feng-Shui habe ich bis dato noch nicht gehört.

»Was muss ich beim Blitz-Feng-Shui tun?«

»Das ist einfach. Befreien Sie das Zimmer von allem, was Ihnen nicht zusagt. Wischen Sie alles in dem Zimmer ab. Tür, Fenster, Boden, Schränke – einfach alles einmal abputzen. Befreien Sie die Möbel vom ›Alten‹! Öffnen Sie danach weit das Fenster, damit die alte Energie rauskann. Kaufen Sie sich bunte, große Tücher und hängen diese in den Ecken des Zimmers auf, stellen Sie frische Blumen auf die Fensterbank, kaufen Sie sich einen Bergkristall und platzieren Sie ihn auf dem Nachttisch, hängen Sie Fotos von lieben Menschen oder selbst gemalte Bilder an die Wände. Holen Sie sich ein Raumspray mit ätherischen Ölen, welches Ihnen zusagt, und zum Schluss segnen Sie Ihr Zimmer. Ich verspreche Ihnen, Sie werden einen Unterschied wahrnehmen.«

Ich verlasse die Buchhandlung geradezu euphorisch. Diese Inspiration macht mir Mut und lässt die Hilflosigkeit, in diesem Zimmer für die nächsten fünf Wochen ausharren zu müssen, verschwinden. Ich kann und werde etwas ändern. Handeln. Auch wenn die äußeren Bedingungen sich nicht verändern, bin ich trotzdem nicht hilflos. Ich suche nach einer Lösung. Was für eine wunderbare Erfahrung.

Bei Stress sofort hilflos zu sein, ist ebenfalls ein Muster, das ich in den letzten Jahren entwickelt habe. Ich fühle mich dann hilflos wie ein kleines Kind, und es fällt mir schwer, aktiv zu werden und nach Lösungen zu suchen. Meine Hilflosigkeit in stressigen Situationen führt zu Lethargie und dazu, dass ich rund um die Uhr jammere. Ein Muster, welches sich immer wieder wiederholt: Stress – Hilflosigkeit – Verzweiflung – Rückzug – Angst. Einfach nur schrecklich. Schluss damit!

Ich werde also aktiv und suche mir die notwendigen Utensilien für mein persönliches Blitz-Feng-Shui in den verschiedensten Läden zusammen. Die Buchhändlerin hat mir netterweise gleich mitgeteilt, wo ich alles finden kann. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für diese Begegnung.

Zurück in der Klinik betrete ich mein Zimmer und lege los. Zuerst einmal entscheide ich, welche Möbel ich nicht brauche. Ich stelle den riesengroßen gelb-beigen Ohrensessel auf den Flur. Zu ihm gesellen sich die bleischweren Vorhänge (inklusive mindestens zwei Kilo feinsten Staubs), eine alte Stehlampe in Gold sowie sämtliche Bilder, die an der Wand hängen. Alle Utensilien stelle ich in die hinterste Ecke des Hausflures, und dabei entgehen mir natürlich nicht die Blicke einzelner vorbeilaufender Patienten. Aber in diesem Fall ist es mir ziemlich egal, wer gerade was über mich denkt! Getreu dem kölschen Lied von den Domstürmern Mach dein Ding, dingeling ziehe ich meine Blitz-Feng-Shui-Aktion durch.

Der erste Teil ist geschafft. Übrig bleiben eigentlich nur das Bett aus schwerem dunkelbraunen Holz, gefühlt aus dem 18. Jahrhundert, ein kleines Nachtschränkchen sowie ein Schreibtisch. Links neben der Tür befindet sich ein Einbauschrank, den ich natürlich nicht rausstellen kann. Aber für mich steht jetzt schon fest, dass keines meiner Kleidungsstücke darin verstaut wird. Wenn man die Türen des Schranks öffnet, kommt dieser spezielle muffige Geruch zum Vorschein, den man von alten Schränken kennt. Nein, da lebe ich lieber fünf Wochen lang aus dem Koffer.

Jetzt beginnt die Putzaktion. Zu Hause gehört Putzen zu den Tätigkeiten, die ich wirklich nicht leiden kann. Mit zwei kleinen Kindern kann man putzen und putzen, und spätestens am Nachmittag desselben Tages sieht niemand mehr, dass man Stunden mit Aufräumen und Saubermachen verbracht hat. Alles ist wieder so unordentlich und dreckig wie vorher. Also putzt man am nächsten Tag wieder. Ohne den Sinn darin zu sehen und vor allem ohne jemals ein Dankeschön dafür zu bekommen, dass man alles sauber hält. Da finde ich es recht menschlich, als Mama die Frage zu stellen: Warum putze ich überhaupt noch?

In seinem Übungsbuch Friede mit jedem Atemzug schlägt der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh vor, sich beim Putzen der Küche folgenden Meditationstext immer wieder vorzusagen: »Ich säubere diesen frischen, stillen Raum. Unbändige Freude und Energie steigen in mir auf.« Ganz ehrlich, so viel Prosecco kann ich gar nicht trinken, um diese unbändige Freude und Energie beim x-ten Mal Küche putzen aufkommen zu lassen. Diese Meditation ist eine Zumutung für jede Hausfrau. Da nehme ich doch lieber folgende Tipps für Mütter im Dauerstress an, die ich vor Kurzem in einem Familienplaner gelesen habe:

»Dein Haus wird nie wie eines in den Hochglanzmagazinen aussehen. Niemals!

Unordnung macht dein Zuhause erst so richtig gemütlich.

Eines Tages wird dir das alles lustig vorkommen.

Einatmen. Ausatmen.«

Dieses »Hausfrauen-Mantra« entspricht hundertmal mehr der Realität von uns Müttern als irgendwelche Mantras, die von weisen Männern geschrieben wurden, die gar nicht erahnen können, was der Alltag mit Kindern bedeutet. Für mich steht sowieso fest, wenn ich aus dieser Sache hier heil rauskomme und hoffentlich irgendwann wieder mein eigenes Geld verdiene, gibt es als Erstes eine Putzfrau.

Hier allerdings macht es mir Spaß zu putzen. Weil ich ein Ziel vor Augen habe: ein schöneres Zimmer, das mir niemand in drei Stunden wieder schmutzig machen wird. Ich wische also wie eine Verrückte alles ab. Sämtliche Bodenflächen, Türklinken, Fensterbänke, das Bett, den Schreibtisch, alles, was zu wischen ist, wird von mir sauber gemacht. Dann öffne ich die Balkontür und stelle mir vor, wie sämtliche alte Energie den Raum verlässt. Gutes Gefühl!

Weiter geht es mit dem Dekorieren. Vier Tücher in knalligen Farben habe ich gekauft, welche ich in allen Ecken des Zimmers aufhänge. Ich suche im Koffer nach den Fotos meiner Kinder sowie den selbst gemalten Bildern meiner Tochter und hänge sie über mein Bett. Auf die große Fensterbank stelle ich eine kleine Vase mit frischen Blumen und platziere daneben zwei kleine Bergkristalle. Als letztes Blitz-Feng-Shui-Ritual verbreite ich den frisch-fruchtigen Duft eines naturbelassenen Raumsprays und segne das Zimmer. Jetzt kann ich eigentlich nur noch beten, dass mein Blitz-Feng-Shui hilft. Rein optisch wirkt das Zimmer zumindest schon mal freundlicher als vorher, und das ist ja für den Anfang schon was.

Heute steht nur noch das Abendessen auf dem Programm. Außer den regelmäßigen Mahlzeiten findet die nächsten vier Tage gar nichts statt. Ich kann das einfach nicht fassen. Ohne Programm werde ich hier eingehen wie eine Primel. Ich bin doch nicht in Kur, um Urlaub zu machen. Ich will Anwendungen, Kurse, Therapiestunden – ich will vorwärtskommen und mich ganz sicher nicht langweilen.

Am liebsten würde ich für die vier Tage wieder nach Hause fahren. Wenn hier doch eh nichts passiert. Aber natürlich ist das nicht erlaubt. Laut der Klinik hat das »Nichtstun« seinen Sinn. Bei sich ankommen! Bullshit! Nichts fühlt sich bei mir wie ankommen an, und vier Tage ohne Beschäftigung sind für den Start der Kur echt harter Tobak. Ich kenne hier niemanden, habe ein Zimmer, das nach wie vor nicht zum Verweilen einlädt, und keine Lust auf Nichtstun. Ich will beschäftigt sein und will Lösungen aufgezeigt bekommen, wie ich nach fünf Wochen wieder zu Hause bestehen kann. Sofort!

Es nützt aber alles nichts. Was hat meine Therapeutin in Köln mir noch vorher geraten? »Lassen Sie es sich gut gehen. Machen Sie genau das, worauf Sie Lust haben!«

Es stellt sich nur die Frage: Worauf habe ich überhaupt Lust? Was brauche ich jetzt, damit es mir gut geht oder damit ich mich besser fühle? Ich kann es nicht beantworten. Ich habe verlernt, in mich hineinzuhören. Ich habe es verlernt, meinen eigenen Bedürfnissen zu folgen, geschweige denn zu erkennen, welche Bedürfnisse ich habe. Ich stehe neben mir, und in mich hineinhören führt nur zu Verzweiflung, Traurigkeit und Angst. Da bin ich lieber beschäftigt. Zumindest fürs Erste!

Sport und Natur sind für mich von jeher eine Garantie fürs Glücklichsein gewesen. Das funktioniert immer, obwohl ich beides lange Zeit vernachlässigt habe. Nach der Geburt meiner Tochter habe ich mit dem Sport komplett aufgehört. Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, warum. Es ist einfach passiert. Gut, dass ich Abschied vom Handball genommen habe, ist noch vernünftig zu erklären. Mit Mitte dreißig darf man sich von seinem Sport verabschieden, den man fast zwölf Jahre lang mehr oder weniger hochklassig gespielt hat. Aber zumindest Joggen sollte eigentlich sechs Monate nach einer Geburt wieder drin sein.

Joggen im Wald gehörte immer zu meinen Kraftquellen. Ruhe und Bewegung, wunderbar. Jahrelang bin ich teilweise noch vor der Arbeit Joggen gegangen. Bis heute bin ich meinem Vater dankbar dafür, dass er mir schon als kleines Kind die Freude am Sport vorgelebt hat. Er ist sportlich gesehen immer mein Vorbild gewesen. Es ist, als ob jemand mit der Geburt meiner Tochter »Löschen des Sportprogramms« gedrückt hat und ich vergessen habe, etwas für mich zu tun. Spazieren gehen, klar. Aber mehr Bewegung gab es plötzlich nicht mehr. Mein Gehirn sendete immer: Hilfe, ich bin so müde. Kein Wunder, wenn das Kind mich nachts bis zu fünfmal geweckt hat. Und ich habe meinen Gedanken artig geglaubt, anstatt gerade dann zu sagen: Egal, ich bewege mich, und danach werde ich mich besser fühlen. Das wäre wahrscheinlich die bessere Taktik gewesen.

In seinem Buch Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei nennt Russ Harris dieses Phänomen einen Mangel an Bereitwilligkeit. Bereitwilligkeit ist wesentlich, weil sie die einzige effektive Weise ist, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Und er betont weiterhin, wie wichtig es ist, die eigenen Werte und Ziele schwarz auf weiß aufzuschreiben. Nichts davon habe ich getan. Es ist mir zwar stets bewusst gewesen, dass mir die Bewegung fehlt, ich habe jedoch keinen Weg gefunden, die Bewegung in meinen Alltag zu integrieren. Und das hat mich unzufrieden gemacht.

Nun gut, jetzt habe ich die Chance, meinem Leben wieder eine gute Richtung zu geben und sollte meinem Glaubenssatz, dass Sport mich glücklich macht, wieder mehr Achtsamkeit schenken. Ich habe jetzt Zeit und befinde mich in einem wunderschönen Naturgebiet, wo es zum Glück tolle ausgeschilderte Wanderwege gibt. Also, Laufschuhe an und raus. Die ersten Wochen nach meinem Zusammenbruch war jegliche Energie weg. Ich konnte noch nicht einmal spazieren gehen, ohne nach zehn Minuten aufzugeben. Es fühlte sich schrecklich an. Jetzt habe ich hier die Chance, jeden Tag zu joggen. Das ist also meine selbst verordnete Therapie. Ich gehe einfach jeden Tag joggen, denn das habe ich früher geliebt. Mal sehen, ob mein Therapieplan das zulässt.

Da ich den Therapieplan noch nicht vorliegen habe, denn auch den gibt es erst in vier Tagen, plane ich mein Sportprogramm eben selbst. Immerhin gilt es als wissenschaftlich erwiesen, dass moderates Ausdauertraining an der frischen Luft depressive Phasen und Angstzustände mildert. Rein in die Laufsachen und raus aus der Rehaklinik. Die Wanderwege beginnen direkt vor der Haustür. Genial. Eine Strecke führt nur bergauf und bergab. Rund vier Kilometer, perfekt fürs Erste. Ich liebe es, bergauf zu laufen. Man darf langsam laufen und ist aufgrund der körperlichen Anstrengung im Hier und Jetzt.

Die Wanderstrecke ist wunderschön. Obwohl ich Pausen beim Laufen nicht leiden kann, bleibe ich auf halber Strecke an einer Bank stehen und setze mich. Von hier hat man einen wunderschönen Blick auf das Tal. Ich habe Lust, Steine zu sammeln. Ich schaue mir jeden Stein, den ich aufhebe, genau an. Aus dem Impuls heraus und der Sehnsucht folgend, meine schweren Themen loszulassen, gebe ich den Steinen Namen. Stein der Anspannung, Stein des Perfektionismus, Stein der Angst, Stein der Traurigkeit, Stein der Wut und Stein des Jammerns. Stein für Stein werfe ich mit voller Kraft in die Schlucht hinab. Ich lasse los, und je mehr Steine ich werfe, desto lauter wird meine Stimme. Am Ende schreie ich laut beim Werfen. Da ist irgendetwas in mir, das herausmöchte. Nach ein paar Minuten ist mein persönlicher Moment des Loslassens vorbei, und ich muss weinen. Etwas verunsichert schaue ich nach rechts und links, ob nicht jemand meine Loslass-Aktion gesehen hat. Zum Glück nicht.

Für einen kurzen Moment fühle ich mich leichter und freier als noch beim Ankommen, und auch wenn ich dabei noch immer weine, laufe ich den Berg selig wieder hinab. Das Weinen fühlt sich erleichternder an als das Weinen aus der puren Verzweiflung heraus, welches in den letzten Monaten immer wieder zum Vorschein gekommen ist. Ein schöner und sehr ungewöhnlicher Lauf.

Den Rest des Tages verbringe ich auf dem Liegestuhl im Klinikgarten. Ich spüre die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, sie sind wärmend und schenken mir Licht, das durch meinen Körper fließt. Sonnentage im Herbst kann ich so viel bewusster genießen als im Sommer. Im Sommer sind die Sonnentage beliebig. Aber im Herbst schenken sie einem für einen kurzen Augenblick den Sommer zurück. Zudem ist der Herbst stiller als der Sommer, er bringt reiche Ernte und bunte Farben. Seine sonnigen Tage wärmen mein Herz, bevor der kalte Winter Einzug hält. Einfach in der Sonne liegen und nichts tun. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich dies das letzte Mal genossen habe.

Nach dem Laufen kann ich der Entspannung jetzt freien Lauf lassen. So wie es eigentlich immer sein sollte. Auf Anspannung folgt Entspannung. Nur, dass man im Alltag das Zweite leider meist vergisst. Ich schließe die Augen und träume vom nächsten Sommer, wenn bei mir hoffentlich wieder alles psychisch und körperlich stabil ist. Damit ein Sommer auch wieder ein Sommer sein darf, in dem man Leichtigkeit und das Leben spürt. Denn das macht den Sommer aus. Mein Sommer in diesem Jahr war schwer. Bleischwer, und das passt einfach nicht zu dieser Jahreszeit.

Ich nicke für einen kurzen Moment ein. Als ich aufwache, ist die Sonne verschwunden. Spätestens jetzt nehme ich wieder wahr, dass Herbst ist, denn sobald die Sonne weg ist, fallen die Temperaturen in den Keller, und das Gefühl des verlängerten Sommers schwindet dahin. Zeit zum Abendessen.

Das Abendessen ist unsagbar lecker. Eine köstliche Brotzeit mit einem Käseteller, zu dem man Sie sagen darf. Wow, also das Essen ist mit Abstand – zumindest am ersten Tag – das Beste an dieser Klinik. Laut der Philosophie der Klinik hält gutes Essen Leib und Seele zusammen, deshalb steht eine gesunde Ernährung in der Fachklinik ganz obenan. Der Speiseplan setzt sich grundsätzlich aus vegetarischen Gerichten zusammen. Die Klinik wirbt damit, dass die Zutaten, sofern es sich ermöglichen lässt, aus der Region und überwiegend aus biologischem Anbau bezogen werden. Beim Essen hält die Klinik also das, was sie auf ihrer Homepage bewirbt. Das ist beruhigend.

Als ich gerade auf dem Weg zu meinem Zimmer bin, kommen die beiden gut gelaunten Patienten von heute Mittag, Tina und Olaf, auf mich zu. Nach dem guten Essen bin ich nun deutlich entspannter, und wir kommen ins Plaudern.

»Wir wollen am Samstag in die Sauna und schwimmen gehen«, strahlt Tina. »Komm doch mit, die Therme hier im Ort ist berühmt für ihr gesundheitsförderndes Wasser. Hast du Lust?«

»Danke, das ist lieb von euch«, antworte ich. »Ich sage euch morgen Bescheid, weil ich mir noch keinen Kopf über die Planung des Wochenendes gemacht habe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass man hier vier Tage lang keinerlei Therapien hat und sein Wochenende selbst planen muss. Ich meine, wir befinden uns in einer psychosomatischen Klinik, und Menschen mit Depression oder Ängsten sind nicht gerade gesegnet mit Eigenmotivation.«

Olaf nickt verständnisvoll und lächelt. »Ja, das ist nicht einfach. Uns ging es am Anfang ähnlich, wir haben uns genauso verloren gefühlt. Aber glaub mir, das geht vorbei.«

Obwohl es gerade erst 19.30 Uhr ist, begebe ich mich auf mein Zimmer. Ich habe nach wie vor wenig Lust, mit fremden Menschen Smalltalk zu führen, auch wenn die beiden sehr freundlich sind. Mein Zimmer ist auch keine gute Alternative für das Abendprogramm, aber mit meinem neuen Buch werde ich es mir hoffentlich etwas gemütlich machen können. Zum Kuscheln habe ich meinen Teddy und mein eigenes Kissen mitgebracht. Den Teddy habe ich mit zehn Jahren von meiner einzigen und absoluten Lieblingsoma geschenkt bekommen. Kurze Zeit später ist sie leider gestorben. Ich bin unsagbar stolz, dass ich den Teddy auch nach fast dreißig Jahren noch besitze. Er vermittelt mir noch heute das beschützende und behütende Gefühl, das ich hatte, wenn meine Oma bei mir war. Und auch mein eigenes Kissen schenkt mir ein Stück von unserem Zuhause. Vor allem riecht es nach zu Hause, und das hat etwas Vertrautes. Zum Glück habe ich daran gedacht.

Woran ich überhaupt nicht gedacht habe, ist meine Wärmflasche. Wie gern schlafe ich mit einer Wärmflasche auf dem Bauch ein. Sie hat so etwas Beruhigendes und lässt mich in der kalten Jahreszeit weniger frieren. Gerade, wenn mein Mann beruflich auf Reisen ist und das »Mich-Wärmen« nicht übernehmen kann.

Luise Reddemann erwähnt die Wichtigkeit des Themas Wärme in ihrem Buch Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Wärme beschreibt sie als etwas, das unterstützen kann, sodass sich die seelischen Widerstandskräfte besser entfalten können. Seitdem ich diese Zeilen gelesen habe, achte ich immer sehr genau darauf, dass mir warm genug ist. Und in diesem Zimmer ist es mir definitiv nicht warm genug. Nur ohne Wärmflasche und ohne meinen Mann als wärmendes Bettobjekt werde ich meine Wohlfühltemperatur zumindest in dieser Nacht wohl nicht erreichen.

Wie gern würde ich jetzt telefonieren. Aber ich bin nicht in der Lage dazu. Ich möchte nicht schon wieder jammern. Ich habe so viel Glück mit meiner eigenen kleinen Familie und meiner großen Familie. Am Ende des Tages ist es die Liebe innerhalb der Familie, die zählt. Meine Familie ist es, die es mir überhaupt ermöglicht, diese Therapie zu machen und somit die Auszeit vom Alltag zu nehmen. Mit zwei kleinen Kindern ist es eher die Ausnahme, eine Kur ohne Kinder zu machen. Für mich eine lebensrettende Maßnahme. Zu Hause bin ich verloren gewesen.

Ich habe ein kleines Büchlein mit dem Titel Dein inneres Kind erinnern mitgenommen mit dem Vorsatz, jeden Abend eine Seite zu lesen und zu verinnerlichen. Das mache ich jetzt.

»Liebe heute und vergib heute. Das ist alles. Tag für Tag!«

Wie wahr und doch ist das Vergeben dabei der schwere Teil. Die eigenen Kinder kann man immer lieben. Selbst an den schwärzesten Tagen spüre ich in der hintersten Ecke meines Herzens die Liebe zu meinen Kindern. Wenn alle Gefühle ausgelöscht sind, die Liebe zu meinen Kindern ist stärker. Trotz der depressiven Phasen. Meine Mutter sagte einmal zu mir: »Die größte Liebe, die man im Leben erlebt, ist die Liebe zu den eigenen Kindern.« Das kann ich nur bestätigen. Ein Glück hat der liebe Gott so weit auf mich aufgepasst, dass die Depression und die Ängste das Gefühl zu meinen Kindern nicht aufgefressen haben. Dafür bin ich jeden Tag dankbar.

Das Vergeben fällt mir schwer. Meine depressiven Phasen bringen so viel Wut und Aggressionen hervor, dass mir das Verzeihen sehr schwerfällt. Ganz im Gegenteil, die Wut geht mir bis ins Mark und lässt mich oft tagelang nicht mehr los. Aus banalen Dingen entwickeln sich komplette Tornados in mir, die sich durch nichts besänftigen lassen. Wie viele Streitigkeiten haben sich dadurch mit meinen engsten Mitmenschen ergeben. Obwohl ich zum Gesunden dringend auf ein harmonisches Umfeld angewiesen bin, gibt es aufgrund der heftigen Gefühle in mir permanent Streit. Ein Teufelskreis. Wie sehr hoffe ich, dass ich in der Klinik Lösungen für einen gelasseneren Umgang mit mir und anderen aufgezeigt bekomme. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, formulierte es in seinem Gestaltgebet, nach dem er lebte und therapierte, so:

»Ich bin ich, und du bist du. Ich bin nicht auf der Welt, um deine Erwartungen zu erfüllen, und du bist nicht hier, um meine zu erfüllen. Wenn wir übereinstimmen, ist es wunderbar. Aber wenn nicht, dann ist da nichts zu machen.«

Diese Gelassenheit zu erlangen, würde vieles in meinem Leben erleichtern. Mit dieser Gelassenheit wäre ich erheblich unabhängiger von anderen Menschen und ihren Stimmungen. Und diese Gelassenheit würde ich mir natürlich auch von meinem Ehemann wünschen. Am Ende des Tages ist es die Liebe innerhalb der Familie, die zählt und gesund macht. Streiten kann dabei bereinigend und auch mal notwendig sein. Aber es darf nicht überhandnehmen, sonst läuft im Familienkonstrukt irgendetwas gehörig schief.

Nachdem ich noch etwa zwei Stunden in meinem neuen Buch Die Mondspielerin gelesen habe, schalte ich das Licht aus. Ich bin hellwach. Mein Gott, wie viele Jahre habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als einfach in Ruhe schlafen zu dürfen. Schlafen, ohne von den Kindern geweckt zu werden. Und jetzt, heute, hier darf ich schlafen und kann nicht. Ich fasse es nicht.

Ich bin unruhig und unentspannt. Bevor ich in die Grübelfalle tappe, mache ich das Licht wieder an, lese weiter und starte um 0.35 Uhr den zweiten Versuch einzuschlafen. Nix. Ich bin weiter hellwach. Hilfe, das kann doch alles nicht wahr sein. Nachts habe ich immer das Gefühl, dass die Zeit stillsteht und die Minute viermal so lange dauert wie tagsüber. Am besten ist jetzt wohl frische Luft.

Ich ziehe mir meine Jacke an und begebe mich auf den Balkon. Eingehüllt in meine Bettdecke schaue ich mir den Sternenhimmel an. Der Himmel ist klar, und die Sterne funkeln. Eine Freundin hat mir, um mich zu trösten, einmal eine Postkarte mit folgendem Spruch geschenkt:

»Ich dank dir für den Stern dort oben, der jede Nacht am Himmel steht. Du sagtest, ich soll aufwärts schauen, wenn‘s mir mal nicht besonders geht.«

Der Sternenhimmel erinnert mich an diese wunderschöne Botschaft, also schaue ich aufwärts Richtung Sterne. Worte können so heilsam sein. Diese Worte beruhigen mich, und ich sage sie mir immer und immer wieder auf und schaue dabei in die Weite des Universums. Als ein klitzekleiner Teil des Universums gewinne ich Abstand zu meinem momentanen Problem, nicht einschlafen zu können.

In einer Großstadt wie Köln, wo wir wohnen, ist es so, als gäbe es keinen Sternenhimmel. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal einen solch mystischen Sternenhimmel wie heute gesehen habe. Vielleicht nimmt man sich in einer Großstadt aber einfach nicht die Zeit und die Muße, den Sternenhimmel wahrzunehmen.

Mittlerweile ist es 2.07 Uhr. Ich lege mich erneut ins Bett und fühle mich, als hätte ich überhaupt keine Ahnung mehr, wie einschlafen überhaupt geht. Ich bin hellwach. Langsam werde ich verzweifelt. Ich möchte doch bitte einfach nur schlafen.

5 Wochen Rabenmutter

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