Читать книгу 100 Prozent Anders - Tanja Mai - Страница 16
ОглавлениеEtwa ein Jahr vor dem Abitur wurden wir von unserem Ethiklehrer gefragt, was wir beruflich machen wollen. Ich antwortete: „Ich würde gern in der Unterhaltungsindustrie arbeiten. Ich möchte Künstler werden.“ Ich werde nie vergessen, wie sich der olle Schneider über mich kaputtlachte. Vor der ganzen Klasse! Er stand an seinem Lehrerpult und erklärte mir grinsend: „Solche Spinnereien kann ich nicht ernst nehmen.“
Aber der liebe Gott straft nicht mit dem Stock. Die Rache für Lehrer Schneider folgte drei Jahre später, als ich mit Modern Talking gerade total erfolgreich war. Ich fuhr in meinem neuen 500er Mercedes Coupé an meiner alten Schule in Koblenz vorbei. Der Zufall wollte es, dass gerade Schulschluss war und Herr Schneider am Straßenrand stand. Man kann sich natürlich vorstellen, was ich gemacht habe: Ich fahre im Schritttempo mit meiner schicken schwarzen Luxuskarosse an Herrn Schneider vorbei, betätige wirkungsvoll meinen elektrischen Fensterheber und rufe: „Hallo, Herr Schneider. Und, Sie arbeiten immer noch hier?“ Darauf er: „Ach, Herr Weidung. Na, Sie haben es ja jetzt geschafft.“ Ich grinste freundlich und antwortete: „Danke, Herr Schneider. Ich weiß. Schönen Tag noch.“
Die Scheibe summte wieder nach oben, und weg war ich. Das war zwar kindisch, ich weiß, aber ich habe das in dem Moment gebraucht. Ich hatte etwas geschafft, an das mein Lehrer niemals geglaubt hatte. Ich war ein erfolgreicher Sänger geworden!
1980 schaffte ich tatsächlich mein Abitur. Obwohl ich nie dafür gebüffelt und in der Schule wirklich nur das Notwendigste getan habe. Mein Notendurchschnitt war mir völlig egal, da ich weder Arzt noch Rechtsanwalt werden wollte. Ich wusste ja, dass ich nie mehr in meinem Leben einer Gleichung mit fünf Unbekannten begegnen würde. Und falls doch, würde ich sicher jemanden kennen, der sie mir ausrechnen könnte.
Dennoch war es mir wichtig, mein Abitur in der Tasche zu haben. Ich habe das für mich gemacht, für niemanden sonst. Abitur bedeutet für mich, den Menschen dahin zu erziehen, dass er sein Gehirn schult. Ich wollte mir beweisen, dass ich das schaffe. In meinem Lieblingscafé in Koblenz habe ich auf einem Bierdeckel wie wild herumgerechnet, welche Noten ich mindestens haben müsste, um das Abi zu bestehen. Ich entwickelte richtige Strategien, nach dem Motto: Wenn ich durch die schriftlichen Prüfungen fallen sollte, wie viele Punkte müsste ich dann mündlich schaffen? Es war hochkompliziert. Am schönsten war eigentlich das letzte Halbjahr vor dem Abitur. Ich hatte nur noch meine Prüfungsfächer Erdkunde, Musik und Französisch belegt und kam in der Woche auf gerade mal 16 Schulstunden.
Abends traf ich mich mit meinen Kumpels in einer Kneipe, und wir träumten von einer rosigen Zukunft. Total „in“ war bei uns das Getränk Asbach-Cola, genannt „Asco“. Oder Apfelschnaps. Aber unsere Abende verliefen nie exzessiv. Ich kann mich nicht daran erinnern, mir jemals die Birne so richtig vollgesoffen zu haben. Auch das Rauchen oder harte Drogen kamen für mich nie in Frage.
Kaum hatte ich das Abi in der Tasche, meinte mein Vater: „So, Junge. Abitur ist zwar schön und gut. Aber jetzt siehst du zu, dass du eine Ausbildung anfängst. Damit du was Anständiges vorzuweisen hast.“