Читать книгу 100 Prozent Anders - Tanja Mai - Страница 8
ОглавлениеIch weiß heute nicht mehr genau, wann es anfing. Vielleicht mit drei oder vier Jahren. Aber seit ich denken kann, wollte ich immer nur Musik machen. Ich konnte kaum sprechen, da fing ich schon an, Lieder im Radio nachzusingen. Mein Bruder musste mir auch regelmäßig Songs aus dem Radio auf Kassette aufnehmen. „Rainer Holbe und die Starparade“ war Ende der 1960er Jahre total angesagt.
Mich faszinierte die Welt der Musik und der Stars. Musik war für mich ein Gefühl auf einer anderen Ebene. Meine Eltern unterstützten diesen Drang zu meinem Glück.
Mein Vater war es auch, der mit einem gewissen Nachdruck den Wunsch an uns Kinder weitergab, dass wir mindestens ein Instrument lernen sollten. Was ich übrigens für richtig halte. Er spielte sogar in seiner ehrenamtlichen Funktion als Bürgermeister von Mörz am St. Martinstag Akkordeon. Meine Geschwister und ich bekamen Klavierunterricht, bei Frau Pies im Nachbarort. Aber richtig gut singen kann bei uns in der Familie nur ich. Ich übte mich also am Klavier, sang in meinem Zimmer und bereitete mich schon als Dreikäsehoch mental vor auf die Bretter, die die Welt bedeuten.
Mein Vater und meine Mutter bestaunten meine Musikbesessenheit mit diesem verständnisvollen Schmunzeln liebender Eltern. Dennoch gaben sie mir von Anfang an das Gefühl, dass sie mich ernst nahmen. Sie ließen uns Kinder sein, wie wir waren, und ließen uns machen, wozu wir Lust hatten. Während Achim in unserem Schützenverein Mitglied war, klebte ich von früh bis spät an jedem x-beliebigen Elektrogerät, aus dem Musik ertönte.
Ich wuchs in einem liberalen, offenen Elternhaus auf. Meine Eltern erzogen uns Kinder dazu, fair und ehrlich miteinander umzugehen. Natürlich haben wir uns früher auch gestritten. Aber wenn es Probleme gibt, löse ich sie bis heute immer, indem ich Konflikte direkt anspreche und eine Lösung erarbeite. Grundsätzlich bin ich auf Harmonie bedacht. Jeder Tag, an dem ich mich streite, ist für mich ein verlorener Tag. Allerdings nur mit Blick auf Menschen, die ich mag, bei allen anderen ist es mir vollkommen egal.
Als Schüler war ich sieben Jahre lang Klassensprecher. Wegen meiner ruhigen, bedächtigen Art strahlte ich auf meine Mitschüler anscheinend Führungsqualitäten aus. Ich war ihr Problemlöser. Sie wussten, wenn ich mich um etwas kümmerte, klappte das meist. Bis heute werde ich weder laut noch hysterisch, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Wozu auch? Wer rumschreit, löst keine Probleme. Es kommt immer auf den Ton und die Gestik an, wenn man persönliche Kritik übt. Das habe ich von meinen Eltern gelernt. Sie waren nie wirklich streng mit uns, sondern eher, wie man heutzutage erziehungstechnisch sagt, „liebevoll-konsequent“. Das ist auch nötig, wenn man drei Kinder hat. Dazu noch jede Menge Freunde, die ständig bei uns zu Besuch waren. Ohne eine klare Linie in der Erziehung, wäre es bei uns wie in einem Taubenschlag zugegangen.
Meine Mutter besitzt ein ganz ruhiges, ausgeglichenes Wesen. Aber wehe, jemand sagt etwas Schlechtes über ihre Lieben, dann wird sie zur Löwin. Mama ist gelernte Dekorateurin. Von ihr habe ich die Liebe fürs Detail und alles Schöne geerbt. Solange ich denken kann, hat sie zu allen möglichen Jahreszeiten und Anlässen unser Haus umgestaltet und liebevoll geschmückt. Mein Vater baute seiner Familie ein Nest, meine Mutter richtete es ein und machte es uns gemütlich. Charakterlich habe ich mir – als Kind sicher unbewusst – vieles von meinen Eltern abgeschaut. Papa und ich sind total pragmatisch veranlagt. Haben wir uns mal für etwas entschieden, wird es auch durchgezogen. Nach dem Motto, jetzt haben wir A gesagt, dann sagen wir auch B, und dann gucken wir mal, was kommt.
Papas Motto lautet, seit ich denken kann: Durch das Zerreden von Dingen ist noch niemand weitergekommen, durch das Anpacken schon. Das ist unsere Mentalität. Immer geradeheraus und dabei ehrlich sein. Man hat mir schon als Teenager nachgesagt, ich würde eine sehr ausgeprägte Form von Diplomatie besitzen. Meine Freunde meinten, ich könne Menschen ins Gesicht sagen, sie seien Arschlöcher, und dennoch fänden sie mich nett. Nur bei Dieter Bohlen hat das nicht funktioniert. Ihm habe ich ins Gesicht gesagt, was ich von ihm halte, und komischerweise redet er heute nicht mehr mit mir. Doch dazu später.
Diese direkte, ehrliche Art habe ich nun mal von meinen Eltern gelernt. Vor allem von meiner Mutter, die für uns Kinder die Hauptbezugsperson war.
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Aufgrund meines südländischen Aussehens werde ich immer wieder gefragt, ob meine Familie mütterlicherseits französische Wurzeln habe. Ich ließ das mal zurückverfolgen bis ins 17. Jahrhundert. Allerdings konnte bei uns keine familiäre Linie nachgewiesen werden, die aus Südeuropa stammt. Aber wer weiß das schon. Mein Vater hatte sechs Geschwister, die sich in sämtliche Himmelsrichtungen verteilten. Auch meine Mutter besaß drei ältere Geschwister, wobei ihr ältester Bruder im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Ihre Lieblings-Schwester lebt in Frankreich. Koblenz war ja nach dem Krieg französische Besatzungszone. Meine Tante Marianne verliebte sich 1943 in einen französischen Soldaten und ging 1947 mit ihm nach Paris. Aus Marianne wurde ein weiches Marian, wie die Franzosen sagen. Nur meine Mutter sagt weiterhin Marianne zu ihr. „So einen Quatsch mache ich nicht mit“, meint sie. Meine Tante redet eigentlich hochdeutsch mit französischem Akzent. Doch wehe, sie ärgert sich über etwas, dann kommt ihr rheinischer Singsang-Dialekt voll durch. Das ist zum Totlachen. Erst kürzlich war sie bei uns in Koblenz zu Besuch.
Tante Marianne ist mittlerweile 85, sieht aber noch extrem schick und rüstig aus und legt größten Wert auf ein gepflegtes Aussehen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Unikum, eine wunderbare Mischung aus französischem Esprit und deutschen Tugenden. Sie trägt wenig Schmuck, aber jedes Teil ist etwas Besonderes. Zu jeder Hermès-Tasche kombiniert sie das passende Halstuch. Wie eine richtige Französin eben. Mir kommt ihr Kleidungsstil sehr entgegen. Wahrscheinlich habe ich vieles an ihr bereits als Kind unbewusst in mir aufgenommen.
Die Ferien bei Tante Marianne und Onkel Robert waren jedes Mal etwas ganz Besonderes. Sie besaßen eine traumhafte Eigentumswohnung in Paris, Parterre, mit einem wunderschönen Garten. Dort habe ich zum ersten Mal etwas typisch Französisches gesehen – diese übertapezierten Türen, die wir in Deutschland gar nicht kennen. Auch vom französischen Toilettenpapier war ich schon als Kind unglaublich begeistert. Bei uns zuhause gab es Klopapierrollen, bevorzugt noch mit diesen scheußlichen bunten Blumen bedruckt. Bei meiner Tante stand auf der Toilette eine elegante Box, aus der man feine, gefaltete Blättchen zog. Diese Ästhetik im Bad hat mich als kleinen Jungen nachhaltig beeindruckt.
Als meine Cousine Catherine 1969 heiratete, fuhren meine Eltern mit uns Kindern zur Hochzeit nach Paris. 500 Kilometer mit zwei kleinen Kindern im Auto. Es war die Hölle. Dafür war das Fest umso schöner. Es gibt Fotos von mir in einer kurzen weißen Hose mit dunkelblauem Jackett. Mein Bruder Achim hätte so etwas nie angezogen. Ich liebte es schon als Junge, mich schick zu machen.
Meine Mutter und ihre Schwester telefonieren seit über fünfzig Jahren jeden Sonntag zur selben Uhrzeit miteinander. Sonntags ist es billiger, denken beide. Dutzende Male habe ich versucht, meiner Mutter diesen Spleen auszutreiben, aber sie lässt sich nicht davon abbringen. In der einen Woche ruft Tante Marianne an, das andere Mal meine Mutter. Mein Onkel starb 2008, seitdem lebt meine Tante allein in ihrem Haus an der französischen Atlantikküste.
Regelmäßig biete ich meiner Mutter an, mit ihr und meinem Vater zu Tante Marianne in den Urlaub zu fliegen. Doch meine Eltern fliegen nicht gern. Und mit dem Auto von Koblenz bis in den Nordwesten Frankreichs zu fahren, ist ihnen verständlicherweise zu anstrengend. Also begnügt sich meine Mutter mit den wöchentlichen Telefonaten mit ihrer Lieblingsschwester.
Ich bin bis heute ein absolutes Mama-Kind. Wir telefonieren mindestens jeden zweiten Tag miteinander. Sie ist letztes Jahr 75 Jahre alt geworden. Kurz nach ihrem Geburtstag im September rief sie mich an und erzählte mir stolz: „Ich war beim Arzt. Er meinte zu mir: ‚Also, Frau Weidung’, sie haben Blutwerte, die hat manch Fünfzigjährige nicht mehr.“ Im Verhältnis zu meinem impulsiven Vater ist sie die Ruhigere. Innerhalb der Familie ist sie allerdings die Chefin. Nach außen hin scheint mein Vater der Herr im Haus zu sein, doch eigentlich hatte schon immer meine Mutter das Sagen. Eben die klassische Rollenverteilung. Die beiden ergänzen sich wunderbar und feiern dieses Jahr ihren 55. Hochzeitstag. Beide sind in der Gegend um Münstermaifeld aufgewachsen und wohnten als Kinder nur sechs Kilometer voneinander entfernt. Es war logisch, dass sie sich irgendwann über den Weg laufen mussten.
In den Fünfzigerjahren setzte man sich ja nicht mal schnell ins Auto und fuhr zum Feiern in die Diskothek. Auf dem Land gab es im Jahr genau eine Kirmes und ein Schützenfest als Kontaktbörse. Meine Eltern lernten sich 1954 beim Tanzen auf dem Schützenfest kennen. Im Mai 1956 war Hochzeit, im Mai 1957 kam Achim zur Welt. Es war also keine „Muss“-Heirat, sondern tatsächlich Liebe.
Mein Vater Peter arbeitete als leitender Finanzbeamter in Koblenz und war außerdem nebenberuflich 28 Jahre lang Bürgermeister von Münstermaifeld-Mörz. In seiner Freizeit engagierte er sich als Erster Vorsitzender des örtlichen Schützenvereins und ist mittlerweile Ehrenbürger von Münstermaifeld. Also ein, wie man sagt, durch und durch solider Mann, vom Showbusiness so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Sein schönstes Hobby war es, sich handwerklich zu betätigen. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, uns Kindern irgendwelche Plastikspielsachen zu kaufen.
Zu meinem fünften Geburtstag wünschte ich mir unbedingt einen Kaufladen. Da mein Vater nun mal ein Tüftler war, stand er nächtelang in seiner kleinen Werkstatt und baute mir den tollsten, größten und einzigartigsten Kaufladen, den ich je gesehen hatte. Jede Mini-Wurst, jede Tomate, jedes kleine Brötchen hatte er selbst aus Holz geschnitzt. Das Allerbeste daran war aber, dass man den Kaufladen zur Post umfunktionieren konnte. Ich bekam ein Set Postkarten, Briefmarken und kleine Notizblöcke geschenkt und war stolz wie Bolle! Seine handwerklichen Fähigkeiten endeten damit, dass er mit viel Eigeninitiative und Muskelkraft noch ein zweites Haus für die Familie baute. Zu meinem persönlichen Leidwesen, was ich später noch näher erläutern werde.
Auch die Weihnachtsfeste verliefen bei uns stets nach demselben Ritual, bei dem Papa die Zügel in Händen hielt (das hat er sich zumindest jahrelang eingebildet). Es war jedes Jahr das Gleiche: Kaum hatten wir fünf das Haus verlassen, um zum Weihnachtsgottesdienst zu gehen, da stöhnte meine Mutter: „Du meine Güte, ich habe meine Handschuhe vergessen. Sie liegen in der Küche.“ Mein Vater tat so, als würde er sich über ihre Schusseligkeit aufregen: „Mein Gott, Helga, wo hast du nur deine Gedanken?“
Papa stapfte also zurück ins Haus und gab vor, Mamas Handschuhe zu holen. In Wirklichkeit legte er aber in Windeseile die Päckchen unter den Weihnachtsbaum und machte alle Lichter im Haus an. Wenn wir von der Messe aus der Kirche nach Hause kamen, erstrahlte das Wohnzimmer in vollem Glanz. Als wir klein waren, waren wir Kinder natürlich felsenfest davon überzeugt, dass das Christkind unser Haus verzaubert hatte. Irgendwann wurden wir jedoch stutzig, da unser Vater jedes Mal ohne Mamas Handschuhe zurückkehrte. Die vergaß er natürlich bei all der Hektik. Als ich acht Jahre alt war und wir am Heiligen Abend wieder mal vorm Haus auf Papa warten mussten, sagte ich ganz trocken: „Papa, du hast wieder die Handschuhe vergessen.“ Ab diesem Zeitpunkt war meinen Eltern klar, dass wir Kinder Bescheid wussten.
Letztes Jahr zu Weihnachten gab mein achtjähriger Sohn Alexander übrigens den gleichen Kommentar ab, als ich an Heiligabend die Handschuhe meiner Frau vergessen hatte …
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Meine Mutter führte in unserem Haus eine Gaststätte aus dem Nachlass meiner Großeltern und einen „Tante-Emma-Laden“. Die Gaststätte habe ich nicht mehr in Erinnerung, da sie recht bald nach meiner Geburt geschlossen wurde. Später erzählte meine Mutter mir, dass ich glücklicherweise ein unkompliziertes Baby gewesen sei. Es kam wohl oft vor, dass meine Mutter unten im Erdgeschoss unseres Hauses Gäste in der Kneipe sitzen hatte, denen sie Bier zapfte, während ich oben im ersten Stock in meinem Bettchen lag und schrie. Sie rannte hin und her, Treppe rauf, Treppe runter. Irgendwann hatte sie darauf keine Lust mehr. Stattdessen konzentrierte sich meine Mutter nur noch auf Omas „Tante-Emma-Laden“.
Für uns Kinder war das natürlich ein Paradies. Süßigkeiten und Eiscreme waren im Hause Weidung immer vorhanden. Wir mussten jedoch um Erlaubnis fragen, wenn wir uns ein Milky Way oder Gummibärchen aus dem Regal nehmen wollten. Unser Geschäft war für uns kein Selbstbedienungsladen, diesbezüglich war meine Mutter sehr streng.
Auf den gefühlten zwölf Quadratmetern gab es alles, was das Herz begehrte. Obst, Wurst und Käse, Waschmittel, Schreibblocks und Konserven bis hin zu Schokolade und Chips. Jeden Dienstag kam der für uns zuständige Handelsvertreter, um bei meiner Mutter die Bestellungen für die Wochenendlieferung aufzunehmen. Es war damals eine komplett andere Welt. Nicht wie heute, wo man über Scannerkassen den Warenablauf festhält und der angeschlossene Computer auf Knopfdruck im Zentrallager die fehlende Ware ordert, damit sie am nächsten Vormittag geliefert wird. Nein, der Handelsvertreter kam mit seinem Bestellblock zu uns ins Esszimmer, machte bei einer Tasse Kaffee und selbstgebackenem Kuchen auf seiner Liste an der gewünschten Ware seinen Haken, und freitags war die Anlieferung.
Ich nutzte bei jedem Besuch des Handelsvertreters die Gelegenheit, mein neuestes Repertoire zum Besten zu geben. Sämtliche Lieder von Heintje oder Gus Backus. Später auch von Vicky Leandros, Katja Ebstein und Lynn Anderson mit „Rosegarden“.
Unser Esszimmer war sozusagen meine erste Bühne. Das Unterhaltungsprogramm in unserem kleinen Dorf hielt sich in Grenzen. Es gab einen Schützenverein und eine jährliche Kirmes. Keine glamourösen Festlichkeiten, aber die wenigen Veranstaltungen, übers Jahr verteilt, waren für mich als Kind immer ganz besonders. Ich war sechs Jahre alt, als in unserer neuen Dorfkneipe mal wieder die traditionelle „Dorfweihnachtsfeier“ anstand und ich gefragt wurde, ob ich ein paar Weihnachtslieder singen wolle. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Kleine von Weidungs gerne singt. Klar! Wie aufregend! Endlich mal nicht nur vor der Tante oder dem Onkel – oder dem wöchentlichen Handelsvertreter. Nein, endlich ein richtiges Publikum!
Damit die anwesenden Personen, es sind in meiner Erinnerung maximal 50, mich auch sehen konnten, stand ich auf einem Stuhl. Ich wurde angekündigt mit: „Jetzt singt der kleine Bernd“, und ich schmetterte „Heidschi Bumbeidschi“ und noch zwei Weihnachtslieder, a cappella, also ohne begleitende Musik. Als ich meine Lieder gesungen hatte, gab es Applaus und Bravo-Rufe sowie eine Tafel Schokolade und eine Tüte Chips.
Wow! Der Virus war entfacht! Was für ein Nährboden für eine jungfräuliche Künstlerseele. Ich tat etwas, das mir Spaß machte, und bekam dafür als Lohn etwas, das mir schmeckte.
Hallo, ihr Bühnen der Welt, ich komme!
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Im Februar 1970 veränderte sich mein familiäres Leben. Meine Schwester Tanja wurde geboren, und ich war damals mindestens genauso aufgeregt wie mein großer Bruder bei meiner Geburt.
Ich hatte mir immer eine kleine Schwester gewünscht. Seit ich fünf Jahre alt war, legte ich fleißig Zuckerstücke für den Klapperstorch auf unsere Küchenfensterbank. In unserer Weidung-Großfamilie mit vielen Tanten und Onkel gab es 16 Enkel, davon aber nur drei Mädchen. Seit ich denken kann, hieß es bei uns zuhause: „Bei den Weidungs kommen immer Jungs raus. Die können keine Mädchen.“ Aber ich wünschte mir eine kleine Schwester. Als Tanja geboren wurde, war das für mich natürlich großartig. Gleichzeitig fand ich es auch völlig normal, dass der Klapperstorch sich über meinen Zucker gefreut und deshalb meinen Wunsch erfüllt hatte. Erst Jahre danach fragte ich mal vorsichtig nach, wer eigentlich den Zucker von der Fensterbank weggenommen habe. Es war meine Mutter.
In Mörz gab es keine Schule, deshalb verbrachte ich die ersten beiden Jahre meiner Grundschulzeit in einem Nachbarort, und danach besuchte ich die Grundschule in Münstermaifeld. Zwischen Lernen und familiären Verpflichtungen trat ich zwischendurch bei diversen Dorffeiern im Umland und im Altenheim auf und sang einige Lieder meines Repertoires. Meine komplette Freizeit bestand aus Singen! Während meine Kumpels aus dem Dorf auf dem Bolzplatz umhertobten, hüpfte ich zuhause in meinem Zimmer vor dem Spiegel herum und sang. Kurzzeitig war ich einmal Messdiener in unserer kleinen Dorfkirche. Da man dabei ja auch irgendwie im Rampenlicht stand und etwas Besonderes war, hatte ich mich freiwillig gemeldet. Als Messdiener stand man ja irgendwie auf einer Bühne und wurde vom Publikum bestaunt. Da wir keinen eigenen Pfarrer hatten, fand sowieso nur alle sechs Wochen ein Gottesdienst in Mörz statt. Zwischendurch gab es lediglich die eine oder andere Beerdigung.
Meine Eltern erzogen uns Kinder zwar nach katholischem Glauben, aber besonders streng wurde das bei uns nie gesehen. Ich fand es witzig, Messdiener zu sein. So erlebte man wenigstens mal etwas. Am ulkigsten war der Pfarrer. Wenn ich oder der zweite Messdiener ihm die Karaffe mit Wein brachten, hielt er seinen Kelch bewusst so, dass wir ihn vollmachen mussten. Wollten wir Jungs stilles Wasser dazu gießen, zischte er uns an: „Kein Wasser, kein Wasser“, und kippte sich den Wein unverdünnt in seinen gierigen Schlund. Als Junge nimmt man das ja noch nicht so wahr. Außerdem hat man in dem Alter noch Respekt vor dem Herrn Pfarrer. Erst später ging mir ein Licht auf, und ich dachte mir: „Was für eine alte Schnapsdrossel.“
Alle Jungs, die ich kannte, wollten Feuerwehrmann oder Lokomotivführer werden – ich Sänger. Da gab es für mich auch gar keine Alternative.
Doch bevor ich mich voll und ganz auf meine Karriere als kommender Superstar konzentrieren konnte, musste ich zunächst eine etwas weniger glamouröse Laufbahn einschlagen. Mein Vater beschloss nämlich, dass er uns ein weiteres Haus bauen wollte. Achim fand die Hausbau-Idee ganz toll und half in jeder freien Sekunde auf dem Bau mit: Er konnte schon früh Leitungen legen und Schlitze klopfen und war schon immer wahnsinnig praktisch veranlagt. Mein Vater machte fast alles in Eigenleistung. Er kam jeden Abend um fünf Uhr nach Hause. Wir aßen zu Abend, dann zog er seine Arbeitsklamotten an und verschwand mit meinem Bruder auf die Baustelle. Uns ging es finanziell nicht schlecht. Aber dennoch musste während dieser Bauphase das Geld zusammengehalten werden. Auch Zeit für Urlaube gab es keine, da mein Vater jedes Wochenende und seinen kompletten Urlaub für den Hausbau nutzte.
Die ersten Wochen drückte ich mich erfolgreich vor dieser mühsamen Arbeit. Bis mich eines Abends mein Vater zu sich rief und mir mitteilte, dass auch ich mit zwölf Jahren alt genug sei, um eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Ab sofort wurde ich also zum Steine schleppen und Mörtel anrühren verdonnert.
Wer Thomas Anders kennt, der weiß, dass diese Arbeit und ich in keiner Form zusammenpassen. Heute nicht und damals auch nicht. Schließlich macht man sich auf einer Baustelle schmutzig, man schwitzt und ruiniert sich die Hände. Der ganze Staub und Kalk machten mich schier irre. Mein persönliches Grauen war, wenn mein Vater freitagabends zu mir sagte: „Morgen früh um sechs Uhr kommst du mit auf den Bau, nicht immer nur dein Bruder.“ Achim und ich haben einfach total verschiedene Gene, obwohl wir dieselben Eltern und dieselbe Erziehung hatten. Es gibt ein Foto von mir, wie ich eine Schubkarre voller Steine schiebe und dabei ein helles Jackett und eine Lederkrawatte trage. Kaum hatte ich zwanzig Steine weggebracht, rannte ich zum Waschbecken, wusch mir die Hände und cremte sie ein. Mein Vater wurde fast verrückt, wenn er das mitbekam. Zum Glück sah dann auch er schnell ein, dass ich als Bauarbeiter zwei linke Hände hatte.
„Ich kann das nicht mehr ertragen. Mach bloß, dass du hier wegkommst“, schrie er eines Abends. Nichts lieber als das. Fortan wurde ich nur noch für niedere Dienste wie Rasenmähen, Straße kehren oder Müll wegbringen eingeteilt. Ich war auch ein ganz passabler Babysitter für Tanja, was meine Mutter gern und oft ausnutzte. Ich hatte Spaß daran, mit der Kleinen zu spielen. Sie war zwar ein Mädchen, doch auf sie aufzupassen, war für mich bei weitem nicht so nervig wie auf der Baustelle zu helfen. Wir wurden von unseren Eltern dazu erzogen, dass man Pflichten zu erfüllen hat und anderen helfen muss, so gut man kann. Außerdem ließ mir dieser Job noch genügend freie Zeit für meine Musik.
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Während ich zuhause vorm Spiegel stand und übte, wie es ist, ein Sänger zu sein, stellte ich mir immer vor, ich performte auf einer großen Konzertbühne oder vor einem großen Fernsehpublikum und würde mit meiner Musik Tausende von Menschen zu Tränen rühren. Diese Vorstellung fand ich immer wieder aufs Neue klasse. Oft konnte ich es gar nicht erwarten, vom Spielen oder später aus der Schule wieder nach Hause zu kommen, um endlich Musik machen zu können. Das wussten auch meine Kumpels. Es kam oft vor, dass sie bei uns zuhause klingelten, um sich mit mir zu verabreden, und ich sie wieder wegschickte, weil ich lieber Musik machen wollte.
In einem Dorf, in dem gerade mal 130 Menschen leben, davon höchstens vier, fünf Kinder im selben Alter, ist jeder potenzielle Spielkamerad, der keine Lust hat auf Fußball oder Räuber und Gendarm, natürlich ein Totalausfall für die anderen. Ich wundere mich heute noch, wie ich es geschafft habe, kein verschrobener Einzelgänger zu werden. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass meine Stimme durch dieses damals ja noch spielerische Training für meine spätere Karriere gefestigt und ausgebildet wurde. Das ist eine meiner Erklärungen dafür, weshalb ich so gut singen kann.
Selbstbewusst, ich gebe es zu, war ich schon als Kind. Ich wusste immer, wer ich bin und was ich wollte, und das habe ich auch deutlich gesagt. Ich hatte auch nie Angst vor fremden Menschen. Je mehr in einem Raum waren und mir beim Singen zuhörten, desto mehr Spaß hatte ich. Unseren Nachbarn muss ich heute noch danken. Sie bekamen meine Gesangsübungen ja quasi live mit. Vor allem im Sommer, wenn in allen Häusern die Fenster offen standen, war ich beinahe im ganzen Dorf zu hören. Und zwar täglich.
Als unser örtlicher Schützenverein 2003 sein 100jähriges Gründungsjubiläum feierte, gab ich in Mörz ein großes Konzert und bedankte mich bei allen Einwohnern dafür, dass sie meine Gesangsübungen jahrelang so tapfer ertragen hatten. Ein Mann rief: „Zum Glück hat es sich ja gelohnt.“ Natürlich fingen sofort alle an laut zu lachen.
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Ich war wohl ein extrem liebes und pflegeleichtes Kind. Zumindest erzählt das meine Mutter immer. Ich hätte meinen Eltern nie großartig Schwierigkeiten gemacht, sagt Mama. Ich weiß nicht, ob das an meinen Genen liegt. Ich war von klein auf sehr gewissenhaft und diszipliniert. Für ein Kind vielleicht schon fast zu vernünftig und brav. Wenn mir jemand sagte, was ich machen solle, tat ich das anstandslos. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinen Eltern etwas zu verheimlichen. Lügen war mir viel zu anstrengend. Ich machte meiner Mutter auch nie Vorwürfe, dass sie wegen des Ladens keine Zeit hatte, mit uns in den Urlaub zu fahren oder ins Schwimmbad zu gehen. Ich vermisste das alles nicht, da ich meine persönliche Erfüllung in meiner Musik gefunden hatte. Was jedoch dazu führte, dass ich mich sportlich nicht besonders engagierte.
Mit zehn Jahren konnte ich immer noch nicht richtig schwimmen. Mein Bruder war da ein ganz anderer Typ. Er war DLRG-Schwimmer. Eines Tages meinte ein Kumpel zu mir: „Du, ich habe gestern meinen Freischwimmer gemacht. Lass uns ins Schwimmbad gehen, dann mache ich dir das mal vor.“ Ich ließ mich breitschlagen und ging mit. Als wir im Wasser waren, packte er mich und schwamm mit mir los. An der tiefsten Stelle ließ er mich plötzlich los. Da ich nicht schwimmen konnte, ging ich unter wie ein nasser Sack. Ich schluckte literweise Wasser, bekam keine Luft mehr und strampelte um mein Leben. Der Bademeister sah, was los war, sprang ins Wasser und zog mich an den Beckenrand. Ich war völlig panisch und ließ mich nur schwer beruhigen.
Seitdem hatte ich das absolute Trauma im Hinblick auf Schwimmbäder und weigerte mich jahrelang, überhaupt auch nur den großen Zeh ins Wasser zu stecken. Das galt auch fürs Schulschwimmen. Jede Woche hatte ich Streit mit meinem Lehrer, weil er einfach nicht verstehen wollte, dass ich im Wasser Angst hatte.
Als ich 20 war, nahm ich mir einen Schwimmlehrer. Ich hatte keine Lust mehr darauf, stets als Spielverderber zu gelten, wenn ich mit Freunden im Urlaub war oder beruflich in einem schönen Hotel mit Pool wohnte. Also engagierte ich einen privaten Schwimmtrainer. Doch jeder Versuch des armen Kerls, mir das Schwimmen beizubringen, endete in einem Fiasko. Kaum nahm ich im Wasser die Schwimmhaltung ein, spielten sich vor meinem geistigen Auge wieder die Szenen im Freibad ab, und sofort hatte das Trauma mich erneut im Griff. Mein Schwimmlehrer und ich gaben entnervt auf. Zwei Jahre später wollten Nora und ich mit unserer Clique in den Urlaub fahren. Natürlich wussten alle, dass ich nicht schwimmen konnte. Einer aus der Clique, ein Schwimmbesessener, meinte zu mir: „Ich bringe dir das Schwimmen bei!“
Diese Vorstellung war für mich gleich das nächste Drama: Ich fahre in den Urlaub, und da ist einer, der mich jeden Tag mit diesem blöden Schwimmen nervt. Nein, darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Ich war so wütend, dass ich beschloss, mir selbst das Schwimmen beizubringen. Noras Schwester hatte in ihrem Haus einen Indoor-Pool. Ich kaufte mir orangefarbene Schwimmflügelchen und trainierte jeden Tag allein. Etwa zwei Wochen lang stand ich täglich im Wasser und machte Schwimmbewegungen. Erst im Stehen, irgendwann richtig. Tag für Tag ließ ich ein bisschen mehr Luft aus den Schwimmärmelchen. Bis ich mir irgendwann selbst sagte: „Alter, bist du eigentlich bescheuert? Du hast da zwei Plastiklappen an den Armen, die dich eigentlich stören. Jetzt zieh endlich diesen Scheiß aus und schwimm.“ Von dem Moment an konnte ich schwimmen.
Ich bin zwar bis heute kein Michael Phelps, aber im Pool unseres Hauses auf Ibiza schwimme ich jeden Morgen meine 25 Bahnen. Bei einer Maximaltiefe von 1,60 Metern fühle ich mich sicher. Nur mein Kopf darf nicht unter Wasser, da bekomme ich sofort Panik. Auch ins Meer oder in einen See traue ich mich nicht. Mir macht die Strömung zu schaffen, außerdem kann ich nicht sehen, wie tief es da ist und wohin ich trete. Das finde ich eklig. Fazit: Schwimmen wird garantiert nie meine Lieblingsbeschäftigung werden. Dafür ist mein Kindheitstrauma einfach zu groß.
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Mein Talent als Kinderstar hatte sich in Mörz und Umgebung schnell herumgesprochen. Plötzlich bekamen meine Eltern immer mehr Anfragen, ob ich Lust hätte, bei einem Firmenjubiläum oder einem runden Geburtstag zu singen. Ein Weinfest hier und eine Kirmes dort. Ob ich Lust hatte? Und wie, das stand wohl außer Frage! So wurde quasi über Nacht aus mir eine Art Kinderstar. Zwar auf niedrigem Niveau, aber immerhin durfte ich vor Publikum singen. Meine Eltern waren stolz darauf, einen Sohn zu haben, der sich freiwillig auf eine Bühne stellte und losschmetterte. Allerdings haben sie mich nie zu etwas gezwungen. Im Gegenteil. Meine Mutter sagte immer: „Wenn du das möchtest, darfst du auftreten. Wenn du keine Lust hast, lässt du es bleiben.“
Und mittlerweile gab es dafür auch keine Süßigkeiten mehr, sondern 50 oder 60 Mark, also so um die 25, 30 Euro.
Mit meinen acht bis zehn Auftritten pro Jahr peppte ich mir mein Taschengeld auf. Ich war damals wohl das glücklichste arbeitende Kind in ganz Deutschland! Noch ahnte ich nicht, dass mein nächster Karrieresprung bereits vor der Tür stand.
Anfang der Siebzigerjahre baute unser Schützenverein eine neue Halle. Da mein Vater ja Vereinsvorsitzender war, kam ein Journalist von der Lokalzeitung zu uns nach Hause. Er hieß Hans Stein und wollte mit meinem Vater ein Interview führen. Während dieses Gesprächs kam die Rede auch auf mich. Herr Stein hatte gehört, dass ich singen könne, und erzählte meinen Eltern, dass seine Frau einen Kinderchor leite. Mein Vater wurde sofort hellhörig und sagte zu ihm: „Hören Sie sich unseren Bernd doch einfach mal an. Vielleicht kann Ihre Frau ja noch Verstärkung im Chor gebrauchen.“ Mein Vater wollte nie einen Star aus mir machen. Er hat mein Singen auch nie zu stark glorifiziert. Vielmehr hoffte er, dass ich im Kinderchor Gleichgesinnte treffen würde, mit denen ich auch mal was anderes außer Musik machen könnte.
Ich wurde also ins Wohnzimmer zu den Erwachsenen gerufen und sollte ihnen etwas vorsingen. Herr Stein saß im Sessel und lauschte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sein Gesichtsausdruck immer ernster wurde. Als ich fertig war, starrte er mich einfach nur an. Irgendwann fragte meine Mutter in die Stille hinein: „Und, hat Ihnen unser Bernd gefallen?“ Herr Stein schüttelte den Kopf: „Der Junge kann unmöglich in den Kinderchor. Das passt nicht.“ Ich sah meinen Eltern an, wie enttäuscht sie waren. Da erklärte Herr Stein: „Ihr Sohn muss alleine singen. Seine Stimme ist zu gut für einen Chor. Auch seine Ausstrahlung und seine Bewegungen sind viel zu professionell. Man kann ihn nicht in eine Gruppe integrieren. Da würde er stets herausstechen.“ Herr Stein war so begeistert von mir, dass er mir versprach, einen professionellen Bühnenauftritt zu vermitteln. Ich war damals acht Jahre alt.