Читать книгу Eisfuchs - Tanya Tagaq - Страница 11
ОглавлениеRITUAL
EIN PAAR MINUTEN außerhalb gibt es einen kleinen Sumpf in der Tundra. Er ist voller Sperrholzbretter, die der gnadenlose arktische Wind von den Baustellen hierher geweht hat. Die Winterwinde und der Permafrost lassen nur wenige Monate lang Bauarbeiten zu. Dann schuften die Bauarbeiter rund um die Uhr unter der Mitternachtssonne. Ein paar Sperrholzlatten hinterherzujagen, die von den heftigen Böen der Hoch arktis weggeweht worden sind, ist nicht Grund genug, um das Werkzeug sinken zu lassen.
Unter diesen Brettern finden unendlich viele Arten Schutz vor dem Wind. In der weiten Baumlosigkeit wird das Sperrholz zur Heimat. Eine dunkle Zuflucht, die Sicherheit vor den vielen Raubtieren bietet. Alle möglichen Lebewesen stöbern wir unter den Spanplatten auf: Käfer, Vogelküken, Lemminge. Die Lemminge mag ich am liebsten. Wenn ich das Dach von ihrem Unterschlupf reiße, erschrecken sie sehr und rennen blind los, um vor dem Monster zu fliehen, das ihre Welt kaputt gemacht hat.
Wenn ich einen gejagt und gefangen habe, halte ich ihn in meinen gewölbten Händen und singe ihm was vor, bis sein Herz wieder normal schlägt. Dann stecke ich mir die Lemminge in die Taschen. Bloß nicht mehr als einen pro Tasche, sonst fangen sie an, sich zu bekämpfen. Nur wenige Lebewesen bleiben friedlich, wenn der Platz knapp wird. Ich habe sechs Taschen in meiner Windjacke. Sechs Lemminge am Tag, Doktor gespart.
Auf dem Heimweg pfeife ich und platze fast vor Vorfreude auf mein tägliches Ritual; heute habe ich nur fünf Lemminge. An der Rückseite unseres Hauses gibt es einen kleinen Windfang. Niemand geht zur Hintertür hinaus, darum ist der Windfang mein Reich. Hier kann ich Sachen verstecken und so tun, als ob der Rest der Welt ebenfalls mir gehört. Ich hole ein paar Karotten und Selleriestangen aus dem Kühlschrank, dann setze ich die Lemminge in dem leeren Windfang auf den Boden. Die Karotten gehören in die Ecke. Erst haben die Tierchen Angst, aber so einem Buffet können sie nicht widerstehen. Ich lasse sie mümmeln, bis sie ruhig werden, und gehe rein.
Im Wohnzimmer steht ein Aquarium. Mit Molchen, Schnecken und Fischen. Die Schnecken vermehren sich zu schnell, deswegen beginnt mein Ritual damit, dass ich mindestens zehn von ihnen am Glas zerquetsche, mit Häuschen und allem. Ich finde es befriedigend, wenn ich die Häuser zerbrechen höre – wie wenn man beim Staubsaugen richtig viel Dreck aufsaugt, der in einer blechernen Symphonie das Rohr hinaufklimpert.
Der zweite Teil meines Rituals besteht darin, einen der Molche am Schwanz zu packen und in den Mund zu nehmen. Erst sitzt er auf meiner Zunge, die winzigen Saugnäpfe seiner Zehen heften sich an meine Geschmacksknospen. Ich schließe den Mund. Der Molch kriecht kurz verwirrt herum, dann macht er es sich in der dunklen Wärme bequem. Er windet sich unter meine Zunge und schläft normalerweise dort ein. Ich erledige ein bisschen was im Haushalt, während er sich ausruht, öffne ab und zu den Mund, damit er frische Luft bekommt. Ich gehe ins Bad und stelle mich vor den Spiegel. Der Molch schläft fast immer, seine niedlichen kleinen Augen sind geschlossen und entspannt, meine Zunge ist seine Bettdecke. Ich finde ihn süß. Ich setze ihn zurück ins Aquarium und gehe nach meinen felligen Freunden schauen.
Die Lemminge sind satt und zufrieden. Ich lege mich in den kleinen Windfang. Wenn ich die Knie anziehe, passe ich der Länge nach in das Karree. Ich breite meine langen Haare auf dem Boden aus und warte. Liege ganz still da. Die Lemminge beruhigen sich und fangen dann an, herumzuwuseln. Sie finden mein Haar. Es weckt ihren Wühlinstinkt. Sie gelangen bis zu meiner Kopfhaut, wo sie Unterschlupf suchen. Winzige Pfötchen, die blitzschnell meinen Kopf massieren. Nie verlassen sie den Schutz meiner Haare. Sie machen etwa zehn Minuten lang so weiter, bis sie genug vom vermeintlichen Graben haben. Für mich sind es die schönsten zehn Minuten des Tages. Es ist die beste Massage, die ich je im Leben bekommen habe. Wenn die Lemminge müde geworden sind, stecke ich sie zurück in die Taschen und bringe sie dorthin zurück, wo ich sie gefunden habe. Ich muss sie wegbringen, bevor meine Eltern nach Hause kommen. Die Lemminge sind satt von den Karotten und glücklich. Morgen komme ich wieder. Einmal hat meine Mutter ein Bröckchen Lemmingkacke in meinen Haaren gefunden. Sie musste unglaublich lachen und fragte, wie es dorthin geraten sei. Ich erzählte ihr, ich hätte mich in der Tundra auf die Erde gelegt. Mein kleines Ritual habe ich immer für mich behalten, bis jetzt.
»Ich mache sie nur ein bisschen nass«, sagt er
Was meint er damit?
Da unten ist es nicht nass
Ich hatte ja noch nicht einmal Haare, da unten
Ich liege stocksteif
Sage Nein
Er versucht es immer wieder
Sein hartes Ding reinzuschieben
In ein Loch, wo kein Loch ist
Es ist trocken
Die ächzende Verzweiflung in seinem Atem
Die saure Angst in meinem
Endlich kommt jemand an die Tür
Und er springt von mir herunter
Als sei nie etwas geschehen